Archive

Krieg

Um die Ecke von unserem Büro in Süd-Tel Aviv hat ein Kaffee aufgemacht, parterre in einem Hostel, an einer 4-spurigen Strasse. Ein karger Raum mit hoher Decke und rohen Betonwänden, vorher wird es eine Autowerkstatt oder Klempnerei gewesen sein, wie die meisten Läden hier im Kiez, noch. Der Vibe ist New York in den 90ern, Berlin in den 00er Jahren, roh, grossstädtisch. Ich wollte immer mal nach Buenos Aires, und als mir der langhaarige grauhaarige Barista heute Morgen den Kaffee im Glas zum Tisch bringt, denke ich plötzlich: genau so stelle ich mir ein Hostel in Buenos Aires vor. Gute Musik, gute Grafik, guter Kaffee und dicke Sandwiches im Schaukasten am Tresen. Eklektische Einrichtung und in einer Ecke eine Kleiderstange mit Graffiti-T-Shirts. Freundliches Personal, einige spannend aussehende Leute, die hinter ihren Macbooks hocken und innerlich mitwippen zur coolen Musik. Alles in dem Raum atmet Möglichkeiten. Alles wäre auch anders möglich. Und wenn ich in dem Kaffee sitze, gehöre ich dazu, zur Welt da draussen.

Doch so weltläufig der Laden aufgemacht ist – auch hier verkehren derzeit nur Locals. Das Land ist isoliert. In Tel Aviv sind noch Weltenbürger unterwegs, doch der Krieg schnürt dem Land und langsam auch der Stadt den Atem ab. Es riecht immer weniger nach Welt, und immer mehr nach Enge. Und nach Trauer und Wut. Was wird sein?

Die Weltpolitik fragt: Was ist Israel’s Plan für den ‘Morgen danach’? Wie soll’s nach dem Krieg weitergehen? Die Antwort der Rechtsnationalen Regierung hier: wir machen solange weiter, bis wir alle rundherum plattgemacht haben. Widerspruch gegen diesen Leitgedanken gibt’s nicht, weder im Privaten noch im öffentlich politischen Raum. Nur wenn’s um die Taktik zur Geiselbefreiung geht, gibt’s unterschiedliche Meinungen.

Wir werden einen ‘Morgen danach’ hier nicht mehr erleben. Ein echter ‘Morgen danach’, ein Tag nach dem Konflikt, ist überhaupt kaum vorstellbar. Das Rad wird sich auch in absehbarer Zukunft weiterdrehen, Auge um Auge, Krieg und Waffenstillstand und wieder Krieg. So sehr sich die Ereignisse der letzten 6 Monate wegen ihrer offenen Brutalität und Blutrünstigkeit wie eine Zäsur anfühlen, ist es doch nur die logische Fortsetzung der Politik der letzten Jahrzehnte. Die Gewaltfantasien hüben wie drüben waren schon lange offen ausgesprochen. Und so sehr man sich einen Kurswechsel wünschen kann (jetzt erst recht!) – geht es hier nur um Dominanz und Unterwerfung (jetzt erst recht!). Ihr oder wir.

Unser ‘Morgen danach’ wird der erste Morgen in der Schweiz, irgendwann im Sommer. In unserer neuen Wohnung.

Oh, wie werde ich den guten Kaffee und die Weltläufigkeit der Leute in dem Hostel in Süd-Tel Aviv vermissen…

Zuerst kam die Nachricht, dass Biden seinen Wochenend-Urlaub abbricht, um mit seinen Generälen ‘Iran-Israel’ zu beraten. 

Dann sagten sie hier im ganzen Land die Schule ab für den nächsten Tag. Das ist in etwa die deutlichste Ansage, dass ein ausserordentlicher Angriff kommt. Denn das Land steht zu einem guten Teil still, ohne Schule und Kinderbetreuung. 

Andererseits, für uns war es eine symbolische Ansage. Der Sonntag war der erste Tag der Frühlingsferien in unserer Schule. 

Man sei vorbereitet auf eine Attacke aus dem Iran, sagte Bibi. 

Gutenachtgeschichte mit den Kids.

Und dann um 23Uhr die Meldung: die Drohnen sind in Iran gestartet. 

Jordanien und andere Länder in der Region schlossen ihren Luftraum. 

