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Armee

Bange Tage des Terrors. Bange Tage des Krieges.

Wir sind privilegiert, müssen bisher nur drei, vier Mal in den Schutzraum. Doch der Terror im Süden, die Nachrichten vom Überfall der Hamas vor einer Woche, sitzen uns tief in den Knochen und die Angst vor einer weiteren Eskalation liegt schwer im Bauch. 

Wir halten die Bubble aufrecht für die Kids. 

Wir arbeiten so gut es geht.

Letzten Samstag, Sirenen um halb sieben Morgens, wir erwachen und stehen im Schlafzimmer der Kids, an den Betten der beiden schlafenden Buben – sollen wir sie wecken? Ist es ein Fehlalarm?

Wir ignorieren die Sirenen, doch dann kommen die ersten Posts in den Sozialen Medien aus der Gaza-Nachbarschaft, während die Redaktoren der kuratierten Medien noch ihre Laptops hochfahren. Die verwackelten Videos auf Twitter aus Sderot, die Meldungen von dutzenden und hunderten marodierenden Hamas-Kämpfer in den Kibutzim, Dörfern und Städten rund um Gaza, wecken das Gefühl wie im September 2001, als die Türme des WTC kollabierten: Feinde unserer Welt haben es geschafft, mit ihren grausamen, ja teuflischen Ideen in unsere Realität und in unsere Leben einzubrechen.

Sympathien für den Freiheitskampf und den Protest gegen die Unterdrückung der Palästinenser können in diesem Kontext nicht Thema sein. Hamas hat sich für den geduldigsten Wohltäter aus dem Spiel genommen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, eintausend Menschen gezielt abzuschlachten und dutzende Geiseln zu nehmen, Kinder und Senioren eingeschlossen, einzig um Horror zu säen.

Die beängstigende Frage heute, ziemlich genau eine Woche später: War das nur der Auftakt eines mächtigeren Plans? Die Führer der Hamas wissen, wenn sie Dutzende Israelis nach Gaza verschleppen und hunderte töten, wird die Regierung Israels (und insbesondere die jetzige rechte Siedler-Regierung) Rache nehmen. In diesem Szenario ist die Hamas krass unterlegen, die Führungsriege wird per Luftschlag oder von Kommandos ermordet werden, mit hunderten anderen Unschuldigen.

Was kann also das Ziel dieses Erstschlags sein? Dass Israel abgelenkt wird, und verletzlich wird an anderen Fronten?

Oder aber, Hamas funktioniert nicht nach unserer Ratio. Der Terrorakt ist ein Terrorakt als End-Ziel. Der Märtyrertod ein Teilziel. Die Annahme, dass ein grösserer Plan dahinter steckt, entspricht unserer Logik. Auf den Angriffsbefehl wartende Truppen im Libanon und in Syrien, oder noch unvorstellbare andere zweite Akte – das entspricht unserer Logik. Der Hamas genügen möglicherweise tatsächlich tausende Tote. Jeder Tote ein Erfolg. Egal ob toter Feind, oder toter Märtyrer.

Nicht wenige Isarelis haben die letzten Tage fieberhaft nach Flugtickets gesucht, um hier wegzukommen. Ungeplanter Herbsturlaub wo auch immer, ein Flugticket einfach nach Georgien, Mailand – Hauptsache weg.

Das habe ich so hier noch nicht erlebt in den letzten 12 Jahren. Und es zeugt vielleicht am meisten von der tiefen Erschütterung und Enttäuschung der Leute hier über die fehlende Souveränität der Armee und Sicherheitsdienste. Der Glaube an die Überlegenheit des israelischen Nachrichten- und Sicherheitsapparats war grenzenlos. Die daraus folgende Überheblichkeit war wohl mit ein Hauptgrund für das Versagen der Landesverteidigung. Selbstüberschätzung und Inkompetenz trifft man hier an jeder Ecke, nur die Landesverteidigung schien bisher eine Ausnahme von der Regel.

