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Business as usual

Dienstag. Heute früh hatte es kaum Verkehr unterwegs zur Schule. G und ich fragen uns: Ist’s wegen dem angesagten Regen heute? Ist’s wegen dem Krieg (bleiben Leute zuhause, weil gestern ein Raketenteil in Tel Aviv runtergekommen ist)? Oder ist’s wegen der Feiertage (morgen beginnt Hanukah)? Oder waren wir einfach etwas früher dran, und alle anderen sind etwas später aufgestanden als üblich..?

Alltag.

In unserer Ecke in Israel blieb es auch nach Ende der Feuerpause ruhig. Wir sind eine gute Woche zurück aus der Schweiz, und wir hatten bisher keinen einzigen Raketenalarm.
Die Schule findet auch wieder beinahe im Normalbetrieb statt.
Im Büro geht’s sowieso nicht um Krise, sondern um unsere Präsenz am COP28 Umweltgipfel in Dubai, und um die Planung für 2024. Dubai übrigens ist wieder im normalen Flugplan, anders als Zürich: da fliegt nur El Al hin, weil die grossen Gesellschaften aus dem Westen, auch Lufthansa und mit ihr die Swiss, Tel Aviv weiterhin nicht bedienen.

Freitag. Während Gaza jetzt fein säuberlich plattgemacht wird, können wir wieder in Ruhe unserem Leben nachgehen.

Die Nachrichten von der Front beschränken sich vorwiegend auf Zahlen (und Namen) von Toten hüben wie drüben. Wie man das verdaut und wie nahe das einem geht, ist von vielem abhängig. Heute hörten wir den ganzen Morgen Helikopter kommen und gehen. Es stellte sich heraus, dass die ganze Nomenklatura zu einer Beerdigung hier in unserer Nachbarschaft eingeflogen wurde. Der Sohn eines der israelischen Generäle war am Vortag in Gaza gefallen. Das weckt wieder das Gefühl dafür, wie klein das Land ist, und wie unmittelbar wir von Krieg (und Kriegspolitik) betroffen sind, auch wenn sich der Bombenhagel weiter südlich gut ausblenden lässt.

Alltag?

Mittwoch. Hin und wieder bricht der Krieg ein in unsere Bubble.

Wenn unser Grosser heute Abend nach der Schule eine “Stadt im Untergrund” zeichnet, mit Strichmännchen die hochsteigen aus der Tiefe der Erde mit ihrer Gun, und anderen Strichmännchen oben in den Häusern auf der Wiese in den Hintern schiessen, oder die unten in ihren Untergrund-Häusern furzen, und denen oben stinkt’s – hat das nun mit Hamas-Tunneln zu tun und einem frühen Kriegs-Trauma? Oder wie viel davon ist der Zwergenwelt der Schule und seiner Fantasie geschuldet? Was hat er gehört? Was weiss er, und was bildet er sich ein?

Oder der Krieg bricht ein, wenn gestern in unserer Schule zur Feier von Hanukkah alle Familien der Klasse zusammenkommen, und ich frage den einen Vater, ob sie auch im Ausland waren – und er antwortet, er ist seit 2 Monaten alleinerziehender Vater, weil seine Frau im Krieg ist.

Auch wenn der junge Nachwuchs-Meerresbiologe-Hippie ins Büro reinschneit, und sich zurückmeldet mit kurzer Umarmung für alle, nächste Woche ist er wieder auf der Luftwaffen-Basis, um Raketen aus US-Fliegern aus- und in israelische Kampfjets einzuladen…

Alltag?

Sonntag. Als wir schon im Bett liegen, rumpelt es am Himmel über uns, wie bei einem Gewitter. – Ein Blick auf’s Telefon bestätigt: Tel Aviv hat Alarm, und wir hören den Donner der Abfang-Raketen.

Montag. Am Morgen dann, wenn wir zum Frühstück in die Küche kommen, tollen unsere beiden jungen Katzen vor der Haustür in der Sonne, und betteln um Futter…

Der Strassenwischer findet auf seiner Morgenrunde ein grosses iPhone 7 unter einer Sitzbank in der Dizengof.
Er hebt es auf.