Erst war von Dutzenden Drohnen die Rede, dann von Hunderten.

Wir waren alle schon im Bett. Ich war noch wach, G und die Kids schliefen schon. 

Dann starteten Raketen im Iran.

Dann kamen besorgte Whatsapp-Nachrichten von Freunden aus Europa.

Einige Stunden sollte es dauern, bis die Drohnen und Raketen hier sein würden. 

Sollte ich alle schlafen lassen, und hoffen, dass es ruhig bleibt? 

Das ist tatsächlich, was nicht Wenige in unserem Freundeskreis machten. Wenn’s dann Alarm geben sollte, hört man’s ja… Wer wartet schon gerne Stundenlang in der Nacht auf Raketen aus dem Iran.

Um die Zeit sinnvoll zu nutzen richtete ich mit unseren Campingmatten im Schutzraum Betten ein, legte Decken aus, stellte einige Liter Trinkwasser und Petit Beurre und Taschenlampen bereit. 

Draussen war es ruhig, hin und wieder donnerte in grosser Höhe ein Flugzeug über uns weg. 

Ich prüfte Verfügbarkeit und Preise für Flüge nach Zürich. Für die nächsten zwei drei Tage war nur noch Businessklasse verfügbar.

Die Regierung meldete, im Süden des Landes solle man sich in der Nähe von Schutzräumen aufhalten. Wir leben nicht im Süden.

Ich weckte G, und wir beschlossen, die Kids schlafend nach unten in die improvisierten Betten zu bringen, solange es am Nachthimmel noch schön ruhig war. 

Es schien schwer vorstellbar, dass bei hunderten Drohnen und Raketen kein Luftalarm ausgelöst würde. 

Botschaftspersonal wurde schon Tage zuvor angehalten, in den Städten zu verbleiben.

Was mir entgangen war, lost in Translation: dass die Iraner wohl ihre Ziele vorher angekündigt hatten. Dass man wusste, die Raketen und Drohnen würden nicht auf Ballungszentren zielen, sondern hauptsächlich auf eine abgelegene Luftwaffenbasis in der Wüste im Süden. 

So blieb es ruhig und wir schliefen im Keller.

Am Morgen herrschte wieder Normalbetrieb.

So geht Normal hier.

Jeden Morgen beim ersten Blick aufs Telefon, wartet die Schlagzeile 2, 3, 4 israelische Soldaten am Vortag getötet, die Namen der Männer werden veröffentlicht, die Gesichter, jüngere, ältere. Dazu kommen die Meldungen der Hamas von manchmal dutzenden, manchmal hunderten Toten.

Die Geisel-Übergaben wurden live im TV übertragen, auch wenn es kaum etwas zu sehen gab. Mit den üblichen Kommentatoren und Talking Heads in Studios und im Feld, die immer in Kriegszeiten mit stundenlangen Pseudo-Dialogen und Sermonen den Morgen, den Abend, und ganze Tage füllen.

Als ‘Lichtblick’ wurden die Momente der Geisel-Befreiung von vielen bezeichnet.

Diese ‘News’ dienen weniger der Information, als es ein galvanisierendes Bad der Massen ist, um Einheit zu schaffen, die Diskussionspunkte zu setzen, und letztlich um die Unterstützung für die Kriegspolitik wieder und wieder zu verstärken.

Schon unmittelbar nach dem 7. Oktober wurde das ganze Land überzogen mit Plakatwänden mit dem schlüpfrigen Motto: ‘Yachad nenatzeach – Zusammen gewinnen wir’. Wer will da was dagegen haben? Und wenn ja, gegen was will man sich auflehnen? Gegen den Teil mit dem ‘gewinnen’ oder den Teil mit dem ‘zusammen’?

Seither haben sich die Meinungen diversifiziert. Es wird auch gegen Krieg protestiert.

Und es wird geklebt, aufs Auto oder aufs Motorrad, die israelische Flagge ist omnipräsent, in Gärten, an Strassenrändern, auf und an Autos.

Dann ein gelb-schwarzer Kleber den ich jetzt öfter sehe: ‘Fuck Hamas – Hapa’am ad ha sof‘ (Fickt die Hamas – diesmal bis zum Ende). Das konsensfähige ‘Fuck Hamas’ wird auf hebräisch ergänzt mit dem politisch heiklen Schlachtruf, bis zum Ende / bis zum Letzten zu gehen.