Wir haben ein Blick in die Hölle geworfen. Wie das Land hier aus diesem Albtraum erwachen wird – das wird auch entscheiden, ob wir hier bleiben wollen und können. Zuerst warten wir jetzt jede neue Meldung ab, hoffen auf De-eskalation, oder zumindest militärische Überlegenheit, so dass dann in einigen Wochen und Monaten nach der Aufarbeitung dieser Katastrophe ein neues Kapitel aufgeschlagen werden kann … oder dass wir die Hölle wieder Hölle sein lassen, und in unserer Welt und unserer Bubble weiterexistieren.

Zwei israelische Filme waren im Oscar-Rennen um den besten Dok-Film: The Gatekeepers und Five Broken Cameras. Israel hat aufgeatmet, als keiner der Filme gewonnen hat. Das Thema beider Filme: das besetzte Westjordanland. Hier mit Fokus auf die Sicherheitskräfte und Sicherheitspolitik Israels,  dort mit Fokus auf die traurige Realität der Palästinenser.

Wir waren mit Freunden im Kino in The Gatekeepers. Was mich erst überraschte: Die Wirkung des Films auf Israelis ist viel stärker, als man sich das als Europäer vorstellen kann. Die Reflexionen der alten abgebrühten Geheimdienst-Recken fahren den Israelis ein.

Meine Interpretation: So sehr man als Israeli die Politik des eigenen Landes kritisieren mag; das eigene Land, die Heimat, würde ohne den Sicherheitsapparat nicht existieren. Also ist man der Armee und den Sicherheitsbehörden hauptsächlich dankbar. Die Agenten und Soldaten erledigen das Unvermeidliche. Nicht mehr und nicht weniger. Israel muss sich verteidigen. Israel verteidigt sich erfolgreich. Die Wertschätzung und der Stolz auf diese Leistung hat jeder Israeli im Blut. Auch weil jeder Israeli seinen Dienst leistet und somit ein Teil dieses Systems ist. Weil schon Vater und Mutter im Krieg waren für Israel.

Der Film zeigt eine andere schmerzhafte Realität. Die sechs alten Männer, die die letzten 30 Jahre den Inlandgeheimdienst geleitet haben, geben zu Protokoll, dass die (Sicherheits-)Politik Israels versagt hat. Die blitzgescheiten starken Heldenfiguren brechen aus ihrer Rolle aus. Sie leiden unter ihrer Vergangenheit. Sie zeigen auf, wie hässlich der Kampf gegen den Terror ist. Wie skrupellos Israel agiert (agieren muss?). Und sie geben der Politik die Schuld daran. Sie klagen die Politiker an, die noch immer keine nachhatlige Lösung für die besetzten Gebiete anstreben. Sie klagen an, dass die Politik nie eine echte Strategie verfolgte. Dass nur immer taktisch argumentiert wurde. Und dass nur ein ehrlicher Dialog mit den Palästinensern eine bessere Zukunft bringen kann…

Das sagen keine besserwisserischen Europäer oder linke Träumer, sondern Männer, die mittendrin standen, die den roten Knopf drückten, die Tötungen und Folter verantworten. Die in ihrem Duktus über Tötungen und Folter sprechen – und damit das wahre Gesicht und die dreckige Arbeit der Sicherheitskräfte, der Helden, offenbaren.

Netanyahu sagte: Er schaut sich diesen Film nicht an.

Der Film erschüttert die Gewissheit, dass Israel richtig handelt und dass Israel auf dem richtigen Weg ist. Unbedingt sehenswert. Aber nicht angenehm anzusehen. Vor allem für Israelis.

Eine der bleibendsten Impressionen von meiner Israel-Reise vor 15 Jahren: Zwei sexy junge Frauen am Pool mit ihren Dienstwaffen neben sich, das volle Magazin im Bündchen des Bikini-Höschens. Die jungen israelischen Frauen in Uniform sind ein Klischee-Bild von Israel. Sie sind natürlich beliebt auf Youtube. «Sexy women of israeli military» wurde 450’000 Mal angeschaut, die Diashow «Israel Female Soldiers» 1.5 Millionen Mal.