Er trägt Latexhandschuhe, trotz der Sommerhitze lange Arbeitskleidung in Leuchtfarben und vor dem Gesicht eine dieser leichten, textilen Wegwerf-Atemschutz-Masken wie man sie von Zeitungsfotos aus asiatischen Grossstadtmolochs kennt.
Alles was man von ihm sieht ist die Nase und krause schwarze Haare.

Einer der afrikanischen Juden hier, die nicht viel zu melden haben.
Das silbern glänzende grosse iPhone ist ein Fremdkörper in seinen Händen.

Er drückt auf der Seite, auf den Home Knopf wischt über den Bildschirm, es scheint nicht zu funktionieren, oder die Batterie ist alle, oder er weiss nicht was tun damit.
Oder es lässt sich mit Latexhandschuhen nicht bedienen.

Da geht schon eine Blondine auf ihn zu, Typ Mercedes-SUV-Mommy, die den ganzen Vormittag mit ihren Freundinnen – alle im knallengen orange-schwarzen Pilates-Outfit – im Strassenkaffee sitzt.
Sie zeigt auf’s herrenlose Telefon in seiner weissen Latexhand.
Er nickt und gibt es ihr.
Sie kehrt mit dem iPhone zurück an ihren Tisch.

Es ist offensichtlich nicht ihr’s.
Aber es gehört jemandem wie ihr.
Nicht jemandem wie ihm.

Die Idee der beiden war wohl richtig: wenn jemand das Telefon vermisst, wird er wohl anrufen, oder gar zurückkommen und danach suchen.

Eine halbe Stunde später sehe ich die Mutti mit ihrem kleinen 2jhrigen Kind in pinkem Dress das Kaffee verlassen, das Kind spielt mit dem grossen iPhone.

Hätt’s der Strassenputzer nicht besser selber eingesteckt?

Ich wurde eingeladen, einen Vortrag zu halten über die kulturellen Unterschiede zwischen Israel und der Schweiz. Der Kontext: Das israelische Management einer israelischen HighTech-Firma versteht die Entscheide ihres Schweizer Mutterkonzerns nicht.

Die Israelis fragen sich: ‘Warum wollen die Schweizer unsere Projekte nicht? Wir haben doch so gute Ideen!’ Israelis haben immer gute Ideen – und sie wollen ihre Ideen umsetzen. Konzepte schreiben, Machbarkeitsstudien? Fehlanzeige. Los! Machen!

Die Aufgabenstellung an mich, wie ich die Einladung zum ‘Cultural Differences’-Workshop als Schweizer verstehe: Kulturelle Unterschiede aufzeigen, Verständnis schaffen für den Anderen und das Andere, interkultureller Dialog …

Als Israeli verstehe ich: Ich soll bitte bitte ein Rezept liefern, wo und wie man beim Schweizer den Hebel ansetzen muss. (Und gerne bestätigen, dass dass die Schweizer langsam und zögerlich sind.)

Am Ende leite ich eine knapp zweistündige Session währendder wir viel über die Eigenheiten beider Länder lachen. Über die korrekten Schweizer und die wilden Israelis.

Mein Lieblingsmoment kommt, als die Manager fragen, wie man denn einem Schweizer eine Meinung entlockt. ‘Was meint der Schweizer, wenn er sagt er hat keine Meinung?’ fragen sie. Ich sage: ‘Möglicherweise hat er keine Meinung.’ Die Israelis denken ich scherze – sie können’s nicht glauben dass jemand ‘keine Meinung’ hat.

Dann wird ein konkretes Projekt angesprochen, was vom Schweizer Hauptsitz nicht genehmigt wird. Da frage ich: ‘Versteht ihr denn, warum die Schweizer das nicht wollten?’ Sie sagen: ‘Ja, es ist ein logischer Entscheid: zu viel Risiko.’

Natürlich will der Israeli trotzdem ran. Es ist nicht so dass er das Risiko nicht sieht – er nimmt es einfach in Kauf.

Der CEO, eine Israelin, sagt gegen Ende: ‘Das hört sich ja an als leben wir im Dschungel!’

Die runde lacht laut – und etwas stolz auch.

Vor vier Jahren kam ich her und war überzeugt, der Nahe Osten würde von Europa lernen, von der Prosperität dank Toleranz und respektvollem Zusammenleben und offener Grenzen. Hoffte auf Bahnreisen nach Beirut, Tel Aviv, Damaskus, Amman, Kairo.

Es war mitten im Arabischen Frühling!

Es war Arabischer Frühling in Europa.