Auch eine entschärfte Version desselben Klebers habe ich gesehen auf einem Auto, mit dem nach ‘Endsieg’ schreienden zweiten Teil abgeschnitten. Kurz und bündig: ‘Fuck Hamas’.

Auf Motorrädern im Park prangte in den Israel-Farben weiss/blau ein ähnlich angelegter Kleber: ‘Finish Them – Am Israel Chai (Macht sie fertig – Das Volk Israel lebt)’. Diese zweite Zeile ‘Am Israel Chai’ ist eine Affirmation der Holocaust-Überlebenden. Es ist der hoffnungsvolle Blick der Überlebenden in die Zukunft. Dieser Satz der Hoffnung gepaart mit dem Ruf nach Blutrache wird zum super-nationalistischen Schlachtruf.

Das andere überlebensgrosse Motto Israels, in gewisser Hinsicht die Maxime Israels schlechthin, das ist: ‘Ich habe kein anderes Land’ (Ein li eretz acheret).

Wir vier – wir haben ein anderes Land.

Eggs Benedict gab ich mir zum Geburtstag, Brioche drauf feinster Lachs unter pochiertem Ei und sämiger Sauce Hollandaise, in einer Ganztags-Frühstücks-Bar an der Dizengoff, begleitet von Kir Royale und einem Geburtstags-Shot Campari-Gin, offeriert von einer jungen typisch unprofessionell aber sperrig-charmanten Tel Avivi Waitress, und ihrem Barman, nachdem wir eine halbe Stunde auf der Strasse draussen in der warmen Novembersonne auf einen freien Tisch gewartet hatten (an einem gewöhnlichen Donnerstag um 11 Uhr Morgens!).

An der Dizengoffstrasse da sitzen jetzt auf vielen Parkbänken dicke Teddybären in Menschengrösse, mit blutigen Einschuss- und schwarzen Brand-Löchern im nussbraunen Fell.

Dazu ist der Dizengoff-Platz in Sichtdistanz von unserem Geburtstags-Cafe ein grosses Mahnmal, den Opfern der Hamas und den Geiseln gewidmet, mit Fotos ausgelegt, Kerzen, Erinnerungsstücken. Wer die letzten Wochen ferngesehen hat, erkennt viele der Gesichter auf den Fotos wieder, und erinnert die Geschichten dazu. G erzählt mir die Geschichte eines jungen Paars, deren Fotos da liegen, dass die beiden, Eltern von zwei Babies, in ihrem Haus erschossen wurden. Nachdem sie die Eltern getötet hatten, machten es sich die Hamasniks bequem in dem Haus, und jeder und jede, die der nach den schreienden Babies schauen wollte, wurde auf der Türschwelle erschossen. Ein gut meinender Helfer nach dem anderen. Die Kleinkinder überlebten.

In unserer kleinen Frühstücks-Bar war die Stimmung gelöst, der Laden draussen, drinnen und an der Bar voll besetzt, bis beim zweiten Kaffee plötzlich kontrollierte Eile ausbrach, alle im Lokal aufstanden, Raketenalarm, um sich im Eingang des Hotels nebenan einzufinden, im ‘Safe Space’.

Es donnerte am Himmel über uns, so laut wie schon lange nicht mehr.

Unsere Buben hatten in Kindergarten und Schule zum ersten Mal überhaupt auch Alarm.

So machten wir uns gleich auf den Weg, um sie abzuholen.

Die beiden waren nicht weiter beunruhigt, wobei der ältere den Geburtstagskuchen mit Kerzenausblasen zuhause am selben Nachmittag fiebrig und müde verschlief… Kriegskrank? Oder wars doch nur ein Virus?

Was man sicher weiss: es könnte alles noch viel schlimmer sein.

Der Plastik-Weihnachtsbaum zuhause steht – frohe Weihnachten!

Dienstag. Heute früh hatte es kaum Verkehr unterwegs zur Schule. G und ich fragen uns: Ist’s wegen dem angesagten Regen heute? Ist’s wegen dem Krieg (bleiben Leute zuhause, weil gestern ein Raketenteil in Tel Aviv runtergekommen ist)? Oder ist’s wegen der Feiertage (morgen beginnt Hanukah)? Oder waren wir einfach etwas früher dran, und alle anderen sind etwas später aufgestanden als üblich..?