Davita aus Holland war für ein paar Wochen in unserer Klasse in der Ulpan. Gestern postete die 22-jährige auf Facebook «goodbye world». Sie hat heute ihren «draft day». Ihren Aushebungstag für die israelische Armee. Davitas «goodbye world» ist garantiert nicht düster gemeint. Es ist ihr Gruss an uns: «Endlich geht’s los, tschüss alte Welt». Heute bei der Rekrutierung erfährt sie, ob sie in den kleinen weiblichen Kampftrupp der israelischen Armee aufgenommen wird. Alle israelischen Frauen leisten zwei Jahre Militärdienst. Aber nur eine Handvoll freiwilliger Mädchen wird für den Kampf-Einsatz ausgebildet. Das ist Davita’s Traum. Für diesen Traum ist sie aus Amsterdam nach Israel gekommen. «Ich will nicht auf Menschen schiessen, ich suche einfach die Herausforderung,» sagte sie.

Im Frühjahr hatten wir Ben in der Klasse, einen jungen US-Amerikaner, der nach seinem Dienst bei den US-Marines hergekommen ist, um für Israel in die Hosen zu steigen. Er ist der Infanterist aus dem Bilderbuch: etwas untersetzt, oder einfach nur kräftig gebaut, spielt American Football als Hobby. Schon Ben’s Ambitionen haben mich eigenartig berührt. Erst war ich fasziniert, nicht ohne Bewunderung für den radikalen Lebensentscheid. Krass, dachte ich. Und ich wollte mehr wissen.

Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, wie man sich freiwillig zum Armeedienst melden kann. Könnte ich ihren Entscheid besser verstehen, wäre ich jüdisch? «Steht auf und kämpft für Israel!», nachdem die Juden im Dritten Reich sich widerstandslos haben ‘vernichten’ lassen (wie man bis heute ‘vorwurfsvoll’ hört hier)? Ben und Davita sind hier für’s Abenteuer, für die Kameradschaft in der Armee, für den Challenge – und um etwas für Israel zu tun. Der israelische Staat tut viel dafür, jüdische Jugendliche aus der ganzen Welt nach Israel zu bringen, sie für den Staat und die Armee zu begeistern. Und egal, wie viele Stunden ich in der Ulpan-Schule sitze, Hebräisch und israelische Kultur pauke: Ich werde nie ein Israeli sein. Ich war nicht in der Armee.

Gerade ist das Buch von Shani Boianjiu erschienen, einer jungen israelischen Autorin. Sie erzählt die Geschichte von drei israelischen Freundinnen vor, während und nach ihrer Dienstzeit in der Armee. Darin geht es natürlich um die grosse Frage «was mach’ ich hier eigentlich?» Und natürlich geht es auch um gefühlsarmen Teenager-Sex in Uniform (der New Yorker hatte im Sommer einen Auszug aus dem Buch abgedruckt). Ich habe das Buch bei Chaim, dem Buchhändler an der Baselstrasse, bestellt. Nur den Titel verstehe ich nicht: «The People Of Forever Are Not Afraid». Mein Vorschlag ginge eher in die Richtung: «Girls In Uniform». (Druckt schonmal die nächste Auflage.) Hier ist ein Interview mit Boianjiu im New Yorker.

«… goodbye world …»

Die Kadenz steigt. Heute feuerten sie zwei Mal Raketen auf Tel Aviv. Der Tag ist noch nicht um. Es wird immer unheimlicher. Einige unserer Freunde wurden eingezogen für die Bodenoffensive. Der Arzt mit den wasserblauen Augen ist als Jet-Pilot bei der Luftwaffe schon länger im Einsatz. Die Israelis auf der Strasse geben sich entschlossen, ergeben. Beeindruckt, aber nicht erschüttert.