Hier sagten alle: vergiss die Träumereien.

Im Moment sieht es tatsächlich nach dem Gegenteil aus und Europa lernt von Israel, wie man sich hermetisch abschottet.

Die Israelis schlagen mit der flachen Hand kräftig auf den Tisch und rufen: Jetzt seht ihr dann mal, wie das ist mit denen. Wir haben’s euch immer gesagt! Schon heute werden ja Teile von Frankreich und England von Muslimen und islamischem Recht kontrolliert. Viel Glück dabei, mit Samthandschuhen Terroristen zu stoppen. Ihr Naivlinge! Europa hat gut moralisch referieren, solange die Pufferzonen funktionieren. Und solange die Politik des langen Armes funktioniert: den ‘anderen’ mit ganz weit ausgestreckten Arm die Hand zu reichen .. etc. etc.

Der Israeli sieht in jedem syrischen Flüchtling einen potenziellen Terroristen. (Hier kennt man auch nur die Flüchtlinge aus den eigenen Kriegen – die Palästinenser, die zurück wollen, wo jetzt Juden ihr Haus gebaut haben.)

Ich verteidige Europa, spreche von Integration, Investition .. denke an flüchtige Professoren, Lehrer, Frisöre, die nichts sehnlicher wollen, als ein normales aufgeklärtes Leben.

Hoffen wir, dass Europa stark genug ist, die Flüchtlinge einzuschliessen in die Gesellschaft. Und dass die Flüchtlinge bereit sind, Europäische Werte zu akzeptieren.

Die israelische Fluglinie El Al wirbt auf Hebräisch mit dem Claim ‘Wie Zuhause in der Welt’. Nach einer Woche in Zürich freute ich mich nicht unbedingt auf den Rückflug, aber doch auf mein Zuhause.

Nach der 5minütigen obligatorischen El Al Sicherheitsbefragung am Gate in Zürich – ich war stolz, dass ich das Interview auf Hebräisch bestanden hatte, ich fühlte mich ein bisschen schon wie zuhause – sagte der israelische Security mit Pokerface zu mir „We have to do an extra-check. You can sit here“.

Ich setzte mich und wartete. Ich hasse die Willkür von Türstehern, Gorillas, Sicherheitsdiensten. Und ich kenne die Routine: El Al / Israel hat eigene Leute, die sämtliche Reisende vor dem Boarding befragen. Je nach Antworten, Nachnamen, vielleicht auch Wetter oder Tagesform werden dann einzelne Subjekte einem ‘extra-check’ unterzogen. Willkommen zuhause.

Es geht natürlich um die Flugsicherheit – doch es fühlt sich nicht so an.

Die Fragen der Sicherheitsleute sind so entworfen, dass sie zwangsläufig alle jene diskriminieren, die nicht jüdisch und in Israel geboren sind. Freunde hier versichern mir, dass sie auch gefilzt werden, es diene nur der Sicherheit, man dürfe es nicht persönlich nehmen …

“Hast du Freunde in Israel?” hatte er mich gefragt.
“Ja, viele,” lachte ich. Was sollte diese Frage?
“Wie heissen sie?”
Das Lachen verging mir.

“Ahmed, Mohammed, Yasser … ” wollte ich sagen, um ihm etwas zu Denken zu geben “… und Friedensaktivist Hans Z. aus Bern.”

Ich dachte wieder wie unheimlich es ist, dass ich noch immer keinen einzigen Araber kennengelernt habe. Seit bald vier Jahren in Israel.

Im Interview hatte er mich auch ausgefragt: Wo wir wohnen, ob wir Kinder haben …

“Woher ist deine Frau?”
“Israel.”
“Und die Eltern?”
“Israel.”

Wenn ihre Eltern vor 70 Jahren in Israel geboren wurden, ist die Chance gross dass sie Palästinenser sind – zumal der Familiennamen meiner Frau nicht Cohen oder Birnbaum ist.

Verdächtig.

Es ist beleidigend. Ich lebe seit bald vier Jahren in Israel, arbeite fleissig für wenig Geld, bezahle die hohe Wohnungsmiete, um in dem einen teuren Viertel in Israel zu leben, zu dem ich Schweizer problemlos kompatibel bin, ich schaffe Werte, mache Freunde, stecke den ganzen Kriegsscheiss weg – und die behandeln mich, als begehre ich Einlass in einen elitären Club.

