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Business as usual

Der «Playboy» ist auch nicht mehr, was er mal war. Trotzdem. Hier, in unserem kleinen französischen Cafe Colette an der Baselstrasse, wo altes Tel Aviver Geld verkehrt und Internetmillionäre sich breit machen; wo man im Mercato Gruyère, Brie und Pasta al Tartufo shoppt; im Haus neben unserem Buchhändler Chaim, wo man den New Yorker und die französische oder amerikanische Vogue mitnimmt; in der Strasse, wo es für Jungmütter und Grosseltern eine ganze Reihe Boutiquen mit Accessoires und Babyklamotten für Enkel/Kinder gibt (beinahe-chic, billig gemacht und überteuert wie das meiste in Tel Aviv); wo zwar nicht Nespresso Maschinen und Kapseln verkauft, aber die Kopie EspressoClub; in unserem unschuldigen kleinen Café Colette geführt von der Riesigen Matrone, wo je nach Wochentag der schwule gepiercte Schlaks mit den kurzen graumelierten Haaren und dem Modebart, oder die kleine süsse Studentin (knapp 18 und bald in der Armee) mit den weit auseinanderliegenden Mandelaugen, servieren; keine fünfzehn Minuten weg vom Orthodoxenquartier, wo die Männer mit Hut andere Frauen nicht mal ansehen, wenn sie mit ihnen sprechen, wo sich am Shabbes niemand mit dem Auto reinfahren traut, weil niemand ungestraft die biblische Ruhe bricht… In dem Kaffee hier also liegt der Playboy auf.

Es liegt einfach mehr drin hier. Es kommt so oft so viel so überraschend zusammen hier, im Kleinen wie im Grossen. Charakter zeigen fällt nicht auf. Kein Profil zeigen fällt auf. Dafür liebe ich das Leben hier. (Die Croissants im Colette sind anständig, das Frühstück ist nicht besonders toll im Vergleich, aber es ist der einzige Ort wo ich den Cafe Americano trinke ohne das kleine Milchkännchen anzurühren, lang, schwarz, kein bisschen bitter.)

Die Israelis pflegen eine sehr lebendige Kultur der Cervelat-Prominenz. Das «heimelet» mich an. Der Unterhalt schmalspuriger Lokalprominenz ist wohl schönes Privileg von isolierten Kleinstaaten. Meine Frau zeigt im Ausgang oder im Kaffeehaus immer mal wieder auf einen Typen, der bei Big Brother oder DSDS war, pardon «Israeli Idol».

Was diese Celebrity-Kultur zusätzlich befeuert, ist die heisse, ungebrochene Liebe der Israelis zu Reality-TV von «Big Brother» und «Survivor» über «Blind-Date» bis hin zu verschiedenen «Superstar»-Formaten. Die Bars sind spürbar leerer an Abenden mit dem finalen Voting für diese oder jene Durchlauferhitzer-TV-Show.

Eine andere Art der Cervelat-Prominenz hat mir neulich eine Freundin anhand eines Zeitungsartikels vorgestellt. Die Frau auf dem Bild unten ist die Witwe eines Kriegs-Helden. Er ist hat sich im Libanonkrieg 2006 auf eine Granate geworfen, und hat damit seinen Kameraden das Leben gerettet, erzählt mir die Freundin. Im Netz lese ich dann: Er ist mit seinem Helikopter abgeschossen worden. Wie auch immer: ein Held. Und eine tragische Geschichte.

Seine Frau, damals 2006 frischgebackene Mutter, hat vor zwei Jahren bei einer Reality-TV-Verkupplungs-Show mitgemacht und gehört seither zum israelischen Celebrity-Inventar. Und jetzt heiratet sie wieder. Die Klatschspalten und Gossip-Kolumnen jubilieren und fühlen mit, fragen, wie es ist, mit einem neuen Mann, ob sie ihren Helden je vergessen könne… Mazal tov!

Kriegs-Witwe. Keine Ex-Miss.

Seit Anfang des Monats ist der Musikladen von iTunes auch für Israel aufgeschaltet. Apple hat das Hightech-verliebte Land die letzten Jahre links liegengelassen. Israel wird erst jetzt bedient, in einem Schwung mit Russland, Indien, der Türkei, Saudi-Arabien und rund fünfzig anderen Ländern, die bisher auf den MP3-Download per iPhone verzichten mussten. Ein kleiner Stich in die stolze israelische Seele: Man nennt sich lieber in einem Atemzug mit den Europäern und den Amerikanern.

