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Die Nachbarn

Zwei israelische Filme waren im Oscar-Rennen um den besten Dok-Film: The Gatekeepers und Five Broken Cameras. Israel hat aufgeatmet, als keiner der Filme gewonnen hat. Das Thema beider Filme: das besetzte Westjordanland. Hier mit Fokus auf die Sicherheitskräfte und Sicherheitspolitik Israels,  dort mit Fokus auf die traurige Realität der Palästinenser.

Wir waren mit Freunden im Kino in The Gatekeepers. Was mich erst überraschte: Die Wirkung des Films auf Israelis ist viel stärker, als man sich das als Europäer vorstellen kann. Die Reflexionen der alten abgebrühten Geheimdienst-Recken fahren den Israelis ein.

Meine Interpretation: So sehr man als Israeli die Politik des eigenen Landes kritisieren mag; das eigene Land, die Heimat, würde ohne den Sicherheitsapparat nicht existieren. Also ist man der Armee und den Sicherheitsbehörden hauptsächlich dankbar. Die Agenten und Soldaten erledigen das Unvermeidliche. Nicht mehr und nicht weniger. Israel muss sich verteidigen. Israel verteidigt sich erfolgreich. Die Wertschätzung und der Stolz auf diese Leistung hat jeder Israeli im Blut. Auch weil jeder Israeli seinen Dienst leistet und somit ein Teil dieses Systems ist. Weil schon Vater und Mutter im Krieg waren für Israel.

Der Film zeigt eine andere schmerzhafte Realität. Die sechs alten Männer, die die letzten 30 Jahre den Inlandgeheimdienst geleitet haben, geben zu Protokoll, dass die (Sicherheits-)Politik Israels versagt hat. Die blitzgescheiten starken Heldenfiguren brechen aus ihrer Rolle aus. Sie leiden unter ihrer Vergangenheit. Sie zeigen auf, wie hässlich der Kampf gegen den Terror ist. Wie skrupellos Israel agiert (agieren muss?). Und sie geben der Politik die Schuld daran. Sie klagen die Politiker an, die noch immer keine nachhatlige Lösung für die besetzten Gebiete anstreben. Sie klagen an, dass die Politik nie eine echte Strategie verfolgte. Dass nur immer taktisch argumentiert wurde. Und dass nur ein ehrlicher Dialog mit den Palästinensern eine bessere Zukunft bringen kann…

Das sagen keine besserwisserischen Europäer oder linke Träumer, sondern Männer, die mittendrin standen, die den roten Knopf drückten, die Tötungen und Folter verantworten. Die in ihrem Duktus über Tötungen und Folter sprechen – und damit das wahre Gesicht und die dreckige Arbeit der Sicherheitskräfte, der Helden, offenbaren.

Netanyahu sagte: Er schaut sich diesen Film nicht an.

Der Film erschüttert die Gewissheit, dass Israel richtig handelt und dass Israel auf dem richtigen Weg ist. Unbedingt sehenswert. Aber nicht angenehm anzusehen. Vor allem für Israelis.

Ich habe eine Freundin in Ägypten. Sie ist Deutsche und lebt seit vielen Jahren in Kairo und Zürich. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Seit ich nach Tel Aviv gezogen bin, denke ich immer wieder an sie. Wir sitzen jetzt in mehr oder weniger feindlichen Lagern.

Wenn ich beunruhigende Nachrichten von Strassenschlachten, Militärputsch und vergewaltigten Frauen in Kairo höre, sorge ich mich um sie. Wenn ich höre, dass ein ägyptisches Gericht den amerikanischen Mohammed-Filmer zum Tode verurteilt hat, bin ich froh, dass ich auf der richtigen Seite sitze, dass ich im Takt der internationalen Empörung den Kopf schütteln kann über ‘diese Ägypter’.

