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Corona

Das öffentliche Leben steht still und das Leben in den eigenen vier Wänden explodiert. Wir stecken mitten im zweiten Corona-Lockdown.

Die Zeitungen berichten über eine erschreckende Zunahme gemeldeter Fälle häuslicher Gewalt. Der Ausnahmezustand zuhause macht sich für alle bemerkbar.

Neu für uns: Die Kinder sind Tag für Tag von früh bis spät zu Hause. Hier in Israel kennen wir diesen Zustand nicht. Oder nur von den Schulferien im Sommer, die wie die Hitze im August von vielen eher als Qual denn als Quell der Freude gesehen werden.

Man kriegt hier Kinder, möglichst viele, aber ab dem dritten Monat (wer sich’s leisten kann vielleicht etwas länger) hat man im Alltag mit dem Nachwuchs nicht mehr viel zu tun, ausser zum Feierabend und Shabbat vorm Fernseher oder am Strand.

Auch die Kleinen und Kleinsten sind 6 Tage die Woche von früh bis spät versorgt.

Für die ersten 3 Lebensjahre muss man sich privat organisieren, mit Nannies und Spielgruppen unter minimalster behördlicher Aufsicht.

Dann übergibt man das dreijährige Kind an Vater und Mutter Staat. Zum Start in den Ganztages-Kindergarten, dann Schule, dann für den letzten Schliff 3 Jahre Armee – fertig ist der staatstragende Bürger.

Die Eltern gehen derweil beide arbeiten, weil nur in den allerwenigsten Haushalten ein Einkommen alleine reichen würde. Und weil es so Sitte ist.

Bis Corona.

In den kleinen Tel Aviver Wohnungen schliessen sich jetzt Mütter im Schlafzimmer ein, hocken auf dem Bett, vor sich das Laptop, um während Zoom-Meetings mit Kunden und Mitarbetiern Wäsche zu falten, und bei offenem Fenster Rauchpause zu machen, Vati arbeitet im Badezimmer und versucht dort verzweifelt sein Startup über Wasser zu halten, und die Kinder bestreiten im Wohnzimmer mit Bildschirmen verschiedener Grösse von Tablet und Fernseher zu Telefon ihre Schule und Freizeit.

Seit heute gibt’s wenigstens wieder Kindergarten. Schulkinder sind weiter zuhause. Fortsetzung folgt …

Sogar die Coronawitze waren lustiger im ersten Lockdown. Die zweite nationale Ausgangssperre, seit Ende letzter Woche hier in Kraft, entwickelt bei weitem nicht dieselbe Energie wie die Premiere im Frühling.

Die Regeln sind diesmal weniger strikt (bis jetzt zumindest). Die Leute haben weniger Schiss. Und man hat sich auch schlicht daran gewöhnt.

Das Sozialleben unterbinden, einen grossen Teil der Wirtschaft im ganzen Land für mehrere Wochen lahmlegen, Geschäfte schliessen, den Betrieb von Restaurants, Pools, Bars, Hotels, Shopping-Center einstellen, ohne Rücksicht auf Verluste – daran haben wir uns gewöhnt?

Unglaublich.

Tagsüber ist diese zweite Ausgangssperre auch weniger fühlbar. Nicht wenige scheinen weiterhin ins Büro zu fahren – obwohl alle Kids zuhause sind – es gibt weiterhin Busverbindungen (mit Einschränkungen), Takeaways sind geöffnet, Sport ist erlaubt… Doch Abends nach Sonnenuntergang, wenn die Kids und Arbeiter alle zuhause sind, wenn die knatternden Motorräder der Lieferdienste alle Abendessen ausgeliefert haben, wird es plötzlich still in Tel Aviv, die Stadt kommt zur Ruhe und schläft ein. Ein Zustand, den diese Stadt nicht kennt.