“Wo hast du Hebräisch gelernt?” eine beliebte Frage. Oft eine der ersten.
“In Israel.”
“Aha.“

Ich bin mir sicher, das übersetzt sich in Sicherheitsdeutsch zur Antwort: ‘Er ist nicht mit Hebräisch aufgewachsen, also nicht jüdisch aufgewachsen, also möglicherweise gar kein Jude, also möglicherweise ein Feind.’

Manchmal setzen sie noch nach:
“Gar kein Hebräisch als Kind..?”
“Nein”

Ein Goy.
Warum würde ein Goy freiwillig nach Israel ziehen?

Alarm.

“Wie lange dauert’s noch, bis du einen israelischen Pass hast?” wieder eine Frage, die ich noch nicht kannte.
“Ich glaube drei, vier Jahre.”
“Aber das geht doch schneller, wenn du konvertierst?”
“Ich konvertiere nicht.”

Alarm.

Im Pass sind meine Ferien in Jordanien, und zwei Reisen in die Türkei vermerkt.

Alarm.

Alarm!

Nach 20 Minuten werde ich aufgerufen. Ich muss in’s Räumchen, mein Handgepäck wird ausgepackt und ausgelegt, auf Sprengstoffspuren untersucht.

Der Typ hört nicht auf zu quatschen, stellt mir erst dieselben Fragen wie sein Kollege und als ich ihm sage ich hätte sämtliche Fragen beantwortet und hätte die Schnauze voll davon, versucht er mich krampfhaft auf andere Art in ein Gespräch zu verwickeln und Informationen abzurufen.

Er erzählt mir, dass Hebräisch eine einfache und sehr alte Sprache sei und dass Sprachen je moderner je komplizierter sind – ich verklemme mir den Kommentar, dass das moderne Hebräisch erst knappe 100 Jahre alt ist. (Das wäre ja wie an der ewig alten Geschichte und Bestimmung der Juden zu kratzen.)

Er legt mir noch einen Köder aus, er erzählt mir von einer Sprachschule die seine Mutter gegründet habe, die auch Arabisch unterrichtet … Ja, ich würde gerne Arabisch lernen. Ich verklemme mir jeden Kommentar. Ich will einfach nur auf den Flieger. Nach Hause.

„Ich verstehe nicht, warum jemand in Israel Arabisch lernen sollte …“ hätte die Prozedur wohl abgekürzt. Oder „Wenn ich Arabisch höre, läuft mir jedesmal kalt den Rücken runter …“

Mitten in der Untersuchung erreicht den Gorilla ein Funkspruch, dass auch mein eingechecktes Gepäck geöffnet werde. Die drei Gläser Ovo-Schoko-Brotaufstrich würden entnommen und in eine Spezialbox zur Spedition verladen.

In meinem Gepäck ausserdem: Bratwürste und Weisswürste.

Sie sollten mich gar nicht mitnehmen, denke ich frustriert. Nicht genug dass ich, Unbeschnittener, eine propere Israelin vom auserwählten Volk verführte, ihr ein Kind machte, ich versorge ausserdem das heilige Land mit Schweinefleisch, schere mich einen Dreck um’s Konvertieren und unterwandere das herrschende Schokoladenmonopol. Auch wenn ich kein Terrorist bin – ich trage dazu bei, dass die Traditionen und Sitten im heiligen Land verludern, dass der jüdische Staat etwas un-jüdischer wird. Und als Christ bin ich als potenzieller Antisemit geboren.

Die Sonne Israels zieht eben nicht nur Juden an. Aber wo kommen wir denn hin, wenn immer mehr nicht-Juden ins gelobte Land ziehen wollen..? Plötzlich sind die Juden wieder in der Minderheit.

Der Claim von El Al auf Englisch: ‘It’s not just an airline. It’s Israel.’

Natürlich, Sicherheit hat nicht nur konkrete Funde zu liefern, es geht auch um eine Demonstration der Sicherheit. Die Israelis beherrschen das Metier meisterhaft. Das israelische System leistet nahezu perfekte Kontrolle und Abschreckung, es ist in Sachen Sicherheitsapparat wohl das beste was die Welt je gesehen hat. Der Preis, den man dafür zahlt, ist schwierig zu benennen. Bei mir sind es 20 unangenehme Minuten am Flughafen – andere zahlen einen unendlich viel höheren Preis.