Nachdem ich um fünf einen Kunden im Arcaffe treffe, lasse ich mir im Deli Hühnerbeine geben und hole Broccoli fürs Abendessen beim Araber. Bei uns um die Ecke treffen sich wie immer Familien mit Kinderwagen, der Nachwuchs kurvt mit Dreirädern über den grossen Basel-Platz. Gleich werden die Sirenen wieder losheulen.

Die Anspannung lässt jetzt nicht mehr nach. Mir fällt es schwer, das normale Leben im Kriegszustand zu akzeptieren. In der Ulpan sagt Tzipi die Lehrerin heute Morgen, sie würde uns lieber die Zukunftsform der Pi’el-Verben erklären, aber da wir nachfragen, gibt sie uns etwas Kriegs-Vokabular mit: Sirene (Aszaka), Rakete (Til) oder Treppenhaus (Madregot). Dorthin soll man sich begeben, wenn kein Schutzraum (Miklat) in unmittelbarer Nähe ist. Der Rektor (Menahel) kommt in die Klasse, instruiert uns und lobt uns, dass wir trotz der Bedrohungslage zur Schule kommen. In der Zehn-Uhr-Pause heulen die Sirenen los. Das Treppenhaus ist voll mit Schülern und Lehrern. Seufzen, Augen rollen, viele haben ihr Handy am Ohr während der 60 Sekunden bis zur Detonation (Pizuz).

Wie ich mit dem Abendessen in den Einkaufstüten die Baselstrasse runter in Richtung unserem Haus gehe, heulen wieder die Sirenen los. Mittlerweile bleibt keiner mehr stehen, alle wissen was zu tun ist, eilen zum nächsten Hauseingang. Die Sirenen verstummen, ich bin am Handy mit meiner Frau verbunden, das Mädchen neben mir im Treppenhaus spricht beunruhigt in ihr Telefon. Wir warten. Dann ist ein bedrohlich dumpfer Rumms zu hören. Wo hat die Rakete eingeschlagen? Die Ambulanzen des Rettungszentrums am Baselplatz bleiben still…

Zuhause schalte ich den Fernseher ein. Der Nachrichtenkanal zeigt Bilder von zwei Abfangraketen, die eine orange-weisse Kurve in den schwarzen Abendhimmel zeichnen und dann in einem grossen Feuerball aufgehen. Die Rakete aus Gaza: Abgefangen. Der Verkäufer im Kiosk sagt bei unserem täglichen Schwatz: Nach zehn Raketen hast du’s gesehen.

Der Kosename der Stadt ist The Bubble. Weil die Leute hier im Alltag seit Jahren die politische und militärische Situation Israels ignorieren und ungerührt und unberührt das Leben geniessen. Dieser Tage hat die Bubble auch noch eine Eisenkuppel als Verstärkung: Den Iron Dome der Hightech-Abfangraketen. Wir hoffen, dass die Tel Aviver Bubble hält.

Abfangrakete beschützt die «Bubble»

Den zweiten Bombenalarm erlebe ich heute Nachmittag am Meer. Meine Frau geht um acht Uhr früh zur 24-Stunden-Schicht. Schweren Herzens. Man rechnet hier mit mehr Geschossen aus Gaza. In der Situation will man nicht alleine sein. Ich frühstücke mit einer Freundin. Sie ist Ungarin, Grafikerin, auch ein Liebes-Import. Wie immer, wenn wir zusammensitzen, besprechen wir Israel, tauschen Gedanken zu unserer neuen Heimat aus. Sie beschwert sich, dass die Leute hier kein Bewusstsein für’s Visuelle haben. Sie nimmt alles hier etwas persönlicher als ich. Natürlich geht’s auch um den Bomben-Alarm von gestern. Wir sind beide ähnlich ratlos, versuchen zu begreifen, was dieser Krieg mit uns zu tun hat.