Alltag.

In unserer Ecke in Israel blieb es auch nach Ende der Feuerpause ruhig. Wir sind eine gute Woche zurück aus der Schweiz, und wir hatten bisher keinen einzigen Raketenalarm.
Die Schule findet auch wieder beinahe im Normalbetrieb statt.
Im Büro geht’s sowieso nicht um Krise, sondern um unsere Präsenz am COP28 Umweltgipfel in Dubai, und um die Planung für 2024. Dubai übrigens ist wieder im normalen Flugplan, anders als Zürich: da fliegt nur El Al hin, weil die grossen Gesellschaften aus dem Westen, auch Lufthansa und mit ihr die Swiss, Tel Aviv weiterhin nicht bedienen.

Freitag. Während Gaza jetzt fein säuberlich plattgemacht wird, können wir wieder in Ruhe unserem Leben nachgehen.

Die Nachrichten von der Front beschränken sich vorwiegend auf Zahlen (und Namen) von Toten hüben wie drüben. Wie man das verdaut und wie nahe das einem geht, ist von vielem abhängig. Heute hörten wir den ganzen Morgen Helikopter kommen und gehen. Es stellte sich heraus, dass die ganze Nomenklatura zu einer Beerdigung hier in unserer Nachbarschaft eingeflogen wurde. Der Sohn eines der israelischen Generäle war am Vortag in Gaza gefallen. Das weckt wieder das Gefühl dafür, wie klein das Land ist, und wie unmittelbar wir von Krieg (und Kriegspolitik) betroffen sind, auch wenn sich der Bombenhagel weiter südlich gut ausblenden lässt.

Alltag?

Mittwoch. Hin und wieder bricht der Krieg ein in unsere Bubble.

Wenn unser Grosser heute Abend nach der Schule eine “Stadt im Untergrund” zeichnet, mit Strichmännchen die hochsteigen aus der Tiefe der Erde mit ihrer Gun, und anderen Strichmännchen oben in den Häusern auf der Wiese in den Hintern schiessen, oder die unten in ihren Untergrund-Häusern furzen, und denen oben stinkt’s – hat das nun mit Hamas-Tunneln zu tun und einem frühen Kriegs-Trauma? Oder wie viel davon ist der Zwergenwelt der Schule und seiner Fantasie geschuldet? Was hat er gehört? Was weiss er, und was bildet er sich ein?

Oder der Krieg bricht ein, wenn gestern in unserer Schule zur Feier von Hanukkah alle Familien der Klasse zusammenkommen, und ich frage den einen Vater, ob sie auch im Ausland waren – und er antwortet, er ist seit 2 Monaten alleinerziehender Vater, weil seine Frau im Krieg ist.

Auch wenn der junge Nachwuchs-Meerresbiologe-Hippie ins Büro reinschneit, und sich zurückmeldet mit kurzer Umarmung für alle, nächste Woche ist er wieder auf der Luftwaffen-Basis, um Raketen aus US-Fliegern aus- und in israelische Kampfjets einzuladen…

Alltag?

Sonntag. Als wir schon im Bett liegen, rumpelt es am Himmel über uns, wie bei einem Gewitter. – Ein Blick auf’s Telefon bestätigt: Tel Aviv hat Alarm, und wir hören den Donner der Abfang-Raketen.

Montag. Am Morgen dann, wenn wir zum Frühstück in die Küche kommen, tollen unsere beiden jungen Katzen vor der Haustür in der Sonne, und betteln um Futter…

Als wir heute von der Schule heimfahren und in unsere Strasse einbiegen, stehen vor dem einen Kindergarten den’s dort hat zwei riesige geile aufgerichtete Pneukräne. Ein blauer und ein gelber. 

Die beiden Monster sind leider wieder weg, als wir (ich mit den Buben) etwas später per Velo vorbeipedalen.

Dafür steht jetzt neu dort wo hinter einer dichten grünen Hecke die Kindergartenkinder spielen, ein gigantischer 3 oder 4 Meter hoher, weisser Betonklotz mit Stahltür. 