Verglichen mit Schweizer Preisen, kostet die Musik bei iTunes Israel rund die Hälfte. Nur: Den alten Kinks-Song führen sie nicht im israelischen Store. Läuft das nun unter Kulturboykott? Ist das politisch motiviert? Haben die Kinks etwa ein Problem mit Israel!? Oder ist es nur ein Problem mit den Verkaufsrechten bei Apple..?

Die Kadenz steigt. Heute feuerten sie zwei Mal Raketen auf Tel Aviv. Der Tag ist noch nicht um. Es wird immer unheimlicher. Einige unserer Freunde wurden eingezogen für die Bodenoffensive. Der Arzt mit den wasserblauen Augen ist als Jet-Pilot bei der Luftwaffe schon länger im Einsatz. Die Israelis auf der Strasse geben sich entschlossen, ergeben. Beeindruckt, aber nicht erschüttert.

Nachdem ich um fünf einen Kunden im Arcaffe treffe, lasse ich mir im Deli Hühnerbeine geben und hole Broccoli fürs Abendessen beim Araber. Bei uns um die Ecke treffen sich wie immer Familien mit Kinderwagen, der Nachwuchs kurvt mit Dreirädern über den grossen Basel-Platz. Gleich werden die Sirenen wieder losheulen.

Die Anspannung lässt jetzt nicht mehr nach. Mir fällt es schwer, das normale Leben im Kriegszustand zu akzeptieren. In der Ulpan sagt Tzipi die Lehrerin heute Morgen, sie würde uns lieber die Zukunftsform der Pi’el-Verben erklären, aber da wir nachfragen, gibt sie uns etwas Kriegs-Vokabular mit: Sirene (Aszaka), Rakete (Til) oder Treppenhaus (Madregot). Dorthin soll man sich begeben, wenn kein Schutzraum (Miklat) in unmittelbarer Nähe ist. Der Rektor (Menahel) kommt in die Klasse, instruiert uns und lobt uns, dass wir trotz der Bedrohungslage zur Schule kommen. In der Zehn-Uhr-Pause heulen die Sirenen los. Das Treppenhaus ist voll mit Schülern und Lehrern. Seufzen, Augen rollen, viele haben ihr Handy am Ohr während der 60 Sekunden bis zur Detonation (Pizuz).

Wie ich mit dem Abendessen in den Einkaufstüten die Baselstrasse runter in Richtung unserem Haus gehe, heulen wieder die Sirenen los. Mittlerweile bleibt keiner mehr stehen, alle wissen was zu tun ist, eilen zum nächsten Hauseingang. Die Sirenen verstummen, ich bin am Handy mit meiner Frau verbunden, das Mädchen neben mir im Treppenhaus spricht beunruhigt in ihr Telefon. Wir warten. Dann ist ein bedrohlich dumpfer Rumms zu hören. Wo hat die Rakete eingeschlagen? Die Ambulanzen des Rettungszentrums am Baselplatz bleiben still…

Zuhause schalte ich den Fernseher ein. Der Nachrichtenkanal zeigt Bilder von zwei Abfangraketen, die eine orange-weisse Kurve in den schwarzen Abendhimmel zeichnen und dann in einem grossen Feuerball aufgehen. Die Rakete aus Gaza: Abgefangen. Der Verkäufer im Kiosk sagt bei unserem täglichen Schwatz: Nach zehn Raketen hast du’s gesehen.

Der Kosename der Stadt ist The Bubble. Weil die Leute hier im Alltag seit Jahren die politische und militärische Situation Israels ignorieren und ungerührt und unberührt das Leben geniessen. Dieser Tage hat die Bubble auch noch eine Eisenkuppel als Verstärkung: Den Iron Dome der Hightech-Abfangraketen. Wir hoffen, dass die Tel Aviver Bubble hält.

Abfangrakete beschützt die «Bubble»

Ich sitze auf der Terrasse des Loveat beim Lunch. Plötzlich tauchen wieder Kamerateams und Profi-Fotografen mit langer Linse auf. Ein dicker weisser Audi mit Blumendeko auf dem Kühler fährt vor: Noch eine Hochzeit. Das Brautpaar steigt aus, die Paparazzi geben Anweisungen, lächeln, küssen, Hand-in-Hand gehen. Anders als in der Schweiz, führt hier in Israel kein Weg an der Norm-Hochzeit vorbei. Die Norm ist: die Familien laden mehrere hundert Gäste zu Essen, Rabbi und Musik in eine der Event-Hallen. Davor absolviert das Brautpaar den Foto-Shoot und Filmdreh auf der Dizengoff-Strasse, am Meer im Abendlicht und in der Altstadt in Jaffa. Im Frühjahr vergeht hier kein Tag ohne Shooting.