Am Hafen feiern sie mit einem kleinen Event den Start zur israelischen Langstrecken-Segler-Meisterschaft. Ich setze mich nach dem Frühstück zu den Zaungästen auf die Hafenmole. Die Jachten starten in drei Gruppen Richtung Norden zu einem 8-10 Stunden langen Rennen nach Netanya und zurück. Es sind perfekte Segelbedingungen, leicht bedeckter Himmel, glatte See, steifer Ostwind. Auf dem Weg zurück an den Strand heulen die Sirenen wieder los. Alle kauern sich hinter die massiven Steine des Wellenbrechers.

Eine, zwei Minuten lang heulen die Sirenen, ich filme mit dem iPhone, löse meinen Blick nicht von der Skyline Tel Avivs. Ein scharfer Knall vom Meer draussen – Ruhe. –  Einen Moment später geht das Tok-Tok der Matkot-Spieler am Strand wieder los. Andere Passanten auf der Mole haben den Einschlag der Rakete im Wasser gesehen. Ein paar hundert Meter vom Ufer weg, südlich der roten Boje wo die Segler eben noch gewendet hatten.

Eine Viertelstunde später meldet der Armeesprecher wie schon nach dem gestrigen Angriff: «Projectile did not explode on the ground.» Ich setze mich ins Landwer am Hafen und esse Hummus und Falafel. Wie ich da sitze und langsam wieder zu mir komme, erkenne dieses Gefühl der Ohnmacht und der Enttäuschung wieder: So hatte ich mich zuletzt gefühlt am Nachmittag des 11. September 2001.

Sirenengeheul … wo schlägt’s ein …?

Eben hatten wir Raketen-Alarm hier in Tel Aviv. Es war der erste Alarm seit dem Golfkrieg 1992, schreiben sie im Live-Report auf Haaretz. Mehr haben sie nicht zu sagen. Die Sirene heult, meine Frau kann es erst gar nicht glauben – und hat keine Ahnung, was zu tun ist. Ich denke: Was ist die Chance, dass eine Rakete ausgerechnet Basel trifft. Und wenn man die Schäden im Süden des Landes sieht, ist da nach einem Einschlag jeweils ein Loch in der Fassade oder im Dach, aber das Haus steht noch. Das sind ja keine Flächenbombardements. Die Sirene heult, wir schauen nach draussen auf die Strasse, neugierig, wie ernst das zu nehmen ist. Die einen hasten durch die Strasse, auf der Suche nach dem nächsten Schutzraum. Andere bleiben stehen … Meine Frau ruft Freunde an, um zu hören, was die machen. Die Sirene heult vielleicht ein, zwei Minuten. Ich könnte kotzen. Nur ganz weit weg habe ich vielleicht auch Angst um mein Leben. Aber was ist die Wahrscheinlichkeit … Viel mehr bin ich wütend, enttäuscht, traurig, dass das wirklich passiert. Dass Raketen auf Tel Aviv fallen, und Israel den Gazastreifen bombardiert. Die Sirene verstummt, dann hören wir in der Ferne einen Bums. Die im Fernsehen wissen erst auch nicht mehr als wir. Sie zeigen immer wieder Live-Bilder einer Panoramakamera von Tel Aviv, die Hochhäuser vor dunklem Nachthimmel, abertausende Lichter. Dann eine Sicht auf die Stadtautobahn Ayalon mit dem dichten Feierabendverkehr… Die Anonymität der Grossstadt beschützt mich.

Wir sind zu einem äthiopischen Diner eingeladen bei der stellvertretenden Botschafterin zuhause. Sie schreibt eine SMS, eben sei das Essen eingetroffen, es rieche köstlich, sie hoffe, wir kommen trotz dem Schrecken alle.

Jetzt, heute Abend, halbzehn israelische Zeit, steht zuvorderst zuoberst auf Spiegel Online: «Palästinenser fürchten neuen Krieg». Dies, nachdem die israelischen Streitkräfte eine Offensive aus der Luft gestartet haben und weitere Attacken ankündigen. Heute Nachmittag sass ich mit einer Freundin in der French Bakery bei der Besprechung ihrer neuen Webseite, als sie im iPhone die Nachricht las über die Tötung des Hamas-Generals bei einem Luftschlag im Gaza-Streifen. Sie war nicht gerade ausser sich, aber beunruhigt, enttäuscht, auch ängstlich und wütend. Sie sagte etwas wie: «Das ist also unser Land!? Es tötet diesen Mann.» Ich legte die Nachricht ab, wie ich diese Nachrichten in der Schweiz abgelegt hatte.