Der Betonblock ruft fröhlich: Willkommen zurück im Kindergarten, Kinder! Endlich könnt ihr wieder unbeschwert den ganzen Tag spielen, denn ihr habt jetzt einen Schutzraum.

Ein mobiler Schutzraum. Dafür gibt’s sogar ein Wort in Hebräisch: Migunit.

Vermutlich stand der (private) Kindergarten seit dem 7. Oktober leer, da die Anforderungen in Sachen Schutz bei Raketenangriffen nicht erfüllt wurden.

So war’s bei unserem Kindergarten ja auch. Wobei den unsrigen haben sie kurzerhand in ein leerstehendes Haus gezügelt, das mehr schlecht als recht als Kindergarten taugt, im Wohnzimmer hängen noch die 80er-Jahre Glaskugel-Deckenleuchten.

Der Schulunterricht unseres älteren Sohnes findet vorübergehend in einem angemieteten Raum an der Uni statt.
Lieber ein Provisorium, als gar keine Schule.
Unser ganzes Leben fühlt sich an wie ein Provisorium.
Wie lange sind wir noch hier?

Der Kleine (4) fragte neulich in der Badewanne in unserer temporären Wohnung in Zürich aus heiterem Himmel: “Ima, wegen dem Krieg zuhause … wer hat eigentlich gewonnen?”

Es ist wahnsinnig schwierig zu akzeptieren, dass wir keine Zukunft haben in Israel, dass wir unser Leben nicht einfach weiterleben können.

Unser Haus steht noch. 
Unsere Freunde sind – wieder – in Israel, die meisten jedenfalls. (Zwei Familien unserer kleinen Schule sind Hals über Kopf ausgewandert.)
Unsere Familie – die Familie von G – ist hier. Ihre Grosseltern und Urgrosseltern haben das Land mit aufgebaut. (Die Schwester hatte schon Jahre vor, mit Mann und Kind nach Kanada zu ziehen, jetzt haben sie die Reissleine gezogen und sind auf und davon.)
Unsere Schule und unsere Arbeit sind in Israel, genau wie vor dem 7. Oktober.

Und trotzdem sagen wir jetzt, wir können hier nicht mehr leben? 

“Was hat sich denn verändert, dass ihr plötzlich weg wollt..?” – hat mich natürlich niemand in der Schweiz gefragt. Obwohl es keine dumme Frage wäre: Die Grosswetterlage ist unverändert. Die politische Krise ist schon älter als der 7. Oktober. Die Bedrohung ausgehend von Iran und seinen Proxys wurde jahrzehntelang beschrieben.

“Wir haben’s ja immer gesagt…” – Auch diesen Satz habe ich erstaunlicherweise nie gehört jetzt, in diesem Monat in der Schweiz. Man wusste ja was kommt! Rechts wie Links.

Heute haben die Linken endlich die Bestätigung dafür, was sie Jahrzehntelang gepredigt haben: seht ihr, man kann kein Volk dauerhaft unterdrücken, ohne dass es irgendwann den Deckel lupft. 

Und die Rechten haben endlich den lang erwarteten Freibrief, Gaza plattzumachen. Denn “die in Gaza” haben auch dem letzten Brüsseler Schönredner ihre un-menschlichkeit beweisen. (Nach meinem Erleben hegte eine grosse Mehrheit in Israel schon vor dem 7. Oktober Rachegefühle unterschiedlicher Schattierung.)

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sowas passiert – was hat sich nun also am 7. Oktober für uns geändert?

Die Tatsache, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es wieder knallt. Auf verbrannter Erde aufzuwachsen, und in blutgetränktem Boden Wurzeln zu schlagen ist nicht, was wir für unsere Kinder im Sinn haben.

Trotzdem – erstmal fliegen wir zurück, denn wir leben in Israel.
Noch leben wir in Israel.

Tränen der Erleichterung kommen erst, als die Häuser kleiner werden und kleiner, nach einem eigentlichen Raketenstart in Ben Gurion mit vollem Schub und maximaler Steigung bis in die Stratosphäre, wir steigen immer weiter, beinahe senkrecht hoch in den Himmel.