Diese absolute Ruhe verblüfft mich jeden Abend von neuem und ich geniesse diese Stille. Auch wenn es Zeichen dafür ist, dass nichts ist wie es sollte, schläft es sich so besser. Gute Nacht und schöne Träume …

Ich bin’s mir ja gewöhnt, dass wir hier in Israel in Krieg und Krise leben und nicht wissen, was wohl morgen oder in fünf Jahren ist – währenddem in der Schweiz alles eitel Sonnenschein ist.

Plötzlich hocken wir nun alle im selben Boot.

Ich frag mich jetzt immer mal wieder: Wie fühlt sich’s wohl in der so gut austarierten Schweiz an, plötzlich eine derartige Krise zu erleben..?

Die Linke in Israel sieht die Aufweichung des Datenschutz – in Kombination mit dem Einsatz der Armee zur Coronabekämpfung – als Vorbereitung und Probe für eine Netanyahu-Diktatur.

Das scheint mir recht weit hergeholt, aber wie bei jeder populären Verschwörungstheorie lässt sich’s gut und einfach argumentieren: Es könnte ja tatsächlich verführerisch sein für Netanyahu, all die Sonderrechte die jetzt eingeführt werden nicht mehr abzugeben (als Alternative blüht ihm ja nach wie vor ein Korruptionsprozess und möglicherweise Knast, Motivation hätte er also zur Genüge).

Andere populäre Verschwörungstheorien: Die Juden stecken hinter dem Coronavirus. Beweise? Eine Israelische Firma hat schon vor zwei Wochen gesagt sie hätten bald einen Impfstoff – die haben das Virus doch selber ausgesetzt um danach Reibach zu machen mit der Behandlung!

Oder stecken doch die Chinesen dahinter? Die züchteten und exportierten nämlich das Virus. Jetzt behandeln sie ihre Landsleute, und die chinesische Gesellschaft und Wirtschaft schaltet zurück auf Normalbetrieb, während unsre Börsen ins Chaos stürzen – und China die westliche Wirtschaft für ein Butterbrot übernehmen kann.

Oder waren’s doch (wie immer) die Amerikaner?

Ein Virenlaborprofessor hier meinte dazu nur trocken: “Können Sie sich wirklich vorstellen, dass jemand ein Virus entwickelt, das Ü-70-Jährige tötet?”

“Ein 88-Jähriger ist am Sonntag in der Stadt Zürich gestorben.” Das war die Schlagzeile und Meldung im Tagesanzeiger.

Unsere Gedanken sind nicht bei der Familie des Corona-Toten. Sondern wir sind einfach nur froh, war er nicht 44 oder gar 33 oder 55 – denn alt sind ja nur die andern.

Die Corona-Angst treibt seltsame Blüten. Unsere Nachbarin, bin ich überzeugt, würde mich bei den Behörden verpetzen, wenn ich meine Quarantäne brechen und mit den Kids in den Park würde.

Wobei, das wäre wahrscheinlich gar nicht nötig, dass sie mich verpetzt, denn die Regierung nutzt seit neustem Terroristen-Bekämpfungs-Hi-Tech um freilaufende Coronaträger zu überführen.

Handydaten, Gesichtserkennung, so genau weiss man nicht, was da alles im Arsenal verfügbar ist. Aber unsere Nachbarin, zusammen mit der Aussicht von einer Kamera erkannt und überführt zu werden, haben mich gestern abgeschreckt und ich blieb zuhause statt das schöne Wetter zu geniessen.

Heute haben sie nochmal einen nachgelegt: Ab morgen darf man nur noch mit gutem Grund aus dem Haus. – Das schöne Wetter ist kein guter Grund. – Ausser: Man hat Kids. Mit Kindern darf man (engste Familie) aus dem Haus.

Befreundete Eltern haben kurzerhand ihre Kinder angeboten auf Facebook – wer an den Strand möchte und selber keine Kinder hat, könne sich gerne melden. Sharing is caring.

Noch nie hab ich Tel Aviv so ruhig erlebt vor Mitternacht. Ich höre die Nachbarn drei Häuser weiter aufm Balkon plaudern.