Jeder hier weiss von jemandem, der jemanden kennt, der in einem Armee-Einsatz verletzt oder getötet wurde. Diese Nachrichten sind hier keine anonymen Nachrichten, es geht um Menschen. Dann, gerade vorhin, borgt sich der Nachbar vom 1. Stock Basilikum aus unserem Garten. Er sagt: «Es ist jedes Mal das gleiche.» Im Januar stehen Wahlen an für die Regierenden. Jetzt, zwei Monate vor den Wahlen, wischen sie mit einem kleinen, gut kontrollierbaren Krieg sämtliche nicht-kontrollierbaren, unangenehmen, aber für die Leute hier essenziellen Polit-Themen vom Tisch. Von wegen sozialer Gerechtigkeit. Der Nachbar hat eine linke Freundin.

Die Palästinenser fürchten einen neuen Krieg. Natürlich! Wer nicht! Gestern Abend sitzen wir mit einem Arbeitskollegen meiner Frau am Tisch. Er erzählt, dass er nächste Woche für den jährlichen Armee-Dienst aufgeboten wurde. Ich wollte ihn noch fragen, was er macht in der Armee. Dann dachte ich: das ist eine Touristenfrage. Heute würde ich ihn fragen. Ich hoffe, er muss nicht nach Gaza. Genau wie die Palästinenser: Die Israelis fürchten einen neuen Krieg.

Schlagzeile auf Spiegel Online am Abend des 14. November

Vor einem Jahr haben mich solche Scharfmacher-Texte in der Jerusalem Post noch berührt und beunruhigt:

“On Iran, the thing to fear might be fear itself – Overconfidence should be avoided, but an army is useless if you’re afraid to use it.”

“Bezüglich Iran: Furcht ist, was wir fürchten müssen – Überzogene Selbstsicherheit sollte vermieden werden. Aber eine Armee ist nutzlos, wenn man sie nicht einsetzt.”

Was will der Kommentator sagen: Wer eine gute (will nicht sagen: die beste) Armee hat, sollte gefälligst auch Krieg führen? Wer nicht in den Krieg zieht, kann den Krieg nicht gewinnen? Dass Israel bitte nicht aus Angst vor Krieg einen Krieg vermeiden sollte? Ihr seid alles Memmen, ich habe den Grössten?

Heute ringt mir das ständige Säbelrasseln ein etwas trauriges Lächeln ab. Zuviel wird hier gelärmt, gedroht, gezetert … man gewöhnt sich daran wie an den Autobahnlärm im Schlafzimmer.

A propos: Verteidigungsminister Ehud Barak hat gestern in einem Interview den Krieg mit dem Iran auf nächsten Sommer verschoben. Nach den Wahlen. Iran habe offenbar beschlossen, mit dem Bau der Atombombe noch ein Weilchen zuzuwarten. Also brauche man jetzt nicht sofort einen Krieg. Aber nächsten Sommer könnte es dann sein …

Meine Freundin und viele andere hier im jungen Tel Aviv trauern den Zeiten nach, als ‘echter Friede’ war mit den Ägyptern, und man den 5-Euro-am-Tag-All-Inclusive-Starndurlaub in Strohhütten bei den Beduinen am Roten Meer verbrachte. Kiffend, schnorchelnd, essend, rauchend, lesend, teetrinkend, tauchend, schlafend – bei 40 Grad plus.