Wenn die Hamas Israel mit Raketen beschiesst, hoffe ich, dass sie sich um mich sorgt. Wenn Netanyahu neue Siedlungen genehmigt, schwappt die Empörung gegen Israel hoch, dann beneide ich sie darum, dass sie auf der richtigen Seite sitzt. Wenn ich in der Zeitung von der Unterdrückung der ägyptischen Frauen lese, bin ich froh um die Freizügigkeit Tel Avivs. (Hier beschwert sich allerdings meine blonde deutsche Freundin, dass ihr die Strasse hoch und runter von den Israeli-Machos vulgär hinterhergezischelt wird. Nicht alles ist gut hier.) Ach ja, und dann gibt es hier noch die Ultra-Orthodoxen, die im Bus getrennte Sitzreihen für Frauen und Männer fordern, H&M-Plakate runterreissen, Buchläden dazu zwingen, un-koschere Literatur aus der Auslage zu entfernen … Aber in Kairo werden dafür Botschaften gestürmt und Wahlen gefälscht…

Sie spricht Arabisch. Ich kann hoffentlich bald Hebräisch. Sie ist schon lange hier im Nahost-Chaos zuhause. Für mich ist es noch immer eine neue Erfahrung, dass ich mich nicht mehr auf meine angeborene Neutralität berufen kann.

Der Blick auf die iPhone-Karte ist elektrisierend: Die Kleine Schweiz ist keine zwei Stunden Autofahrt weg von Tel Aviv. Nochmals zwei Stunden weiter nördlich wären wir in Damaskus – oder, wenn wir links abbiegen, in Beirut. Was für ein Potenzial! Diese drei grossen Städte mit grosser Vergangenheit, so nah beisammen… Sobald die Grenzen offen sind, der Nahe Osten eine grosse friedliche Einheit, fahren wir fürs Wochenende nach Damaskus! Oder nach Beirut ins Museum oder ins Theater…

Letztes Jahr waren wir Pferdereiten auf den Golanhöhen. Der Ranchero dort hiess Uri. Als wir Uri sagten, dass ich Schweizer bin, fragte er mich: «Wie macht ihr das mit der Neutralität? Wir wollen auch neutral sein. Wir wollen auch einfach allen rundherum sagen, wir sind jetzt Neutral, und dann lassen sie uns in Ruhe…»

Tel Aviv, Beirut im Norden, Damaskus im Nord-Osten. Und wir mittendrin.

G hat zwei Nächte in einem Zimmer im Norden gebucht, um mich wieder mit Israel zu versöhnen. Zimmerim nennen die Israelis die kleinen B&Bs mit privater Terrasse, grossem Jacuzzi und grossem Fernseher – weg von lärmigen Buslinien und engen Treppenhäusern (Madregot). Die meisten Zimmer im Norden waren schon ausgebucht.

Als Neu-Israeli stand ich die ganzen letzten Tage unter besonderer Beobachtung. Alle wollten wissen: Wie nimmt er’s? Israelische Freunde meldeten sich besorgt und entschuldigten sich für die Umstände. In die Schweiz meldete ich jeweils: Die Situation ist verschissen, aber ich bin in guten Händen.

Noch hält sich meine Erleichterung über die Waffenruhe mit der Hamas in Grenzen. Die Unruhe der letzten Tage sitzt mir in den Knochen. Von unserem Zimmer im Norden verspricht man uns wunderschöne Aussicht über den Kinneret (See Genezareth) – am anderen Ufer wütet der syrische Bürgerkrieg.

Wie wir gerade aus dem Haus gehen, rollt krachend lauter Donner über die Stadt. Mein Herz bleibt für einen Moment stehen. Dann setzt der Regen ein.

Jetzt, heute Abend, halbzehn israelische Zeit, steht zuvorderst zuoberst auf Spiegel Online: «Palästinenser fürchten neuen Krieg». Dies, nachdem die israelischen Streitkräfte eine Offensive aus der Luft gestartet haben und weitere Attacken ankündigen. Heute Nachmittag sass ich mit einer Freundin in der French Bakery bei der Besprechung ihrer neuen Webseite, als sie im iPhone die Nachricht las über die Tötung des Hamas-Generals bei einem Luftschlag im Gaza-Streifen. Sie war nicht gerade ausser sich, aber beunruhigt, enttäuscht, auch ängstlich und wütend. Sie sagte etwas wie: «Das ist also unser Land!? Es tötet diesen Mann.» Ich legte die Nachricht ab, wie ich diese Nachrichten in der Schweiz abgelegt hatte.