Das wird sich in näherer Zukunft auch nicht ändern. Die meisten Büros und Fabriken in Israel schliessen – für einen Monat, sagen sie mal. Alle Angestellten werden beurlaubt und bekommen Arbeitslosengeld. Viele freuen sich, mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können.

Mir fällt es schwer, mir den Alltag ‘danach’ auszumalen. Geht’s dann einfach weiter, wo wir vor vierzehn Tagen etwa aufgehört haben? Wenn ich die Börsenkurse anschaue, scheint’s haben auch andere Mühe mit der Vorstellung dass das nur als ein paar Wochen Ferien für alle sind. Aber was wird denn sein?

Vielleicht hat’s damit zu tun, dass jeden Tag noch verrücktere Szenarien plötzlich Realität wurden. Und solange wir noch Unvorstellbares akzeptieren lernen müssen, ist es schwierig vorauszuschauen.

Nehmen wir’s Tag für Tag. Hauptsache gesund.

Nachdem die Schweiz nun auch die Schulen schliesst, legte Bibi Netanyahu heute Abend noch einen drauf (gestern war Schabbes da hatte er frei), und wir sind der Schweiz wieder einen Schritt voraus: Alle Restaurants, Läden, Bars in Israel – kurz: Unterhaltung und Kommerz – wird geschlossen und eingestellt für mindestens fünf Wochen, ausgenommen davon sind nur Supermärkte, Tanken und Apotheken.

Was muss das für ein Egotrip für Netanyahu sein, für diesen Mann, der den grossen Auftritt so sehr liebt. Der seiner Nation schon jahrzehntelang Atombomben aus dem Iran verspricht, der uns Todesschwadronen aus Gaza und dem Libanon in allen Farben ausmalt – dem, so könnte man meinen, nur wohl ist, wenn wir muffensausen haben.

Die Wahlen hat er nicht gewonnen und diese Woche hätte sein Korruptionsprozess begonnen. Stattdessen führt er das Land in den Krieg gegen Corona. Was für eine unverhoffte Krönung dieser langen Karriere eines Angstmachers.

Und Corona ist so viel schöner als ein Atomkrieg mit dem Iran. Die ganze Uran-Anreicherungs-Geschichte war viel zu abstrakt – über diesen Virus mit Sterblichkeitsraten von 2% bis 4% zu referieren macht so viel mehr Spass … Panik- und Hamsterkäufe! – Halleluja! – So macht Regieren Spass!

Und wie als Tüpfelchen auf dem i: die Satellitenaufnahmen aus dem Iran, die wir dieser Tage in den Zeitungen sehen, die entlarven nicht Lügen um Raketensilos und Atomanlagen, sondern sie zeigen angeblich Massengräber mit Corona-Toten – die Lügner in Teheran sagen natürlich wiedermal nicht was Sache ist und reden ihre Zahlen schön.

Ehre, wem Ehre gebührt, Netanyahu kann Krisenmanagement und es gibt viele Länder die stehen schlechter da als wir. Trotzdem. Sympathisch wird er mir nicht mit seiner Angst-getriebenen Politik …

Durch unsere Strasse (viel ruhiger als sonst) hallt heute Abend ein Husten, immer mal wieder, das gar nicht gut tönt. So stelle ich mir das Mittelalter vor: Man hört, wie’s beim Nachbarn hustet, jeden Tag tönt’s etwas dumpfer, atemloser und blutiger, und dann kommt der Pfarrer. Und dann wird einer Füsse voran aus dem Haus getragen.

Blüht uns das nun auch?

Jedenfalls wird’s immer schwieriger, Corona als Fake-News abzutun, sogar der mächtigste Mann der Welt hat zähneknirschend ‘Notstand’ gerufen (obwohl er findet das sei schlecht für’s Business).

Kann es sein, dass ich jetzt das erste Mal seit ich ausgewandert bin, nach bald 9 Jahren Israel, ein bisschen neidisch auf die Schweiz schaue?