Nach Ausbruch der zweiten Intifada 2000 knickte der Tourismus aus Israel ein und erholte sich in den Jahren danach nur langsam. Nach den ‘Sinai Bombings’ 2004 traute sich keiner mehr über die Grenze. Drei bei Israelis beliebte Urlaubsorte wurden gleichzeitig von Terroristen angegriffen. Über ein Dutzend Israelis wurden getötet, 32 Menschen insgesamt kamen ums Leben.

Seit DEM Frühling 2011 in Kairo wirft die israelische Regierung Kairo ausserdem vor, nicht genügend Kontrolle über die Banditen und Terroristen in der Wüste auszuüben. An der Grenze kam es in den letzten zwölf Monaten zu einer Handvoll Scharmützeln zwischen der israelischen Armee und Terroristen aus dem Gazastreifen, Palästinensern, Beduinen, Schmugglern, Polizisten, Grenzern – wem auch immer da drüben. Ein 250 km langer israelischer Grenz-Zaun soll bis Ende 2012 fertiggestellt werden.

Manche Israelis wissen gar nicht, dass es überhaupt möglich ist, hinzufahren. Die Angst vor “den Terroristen da draussen” wirkt wie eine dunkle unüberwindbare Wand entlang der Grenzen Israels.

Hier ein Artikel zum Thema von einer, die sagt: So gefährlich ist das gar nicht! Freunde von uns waren auch da – wir trauen uns nicht. Bis jetzt.

Love affair with Sinai unabated (By LINDA EPSTEIN 07/21/2012)
Does the idyllic setting of Sinai compensate for its “danger” factor?

Nachtrag vom 6. August: Gestern wurde ein ägyptischer Sicherheitsposten im Grenz-Dreieck Gaza/Israel/Ägypten attackiert. Die militanten Kämpfer töteten 10-15 ägyptische Beamte/Soldaten und erbeuteten gepanzerte Fahrzeuge, mit denen sie dann ein israelisches Grenz-Camp angriffen. Die Israelis schlugen den Angriff zurück und töteten einige der Kämpfer. Wo ist Mad Max?

In Tel Avivs Strassen sieht man wenig Uniformen. Besuch aus der Schweiz ist gerne überrascht, wie “friedlich” es hier aussieht. Doch jeder (jüdische) Israeli war drei Jahre seines Lebens im Wehrdienst, Frauen zwei Jahre. Die Armee ist Teil jedes Isrealis. Der ewige  Kampf um die Heimat ist verinnerlicht. Es patrouillieren keine Panzer in Tel Aviv aber die Armee hat eine unendlich wichtige Rolle hier in Israel.

Nach dem Attentat diese Woche auf israelische Touristen in Burgas, Bulgarien, wurden die sieben Toten gestern in einem Jet der Luftwaffe nach Hause überführt. Eine Zeitung meldete: “Am Flughafen Ben Gurion wurde eine militärische Zeremonie abgehalten” zu Ehren der Opfer. Eine militärische Zeremonie für Touristen, die in Bulgarien von Terroristen in den Tod gerissen wurden? Als Angehöriger hätte ich auf diese traurige “militärische Ehre” verzichten wollen. Das waren Zivilisten! Sie waren nicht im Krieg! – Oder waren sie es doch?

“Der Iran war es”, hiess es in Netanyahus Stellungnahme unmittelbar nach dem Anschlag. Das mag richtig sein. Doch die polizeilichen und geheimdienstlichen Untersuchungen waren zu dem Zeitpunkt eben erst angelaufen. Netanyahus Schuldzuweisung zementiert natürlich in erster Linie das Feindbild Iran weiter. Darüber hinaus lässt die Rhetorik der Regierung aber auch keinen Zweifel daran: die getöteten israelischen Touristen sind Kriegs-Opfer.

Bin ich nur überempfindlich, weil mich die Logik dieses un-greifbaren Kriegs ohnehin verrückt macht? Israel liquidiert seine Feinde im Ausland –  Atomwissenschaftler im Iran, Hezbollah-Führer in Dubai – und versteht dann seine getöteten Touristen als mlitärische Opfer.

Was macht diese Logik aus mir, der ich hier in Israel lebe?