Es folgt kein ‘Willkommen an Bord, ich hoffe Sie fühlen sich wohl bei uns…’ sondern eine Durchsage des Kapitäns: ‘Das ist El Al, wir bringen Sie auch im Krieg sicher an Ihr Ziel und wieder nach Hause.’

Dann ziehen wir Schleifen über dem nördlichen Israel, wohl eine Art Warteraum an der breitesten Stelle des Landes, bevor der Pilot wieder mit voller Schubkraft und in Schlangenlinie raus aufs offene Meer düst. Spätestens in dem Moment fühlt es sich an wie eine Flucht, ein ‘Getaway’.

Nachdem ich die Tickets gebucht hatte, Zürich-einfach, waren mir 2 Tage in Israel geblieben. Im Büro hielten wir am einen Tag einen Lunch für alle Zurückgebliebenen ab, wir hatten zu dem Zeitpunkt einige Leute im Ausland und wenige im Krieg. Es wurden bei Hummus am grossen Sitzungstisch schreckliche Geschichten vom 7. Oktober geteilt, makabere Witze gemacht, und bange in die Zukunft geschaut.

In den 12 Jahren in Israel hatte ich mich keine Sekunde als Israeli gefühlt. Doch noch nie hatte ich mich so als Aussenseiter gefühlt wie bei diesem Mittagessen, wohl wissend, dass ich in weniger als 24 Stunden in der Schweiz landen würde.

Unsere Buben sprangen freudig aufgeregt hoch und runter, als wir ihnen eröffneten: Schule wird demnächst nicht, also lasst uns morgen in die Ferien zu Grosi fahren.

Dann war bis zum Abflug kein Raketenalarm mehr, was die ganze Sache noch surrealer machte. An einem ruhigen Tag in Tel Aviv ist es kaum vorstellbar, das Land könnte in einem ausgewachsenen Krieg versinken.

Der eigentliche Grund auszureisen waren denn auch nicht die US Flugzeugträger draussen vor unsrem Lieblingsstrand, oder die angeblich 100,000en iranischen Raketen auf der anderen Seite. Es waren die Augen der Mütter und der Väter in unserer Schule. Sechs von 30 Familien unserer Klasse waren bereits ausgereist.

Der unmittelbare, unmitigierbare, unmoderierbare Horror, den die Hamas-Attacken auslösten bei den Menschen in Israel, ist schwierig zu beschreiben, und für Nicht-Israelis nicht nachvollziehbar.

In meiner Wahrnehmung war 7/10 erst vergleichbar mit 9/11, ein Attentat, einmalig in seiner furchtbaren Dimension. Alle, die wir alt genug sind, erinnern uns wo wir waren, als wir auf CNN live sahen wie das zweite Flugzeug ins World Trade Center krachte. Die einen sassen zuhause im Wohnzimmer vor dem TV, andere in einer Bar, an der Uni…

Israelis sassen um 6:30 am Morgen des 7. Oktober nicht vor dem TV, sondern waren alle Ziel und direkte Opfer des Anschlags. Die Sirenen für Raketenalarm weckten das Land, für Stunden war die Lage unklar, auf Twitter sah man bald die Tötungskommandos der Hamas in einer Stadt, eine Autostunde entfernt von unserem Zuhause, wie sie willkürlich Menschen an Bushaltestellen und in Autos hinrichteten.

Als das Ausmass des Terrors in den Stunden und Tagen danach bekannt wurde, brach das Selbstverständnis Israels komplett in sich zusammen. Der Glaube an die Überlegenheit der Armee, der Sicherheitsdienste, hat etwas religiöses in Israel, es ist nicht verhandelbar. Leben in Israel ist nur möglich in dem totalen Vertrauen in die Überlegenheit. Und dieses Vertrauen kommt auch daher, dass die de-humanisierten Palästinenser (und die Hamas) als minderwertig angesehen werden. Dass Israel derart spektakulär ausmanövriert wurde, erschüttert tiefstes Vertrauen in die Ordnung der Welt, und viele Israelis schlafen seither nicht mehr.

Das “Zusammen sind wir stark” funktionierte in den Tagen danach – doch dieses “Zusammen” hat tiefe Risse, und ich sehe nicht, wie Israel aus dieser Krise herausfinden wird.

Darum sind wir in der Schweiz.

