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Grüezi

Im Kopf sind wir schon länger unterwegs. Wir müssen unser Haus hier sowieso verlassen, wo wir drei Jahre zur Miete wohnten. Die Eigentümer kehren wie geplant zurück aus den USA, und eine passende Bleibe hier zu finden wäre nicht einfach.

Der Krieg hat den Wohnungsmarkt hier im Zentrum weiter angeheizt. Während Corona waren nicht wenige aus der Stadt und ins Grüne geflohen, jetzt geht die Bewegung in die andere Richtung. Nach der Erfahrung vom 7. Oktober, und der drohenden Eskalation mit der Hisbollah im Libanon, will keiner in Grenznähe wohnen. Die grünen Hügelzüge nahe des Libanon haben ihren Reiz verloren. Noch vor etwas mehr als einem Jahr bewunderten wir die coolen Hipster-Burgerläden in einem Kaff an der Grenze, dachten, vielleicht wäre das ja was für uns, um der Dichte hier zu entfliehen, in den Norden ziehen… Zehntausende wurden seither aus diesen Dörfern in Sichtweite zum Libanon evakuiert.

Sind wir auch Flüchtlinge? – Alle hier wollen hören, warum wir in die Schweiz ziehen.

Mit den Leuten auf Arbeit oder unsrer Putzhilfe oder dem Klavierlehrer muss ich weniger navigieren. Am schwierigsten sind die Gespräche mit unseren Freunden an der Schule. Unsere Klasse ist in drei Jahren zusammengewachsen, wir haben zusammen eine Schule aufgebaut und Wochenenden zusammen gecampt, es sind spannende tolle liebevolle Leute, die keine Aufwände scheuen für ihre Kids. Diesen Freunden ins Gesicht zu sagen: Wir tun es für die Kids. Wir möchten unseren Kindern das Land hier ersparen, schaut mal der Hass rundherum, das furchtbare endlose Töten, der Rassismus, die Angst und die Wut, das wollen wir nicht für unsere Kinder.

Ganz langsam sind wir nun auch nicht mehr nur mit dem Kopf sondern auch mit dem Herzen auf dem Weg in die Schweiz. Unterwegs in die Sicherheit – und unterwegs in die Unsicherheit eines neues Lebens. 

‘Ihr nach!’ – Welttag der Frauen 2024 auf einem Poster um die Ecke von unserem Zuhause.

Um die Ecke von unserem Büro in Süd-Tel Aviv hat ein Kaffee aufgemacht, parterre in einem Hostel, an einer 4-spurigen Strasse. Ein karger Raum mit hoher Decke und rohen Betonwänden, vorher wird es eine Autowerkstatt oder Klempnerei gewesen sein, wie die meisten Läden hier im Kiez, noch. Der Vibe ist New York in den 90ern, Berlin in den 00er Jahren, roh, grossstädtisch. Ich wollte immer mal nach Buenos Aires, und als mir der langhaarige grauhaarige Barista heute Morgen den Kaffee im Glas zum Tisch bringt, denke ich plötzlich: genau so stelle ich mir ein Hostel in Buenos Aires vor. Gute Musik, gute Grafik, guter Kaffee und dicke Sandwiches im Schaukasten am Tresen. Eklektische Einrichtung und in einer Ecke eine Kleiderstange mit Graffiti-T-Shirts. Freundliches Personal, einige spannend aussehende Leute, die hinter ihren Macbooks hocken und innerlich mitwippen zur coolen Musik. Alles in dem Raum atmet Möglichkeiten. Alles wäre auch anders möglich. Und wenn ich in dem Kaffee sitze, gehöre ich dazu, zur Welt da draussen.

Doch so weltläufig der Laden aufgemacht ist – auch hier verkehren derzeit nur Locals. Das Land ist isoliert. In Tel Aviv sind noch Weltenbürger unterwegs, doch der Krieg schnürt dem Land und langsam auch der Stadt den Atem ab. Es riecht immer weniger nach Welt, und immer mehr nach Enge. Und nach Trauer und Wut. Was wird sein?

Die Weltpolitik fragt: Was ist Israel’s Plan für den ‘Morgen danach’? Wie soll’s nach dem Krieg weitergehen? Die Antwort der Rechtsnationalen Regierung hier: wir machen solange weiter, bis wir alle rundherum plattgemacht haben. Widerspruch gegen diesen Leitgedanken gibt’s nicht, weder im Privaten noch im öffentlich politischen Raum. Nur wenn’s um die Taktik zur Geiselbefreiung geht, gibt’s unterschiedliche Meinungen.

Wir werden einen ‘Morgen danach’ hier nicht mehr erleben. Ein echter ‘Morgen danach’, ein Tag nach dem Konflikt, ist überhaupt kaum vorstellbar. Das Rad wird sich auch in absehbarer Zukunft weiterdrehen, Auge um Auge, Krieg und Waffenstillstand und wieder Krieg. So sehr sich die Ereignisse der letzten 6 Monate wegen ihrer offenen Brutalität und Blutrünstigkeit wie eine Zäsur anfühlen, ist es doch nur die logische Fortsetzung der Politik der letzten Jahrzehnte. Die Gewaltfantasien hüben wie drüben waren schon lange offen ausgesprochen. Und so sehr man sich einen Kurswechsel wünschen kann (jetzt erst recht!) – geht es hier nur um Dominanz und Unterwerfung (jetzt erst recht!). Ihr oder wir.

Unser ‘Morgen danach’ wird der erste Morgen in der Schweiz, irgendwann im Sommer. In unserer neuen Wohnung.

Oh, wie werde ich den guten Kaffee und die Weltläufigkeit der Leute in dem Hostel in Süd-Tel Aviv vermissen…