Jeder hier weiss von jemandem, der jemanden kennt, der in einem Armee-Einsatz verletzt oder getötet wurde. Diese Nachrichten sind hier keine anonymen Nachrichten, es geht um Menschen. Dann, gerade vorhin, borgt sich der Nachbar vom 1. Stock Basilikum aus unserem Garten. Er sagt: «Es ist jedes Mal das gleiche.» Im Januar stehen Wahlen an für die Regierenden. Jetzt, zwei Monate vor den Wahlen, wischen sie mit einem kleinen, gut kontrollierbaren Krieg sämtliche nicht-kontrollierbaren, unangenehmen, aber für die Leute hier essenziellen Polit-Themen vom Tisch. Von wegen sozialer Gerechtigkeit. Der Nachbar hat eine linke Freundin.

Die Palästinenser fürchten einen neuen Krieg. Natürlich! Wer nicht! Gestern Abend sitzen wir mit einem Arbeitskollegen meiner Frau am Tisch. Er erzählt, dass er nächste Woche für den jährlichen Armee-Dienst aufgeboten wurde. Ich wollte ihn noch fragen, was er macht in der Armee. Dann dachte ich: das ist eine Touristenfrage. Heute würde ich ihn fragen. Ich hoffe, er muss nicht nach Gaza. Genau wie die Palästinenser: Die Israelis fürchten einen neuen Krieg.

Schlagzeile auf Spiegel Online am Abend des 14. November

Vor einem Jahr haben mich solche Scharfmacher-Texte in der Jerusalem Post noch berührt und beunruhigt:

“On Iran, the thing to fear might be fear itself – Overconfidence should be avoided, but an army is useless if you’re afraid to use it.”

“Bezüglich Iran: Furcht ist, was wir fürchten müssen – Überzogene Selbstsicherheit sollte vermieden werden. Aber eine Armee ist nutzlos, wenn man sie nicht einsetzt.”

Was will der Kommentator sagen: Wer eine gute (will nicht sagen: die beste) Armee hat, sollte gefälligst auch Krieg führen? Wer nicht in den Krieg zieht, kann den Krieg nicht gewinnen? Dass Israel bitte nicht aus Angst vor Krieg einen Krieg vermeiden sollte? Ihr seid alles Memmen, ich habe den Grössten?

Heute ringt mir das ständige Säbelrasseln ein etwas trauriges Lächeln ab. Zuviel wird hier gelärmt, gedroht, gezetert … man gewöhnt sich daran wie an den Autobahnlärm im Schlafzimmer.

A propos: Verteidigungsminister Ehud Barak hat gestern in einem Interview den Krieg mit dem Iran auf nächsten Sommer verschoben. Nach den Wahlen. Iran habe offenbar beschlossen, mit dem Bau der Atombombe noch ein Weilchen zuzuwarten. Also brauche man jetzt nicht sofort einen Krieg. Aber nächsten Sommer könnte es dann sein …

Lifestyle-Themen kommen in den (englischsprachigen) israelischen Medien eher wenig vor. Diese Nachricht sticht heraus aus der rechts-konservativen JPost: ‘Vier Golfstaaten unter den fettesten 10 Nationen der Welt’ lautet die Schlagzeile.

Die Kuwaitis sind beinahe so fett wie die US-Amerikaner, zitiert die JPost eine Studie. – Genüsslich? Schadenfreudig über das peinliche Ranking der arabischen Staaten? Vielleicht. – Fasten im Ramadan macht dick, steht da (ab 20. Juli ist es wieder soweit). Qatar, die Emirate und Bahrain sind ebenfalls in den Top10.

Die Jerusalem Post – die Zeitung gibt’s nur auf Englisch, Zielpublikum jüdische Leser in USA – hat eine “Vorwärts”-Dynamik in den Texten, wo ich beim Lesen oft denke: irgendwie so geht Propaganda-Journalismus. Die Themenauswahl und der Tonfall der Berichterstattung vermitteln ständigen Kriegszustand und mehr oder weniger subtile Aggressionsbereitschaft.

Mir ist das Blatt aber lieb geworden über die letzten Monate. Lieber als die klassisch linke englischsprachige Haaretz, die eher den Europäern gefallen will, scheint es, die mir in ihrer ideologischen Ausrichtung verdächtig geschliffen daherkommt. Ich kann’s nicht abwarten, endlich echte israelische, hebräische Zeitungen zu lesen.

Jerusalem Post: Four Gulf states amongst the world’s 10 fattest