Beliebter machen sich die Israelis damit nicht. Aber sie halten so ihr Nest sauber, könnte man sagen, und das ist ja die primäre Absicht… Doch in diesen Momenten stelle ich mir die Frage: Will ich wirklich in diesem sauberen Nest hocken..?

Die Regierung Netanyahu provoziert seit Jahren scheints chaotische Schlagzeilen, “Ja zum Friedensprozess”, “Nein zum Friedensprozess”, “Ja zu zwei Staaten”, “Nein zu Palästina”, neulich, kurz vor einem Deutschlandbesuch: “Die Palästinenser sind für den Holocaust verantwortlich” … So konfus dies im Alltag wirken mag, so zielstrebig und konsequent wird hinter diesem Dauerlärm gearbeitet. Das Leitmotiv: Palästinenser gibt es nicht, es gibt nur Araber, und von denen wissen wir ja, wie die sind, also ignorieren wir sie wo es geht, bauen hohe Zäune und versuchen sie so gut es geht zu beschäftigen bis … bis …. bis … ja bis wann?

Irgendwann, in einigen Jahren wird Israel Reservate ausrufen und diese Gebiete den Palästinensern als ‚Palästina’ zur ‚Selbstbestimmung’ überlassen.

Eine Abkehr oder gar Umkehr von diesem Weg scheint hier unmöglich.

Seit Oslo wird die Westbank konsequent ‘zersiedelt’ und jede Minute der ‘Friedensverhandlungen’, jede Minute Status Quo, wird dazu genutzt, Tatsachen zu schaffen.

Ist es nicht am Ende so, dass wir das Schicksal der Indianer zwar bedauern, aber dass wir keine echte Alternative anzubieten haben?

Mit unserer „Toleranz“ und „Offenheit“ gegenüber anderen Kulturen wollen wir doch nur das Beste für alle. Wir wollen dass alle Menschen gleich und frei und glücklich sind.

Wirklich?

Unsere westliche Kultur ist expansiv, sie übernimmt, erleuchtet, befreit – gliedert ein in unser Wirtschaftssytem – und löscht alles andere aus oder verdrängt es bestenfalls in die Folklore. Fortschritt.

Darum geht es uns heute so gut.

Mittsommer hat hier kaum eine Bedeutung. Die Tage im Sommer sind nur unwesentlich länger. Es ist immer Sommer. Gerade sitze ich im Zug von Haifa (Büro, Nord-Israel) nach Tel Aviv (Zuhause). Es geht den sandigen Dünen am Mittelmeer entlang und die tief stehende Abendsonne vergoldet alles.

Heute Nachmittag, im Büro, hat’s draussen aus heiterhellem Himmel laut gerummst, die dünnen Fenster zitterten. Der Tischnachbar sagte: Das sind Lawinensprengungen. Ich lachte. Niemand weiss, was es war.

An der Grenze zu Syrien starb am Mittag ein Israeli, hatte ich in einer Schlagzeile gelesen.

Syrien ist vom Büro geschätzte 50 Kilometer Luftlinie weg.

Mittag hatte ich zum ersten Mal alleine mit Hanan gegessen, einem netten jungen Familienvater. Er hatte das Bedürfnis, über Politik zu sprechen. Über die Entführten drei Jugendlichen, und wie die israelische Politik/das israelische Militär das missbraucht, um die Hamas zu bestrafen und zu quälen.

Dann verwandelte sich sein Gesicht von einer Sekunde zur nächsten in das eines alten Mannes: “Ich war in Gaza, im Militär, als wir noch Gaza besetzten. Ich sah die Männer, die einfach nur zur Arbeit wollen. Die Kids, die Steine nach uns warfen – für die ist es ein Spiel.” Grau, traurig, selbst seine Zähne wurden aschig, er hatte Mühe zu atmen.

Wir waren fertig mit dem Lunch. Wir standen auf. Ich weiss nicht mehr was er sagte, ich glaube etwas über Musik oder Fernsehen oder Kino…

Gabi insistierte vor zwei Jahren, dass wir uns einen Drucker mit Fax kaufen. Ich lachte: “Fax??! Du bist so süss. Ich bring’ dir jedesmal Blumen wenn wir einen Fax schicken oder empfangen. Wir leben doch im Silicon Valley 2.0!”