Es fing ja so an, dass ich persönlich etwas gekränkt war und in meinem Stolz getroffen, dass ich als Schweizer überhaupt in Quarantäne musste hier in Israel. Die grundsolide, langweilige, furchterregend risikoscheue Schweiz war plötzlich ein Hochrisikoland?

Seither, eine Woche später, rief unser Bibi Netanyahu die ganze Welt zur Hochrisikozone aus (manche sagen, weil er zu feige war, mit dem Finger nur auf die USA zu zeigen), und gewisse regierungsnahe Kommentatoren verstiegen sich dazu ein Loblied zu singen, wie grossartig Israel die Corona-Epidemie meistere, Grenzen schliessen, Quarantäne … Seht her, die Italiener haben dutzende Tote wir haben nur 25 Fälle … 50 Fälle … 75 Fälle …

Als würde diese Fallzahl über Glück oder Unglück entscheiden. Die Fallzahlen werden steigen. Aufhalten lässt sich die Epidemie nicht. Verlangsamen, ja, aber zu welchem Preis?

Also sagt die Schweiz: Grenzen schliessen? Nicht praktikabel. Aber wir bereiten unsere Spitäler vor. Wir richten beispielsweise Triage-Stationen ausserhalb des regulären Notfalls ein, damit Corona-Patienten keinen Fuss in’s Spital setzen, um nicht andere Patienten zu gefährden… Unspektakulär, aber hört sich vernünftig an.

Hier in Israel spazieren Corona-Verdachtsfälle nach wie vor in die reguläre Notaufnahme. Dafür hat Netanyahu heute mit einem Handstreich alle Schulen für einen Monat geschlossen.

Er gefällt sich in seiner (gewohnten) Rolle als General, und behandelt Corona wie einen weiteren Gegner gegen den er sein Volk in den Krieg führt. Bloss, ob die grossen Gesten auch gegen diesen Gegner das richtige Mittel sind?

Schlauer wäre, er würde die schlauen Köpfe machen lassen. Ohne notwendigerweise die ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Einfach machen lassen, die Ärzte.

Die protestieren derweil, dass sie zu wenig Schutz-Ausrüstung haben und schlecht vorbereitet sind. Aber das wäre ja langweilig, sich hinsetzen und überlegen was vielleicht in ein, zwei Monaten nötig wäre. Lieber grosse Geste, grosse Schlagzeile.

Hoffen wir, dass es nicht zum Äussersten kommt, das Gesundheitswesen hier hat kaum Reserve. Israel hinkt in Sachen medizinischer Ausrüstung der Schweiz meilenweit hinterher. Auf 1,000 Einwohner kommen in Israel 5 Krankenschwestern – in der Schweiz 17.

Hoffen wir, dass am Ende Donald Trump recht behält: es ist alles nur ein grosser Hype aufgeblasen von den Fake-News Medien, um ihm persönlich zu schaden. Für einmal hoffe ich wirklich, dass er richtig liegt …

Irgendwann nach fünf sechs Tagen fühlt man sich schon fast wie tot, während man rumhockt in Quarantäne und darauf wartet, ob’s jetzt gleich mit dem Husten und dem Fieber losgeht.

Ich bin ja nicht weg, auf Reisen, irgendwo, wo man videochatten könnte und aus dem Leben erzählen und sagen, wie sehr man sich vermisst.

Sondern ich bin irgendwie hier – und doch nicht hier. Eben wie der frisch gestorbene, der nichts und niemanden anfassen kann, aber der doch allgegenwärtig ist.

(Das kommt jetzt düsterer daher, als es gemeint ist. Aber man kommt schon auf Gedanken.)

Zum Glück steht unser Drucker bei mir im Quarantäne-Zimmer. Wenn jemand im Haushalt was auf Papier gedruckt haben muss, dann krieg ich einen Auftrag zugeschickt, dann zieh ich Gesichtsmaske und Handschuhe an, dann lege ich Papier ein, drucke und händige aus mit spitzen Fingern, was da aus der Maschine kommt. Dann fühl ich mich wieder richtig lebendig.