Jeder in Israel kennt jemanden, der getötet, gefangen, oder um ein Haar davongekommen ist, weil der Schutzraum abschliessbar war, weil er in die richtige Himmelsrichtung flüchtete, weil …

In unserem Haus wohnt ab heute die Schwester unserer guten Freunde, die mit Mann und Kindern 14 Stunden in ihrem Schutzraum in einem der geplünderten Kibbutzim ausharrten. Ihr Haus würde geplündert von Hamas – sie überlebten.

Es brauchte auch nach der Ankunft in Zürich noch einige Tage, zu Sinnen zu kommen. Doch dann war umso mehr klar, es war richtig herzukommen.

Unsere Entscheidung war gemacht: die Buben vor dem geteilten Horror in Sicherheit zu bringen.

Seither fühle ich mich, als hätte ich das falsche Hölzchen bei Jenga rausgezogen. Wir waren doch dran, unser Leben zu bauen! Und es lief gut!! Und jetzt steh’ ich da mit diesem Hölzchen fest in der Hand, und der Turm schwankt bedrohlich – und ich muss es doch wieder oben drauflegen, irgendwie. 

Ende Woche 2 stellen wir uns nicht mehr die Frage ‘ob’ wir ausreisen sollen. Sondern ‘wann’.

Die erste Woche war klar für mich: wir können nicht weg, weil Ärzte nicht ausreisen dürfen. Die Familie zu trennen schien mir problematischer, als hierzubleiben und abzuwarten. Wir haben’s hier in unserer Ecke von Israel weiterhin privilegiert, ein, zwei Mal am Tag hören wir aus der Ferne wie Raketen aus Gaza mit grossem Donner abgefangen werden, sonst ist Ruhe.

Die Kids geniessen die Zeit zuhause, und die letzten 10 Tage allein waren’s Wert dass wir in die Suburbs umzogen: Viel Platz zuhause, der Garten, die Ruhe hier, das wäre alles anders jetzt in Tel Aviv. Der Schutzraum ist ein Fortsatz des grossen Spielzimmers im Keller, wir haben ihn mit Camping-Matten ausgelegt und Spiele liegen bereit.

Doch die Zeichen stehen auf Krieg, die Schule fällt seit zwei Wochen aus und eine Rückkehr ist nicht abzusehen, auch weil unser junges improvisiertes Schulhaus Marke Eigenbau keinen Schutzraum hat.

Auch wenn wir in die Runde schauen leben wir ein Märchen hier: Nicht wenige der Familien in unserer Schulklasse haben einen Elternteil, der zum Krieg aufgeboten wurde. Einer Familie in der Klasse ist eine Rakete vors Haus gefallen, ihre Wohnzimmerfenster barsten, glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Und zwei, drei Familien sind mit den Kindern bereits ausgereist.

Es mehren sich die Zeichen, dass die Eskalation nicht zu verhindern sein wird. Nicht von Biden, nicht von Sunak, nicht von Scholz – und die Reihe hoher ausländischer Staatsgäste reisst nicht ab.

Immerhin werden hier jetzt auch Stimmen laut, die eine vorsichtige Herangehensweise verlangen. Aber die 350,000 Israelis sind mobilisiert, die Amerikaner stehen Gewehr bei Fuss.

Am schwersten wiegt wohl: Die Rechten in Israel’s Regierung verlangen schon seit Jahrzehnten die Umkehrung von Oslo und Einmarsch in Gaza, um den Terror ‘ein für alle Mal’ abzustellen*. Die Gelegenheit, die sich ihnen jetzt bietet, ist einmalig. Hamas hat mit ihrer Attacke erwirkt, dass die USA unbedingte Unterstützung für eine blutige Militäraktion Israels verspricht.

Diese Unterstützung für kompromisslose Gewalt gegen Hamas, und eine limitierte Bereitschaft zivile Opfer zu akzeptieren, die wird es nicht noch einmal geben – und die Rechten hier wissen das und werden sich das nicht entgehen lassen. Das Furchteinflössende daran: Hamas und Iran wussten das und haben es darauf angelegt. Bedeutet das, dass sich die Iraner bereit fühlen, Israel ‘ein für alle Mal’ abzustellen? Oder ging’s ihnen ‘nur’ darum, einige tausend tote Palästinenser auf den Verhandlungstisch der moderaten Arabischen Länder hier zu legen – um eine Normalisierung mit Israel zu blockieren?