Der Kulturschock liess nicht lange auf sich warten: In der #Startupnation stellt der bürokratische Schriftverkehr aller Art komplett auf Fax ab.

Nichts geht ohne Fax. Man bekommt kaum eine Pizza geliefert ohne Fax.

Die Parkuhr in der Strasse lässt sich zwar per iPhone-App füttern, aber banale papierne Formulare werden hin und her gefaxt wie in den tiefen 80ern.

Möglich, dass die Bürokraten mit dem Faxgeräte-Importeur unter einer Decke stecken. (Das Leben hier lehrt einen, alles auf doppelte Böden abzuklopfen. Und es ist doch nicht möglich, dass sich kein Startup findet, was dieses Problem löst.)

Jetzt hat sich ein Haver Knesset, ein Parlamentarier, das Thema für eine Schlagzeile gekrallt. Er will eine staatliche Verordnung, die sämtlichen Dienstleistern eine Email-Alternative zum Schriftverkehr per Fax aufzwingt.

Vermutlich wird die Fax-Lobby den Wink verstehen und dem Parlamentarier eine lebenslängliche Versorgung mit Tinte für seinen Drucker (mit Fax) anbieten, wenn er seinen Vorschlag zurückzieht.

Vielleicht sollte ich auch den kleinen Blumenladen bei uns um die Ecke auf der Dizengoff warnen. Ich schulde Gabi noch geschätzte zwei Dutzend Fax-Blumensträusse, aber wenn der Parlamentarier durchkommt mit seinem Vorschlag brechen harte Zeiten an…

JPost - Aus für Fax in Israel

Trotz Monaten in der Sprachschule reicht mein Hebräisch noch nicht viel weiter als bis ‘Kaffee schwarz’. Schriftlich kommuniziere ich mit Hilfe von Google’s Übersetzungs-App. Telefongespräche vermeide ich nach Möglichkeit. Was unter anderem ein Handicap ist, weil hier viel, gerne und günstig Essen nach Hause bestellt wird.

Letzte Woche, home alone, rief ich bei Domino’s an und bestellte eine PIzza (irgendwann musste ich mich dieser Situation stellen).

Eine hungrige halbe Ewigkeit nach dem Anruf kam eine SMS von unbekannter Nummer und ich liess Google übersetzen. “Domino’s Apostel wird gleich mit Dir sein,” wurde mir verkündet. Natürlich! Heiliges Land! Ich jubilierte. Der Apostel brachte mir eine Familienpizza mit Peperoni – blieb aber nicht zum Essen.

 

 

pendler

Seit März pendle ich Sonntags nach Haifa zur Arbeit. Auf dem Bahnhof gibt’s die Gratiszeitung. Mein Zug fährt meist pünktlich.

Für Israelis ist Zugfahren eine neue Mode. Vor bald 100 Jahren, als die Eisenbahnverrückten Briten hier waren, gab’s ein Streckennetz zwischen Damaskus, Beirut, und Kairo mit täglichen Verbindungen via Haifa, Tel Aviv und Jerusalem von einer Grosstadt zur anderen. Nur als naiver Schweizer kann ich heute davon träumen, in zwei Stunden von Tel Aviv nach Damaskus oder Beirut zu flitzen.

Im Abteil gibt’s eine Steckdose für den Laptop und man kann sich unterwegs über Wlan ins Gratis-Internet einklinken. Chapeau, Israel.

Nach der Unabhängigkeit Israels wurde das Streckennetz vernachlässigt, der teure Ausbau aufgeschoben. Busse waren das Transportmittel der ersten 50 Jahre Israel. Erst seit 20 Jahren feiert die Eisenbahn ein Comeback. Irgendwo lese ich: Anfangs 90er reisten noch 2-3 Millionen Passagiere pro Jahr mit dem Zug. Heute sind es gegen 40 Millionen.

Viele schimpfen über Verspätungen, Streiks und spontane Fahrplanänderungen. Ich kann das nicht bestätigen. Den 7 Uhr Zug teile ich vor allem mit den vielen Soldaten, die Sonntags aus dem Wochenende zurück in ihre Kasernen im Norden einrücken.

Am Streckennetz wird fleissig weitergebaut. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann in einer friedlichen Zukunft mit dem Zug nach Beirut fahren kann für einen Theaterabend.