Einige tausend israelische Paare im Jahr entziehen sich diesem Druck von Religion und Tradition und fliegen für ihre Trauung nach Zypern. Das ist der einzige Weg am Rabbi vorbei, die Trauung im Ausland der einzige Weg zur Ziviltrauung (in Israel dürfen nur die religiösen Autoritäten Ehen schliessen – und auflösen). Mangels Ziviltrauung in Israel ist es auch der einzige Weg für Paare mit einem nicht-jüdischen Partner. Bereits zwei meiner Bekannten aus der Ulpan waren «auf Zypern». Sie kamen nicht besonders glücklich zurück. Charterflug voller ungläubiger Paare hin, fünf Minuten in einem zypriotischen Amt, Charterflug zurück: So hatten sie sich ihren schönsten Tag nicht vorgestellt.

Kein rotbraunes Laub auf der Strasse. Kein Nebel. Kein Regen. Herbst gibt’s hier nur in den Auslagen der Kleiderläden.

Die Temperaturen fallen jetzt aber auch mal unter 20 Grad – nachts. Die Restaurant-Terrassen werden zu Wintergärten umgebaut. Nach gefühlten sechs Monaten ohne Regen.

Das Licht verändert sich kaum merklich, der ewige Sommer bleicht etwas aus, wird fahl und dann bald auch für Tage grau und nass. Der Winter kommt.

Vor einem Jahr haben mich solche Scharfmacher-Texte in der Jerusalem Post noch berührt und beunruhigt:

“On Iran, the thing to fear might be fear itself – Overconfidence should be avoided, but an army is useless if you’re afraid to use it.”

“Bezüglich Iran: Furcht ist, was wir fürchten müssen – Überzogene Selbstsicherheit sollte vermieden werden. Aber eine Armee ist nutzlos, wenn man sie nicht einsetzt.”

Was will der Kommentator sagen: Wer eine gute (will nicht sagen: die beste) Armee hat, sollte gefälligst auch Krieg führen? Wer nicht in den Krieg zieht, kann den Krieg nicht gewinnen? Dass Israel bitte nicht aus Angst vor Krieg einen Krieg vermeiden sollte? Ihr seid alles Memmen, ich habe den Grössten?

Heute ringt mir das ständige Säbelrasseln ein etwas trauriges Lächeln ab. Zuviel wird hier gelärmt, gedroht, gezetert … man gewöhnt sich daran wie an den Autobahnlärm im Schlafzimmer.

A propos: Verteidigungsminister Ehud Barak hat gestern in einem Interview den Krieg mit dem Iran auf nächsten Sommer verschoben. Nach den Wahlen. Iran habe offenbar beschlossen, mit dem Bau der Atombombe noch ein Weilchen zuzuwarten. Also brauche man jetzt nicht sofort einen Krieg. Aber nächsten Sommer könnte es dann sein …

Ein Freund von uns arbeitet (noch) für eines dieser globalisierten High-Tech-Unternehmen mit grosser Niederlassung in Israel. Er arbeitet viel. Die interne Konkurrenz ist beinhart.

Sein (israelisches) Team wird von Atlanta aus geführt. Ein anderes israelisches Team, mit israelischem Management, hat vor zwei Jahren ein internes Projekt initiiert, was ihn jetzt den Job kostet. Weil dieses Konkurrenz-Team die Arbeit effizienter macht als sein Team.

Die Geschichte, die er uns am Strand erzählt: Vor zwei Jahren, als das Projekt gestartet wurde, hatte er Bedenken, doch seine Vorgesetzten versicherten ihm: “Nein nein, das ist kein Problem, die werden uns nicht gefährlich”. Er meinte: “They will eat you up, they are Israelis.” Seine amerikanischen Vorgesetzten seien unglaublich “naiv” gewesen…

Zwei Jahre später: Das Projekt des anderen israelischen Teams ist erfolgreich – und er bangt um seine Stelle, weil sein Team überflüssig wird.

Er leidet – aber ein Teil von ihm ist stolz auf das Team der Israelis (das ihm den Bürostuhl unterm Hintern wegzieht). Sein israelisches Selbstbewusstsein sagt ihm: Die verweichlichten US-Manager haben sich von den Israelis über den Tisch ziehen lassen. Sein israelischer Stolz lässt ihn gequält lächeln als er die Geschichte erzählt.

Es ist wohl sehr gut möglich in seinem Fall, dass die Zentrale in Atlanta von Anfang an ihre Absichten nur vernebelt hat, sein Team aufzulösen. Aber keine Frage: die Israelis sind ambitionierte und aggressive Vorwärtsdenker und Vorwärtsmacher – und sie haben Selbstbewusstsein.