Das Kriegsgeheul der Iraner ist bekannt und ein schlechter Indikator. Die Scharmützel mit Hezbollah bis jetzt sind nicht unbedingt Zeichen der Eskalation, eher Zeichen der Solidarität und des Respekts für Hamas’ Aktionen. Der Aufmarsch der Amerikaner ist eindrücklich. Der Schaden rundum wäre bei einem Eingreifen der Iraner gewaltig…

Doch was bedeutet das für uns? Sind wir zwei, drei Wochen in der Schweiz? Ich alleine mit den Kids?

War’s das für uns hier?

* Zum Thema ‘ein für alle Mal abstellen’ hat Thomas Friedman, Nahost-Kenner und brillianter Schreiber, einen Kommentar geschrieben: https://www.nytimes.com/2023/10/16/opinion/israel-gaza-war.html

Woche 2 nach dem Terroranschlag. Die Buben haben keine Schule, waren ein paar Mal bei Freunden und Grosseltern. G arbeitet Abends, wenn’s geht, ich arbeite Abends wenn ich tagsüber mit den Kindern alleine bin.

Sonntag fuhr ich ins Büro (wenig Verkehr, kein Stau!), was sich gut anfühlt, auch wenn da in Süd-Tel Aviv mehr Raketen kommen als bei uns zuhause im Norden von Tel Aviv, wo wir diese Woche einen einzigen Alarm hatten. Zwischendurch wenn ich arbeite, für einzelne Momente, fühlt sich alles an wie ‘normal’, calls mit Europa und den USA. Aber jedes Gespräch dreht sich dann trotzdem wieder darum wie’s uns allen geht, wie schrecklich alles ist, warum wir nicht in die Schweiz fahren. Auf jeden Fall tut es gut, die Furcht und die Ratlosigkeit ob dem was als nächstes kommt mit den Leuten im Büro zu teilen.

Auf dem Heimweg Sonntag sammelte ich unsere beiden Buben ein. “Wir wollen noch was essen,” rief der Kleine, “McDonalds! Bitte bitte ..” Oktober wird es hier dunkel gegen sechs Uhr.

Die Aussicht, in einem McDonalds einen Raketen-Alarm zu erleben, ist wenig reizvoll. In den fünf, zehn Minuten wo man zusammensteht mit Wildfremden, während’s draussen donnert, können natürlich Freundschaften entstehen, aber meist hängt dann jeder an seinem Telefon, und im dümmsten Fall quatschen die Leute rum, wie man Gaza nun ‘ein für alle Mal abstellen’ muss, und ähnliches – was ich meinen Kindern unbedingt ersparen will.

Der Grosse verwechselt noch immer Gaza mit Asien (hebräisch: Asa und Asia). Nur so können wir hier mit Kindern noch sein.

Noch weniger angenehm als Alarm bei McDonalds ist Alarm im Freien, auf der Strasse. Das kenn’ ich, aber die Kids zum Glück nicht. Wenn’s knallt am Himmel, wenn die Raketen abgefangen werden, ist die Illusion weg, dass Gaza in Asien liegt.

Fünf Minuten später war Dominos der grosse Wunsch. Dieser Tage kriegen die beiden mehr Aufmerksamkeit, mehr Pizza, mehr Schokolade, so landeten wir schliesslich im Pizzaladen bei uns im Quartier, ein Takeaway mit zwei grossen runden Tischen draussen auf dem breiten Gehsteig, unter Bäumen.

Als die Familien-Pizza serviert wird, und ich mir schon Vorwürfe mache, dass ich die Pizza nicht nach Hause mitnehme, wo wir unseren kuschligen Privat-Schutzraum haben, wo ich bange dass die Sirenen losheulen könnten – in dem Moment klatscht Vogelkacke vom Baum runter mitten auf unseren Tisch auf den Serviettenhalter. Die Kids fragen, was das war. Ich sage Ihnen es sei irgendwas aus dem Baum runtergefallen, und guten Appetit.

Das Pizzaessen verläuft dann ereignislos, wir gehen spät zu Bett, denn am nächsten Tag haben wir wieder Kriegsfrei …