“Bis vor drei Wochen fühlte ich mich hier wie im Paradies,” sagte mir eine junge Türkin. Sie erhält in ein paar Wochen die israelische Staatsbürgerschaft. – Sie sei sich aber ihrer Sache jetzt nicht mehr so sicher.
Hatte sie vor dem Krieg nichts von den Palästinensern in Gaza und der Westbank gewusst? Haben die Israelis nicht immer mehr oder weniger offen gesagt, die einzige Lösung sei, Gaza ins Meer zu kippen (natürlich meinten sie das nicht wirklich, sondern sagten das nur, um ihre Hoffnungslosigkeit zu illustrieren)? Hatte die Neu-Israelin geglaubt, absolute militärische Überlegenheit garantiere ausreichend und nachhaltig Sicherheit und Wohlbefinden? War sie überzeugt dass ‘Deckel draufhalten’ auf Dauer gut geht?
Die Raketenalarme sind erst schockierend, dann mühsam, und jetzt nur noch ein kleiner dummer Running Gag in dieser grossen deprimierenden Kriegsrealität um uns herum. Man ist ja nicht unmittelbar gefährdet hier in Tel Aviv. Die Raketen werden abgefangen von der ‘Eisernen Kippa’, wie der Iron Dome auf Hebräisch heisst. (Und bis jetzt wurden hier in Tel Aviv auch alle anderen Versionen von Tod und Untergang made by Hamas abgewendet.) Aber ist es nicht nur eine Frage der Zeit bis es hier in einer Bar oder in einem Bus knallt..?
Die täglich, stündlich steigende Zahl Toter und Verletzter in Gaza drücken einem auf die Brust wie ein Albtraum.
Und das schmerzhafteste (und vielleicht der wahre Schock für die Türkin) ist dass die ganze Leichtigkeit verpufft ist. Israel zeigt ein hässliches Gesicht. Die gefeierte Fassade der Start-up-Nation – Israel als phänomenales High-Tech Center mit dem sexy Schwulenparadies Tel Aviv als Herz und Schrittmacher – diese Kulisse ist erstmal im Theaterhimmel verschwunden.
Israel hat viele zum Teil widersprüchliche Gesichter. Widersprüche stören hier nicht. Das macht Israel oft reizvoll, facettenreich – aber es kann auch Angst machen. Was ist denn das echte Israel?
Ist die so vielgelobte und herumproletete Toleranz der israelischen Gesellschaft gegenüber Schwulen, Transsexuellen etc. nur eine willkommene, regenbogenfarbene Maske vor der hässlichen, rassistischen Fratze eines gnadenlosen Kriegers?
Dieser Tage ist schwer zu glauben, dass Israel wirklich beides ist.
Wo sind all die Menschenfreunde hin..?
“Ich war ja immer links und gegen Krieg, aber …”
So beginnen viele Konversationen mit Israelis dieser Tage. Alle Israelis sagen, dass ihnen die toten palästinensischen Kinder, Frauen und Männer leid tun.
“… aber dieser Krieg muss sein, es ist ein gerechter Krieg.”
“… aber diesmal müssen wir Hamas erledigen.”
“… aber in Syrien töten sie viel mehr Menschen und da sagt keiner was.”
“… aber es gibt keinen anderen Weg.”
Das sagen die Linken.
Nur wenige gehen zu Demos, werden von rechten Hooligans eingeschüchtert – auch physisch bedroht. Bis sie aus Angst und Hoffnungslosigkeit damit aufhören.
Ich höre von Freunden, dass viele junge Israelis scharf drauf sind nach Gaza zu fahren und dort endlich mal auszuteilen, Terroristen zu jagen, abzuknallen, Bomben zu werfen etc. Um die Sache ‘ein für allemal zu erledigen’.
Natürlich haben die Israelis den Terror der Hamas satt. Natürlich ist Israel heute in einer Situation, wo Gewalt als einziges Mittel zur Verteidigung taugt. Doch warum muss das so bleiben? Israelis zeigen auf die Palästinenser. Mit jedem Tag Krieg nimmt der Hass auf beiden Seiten zu.
Uns Europäern wird von den Israelis immer vorgeworfen wir seien naiv, weil wir an Dialog und Frieden glauben. Es sei alles viel komplizierter!
Kompliziert?
Wenn man heute hinhört ist’s ganz einfach: Man muss die Hamas auslöschen.
Eine Freundin (sie ist beruflich hier) verzweifelt: “Ich glaubte immer, die Israelis seien zwar nach aussen oft unfreundlich bis unerträglich, doch ich war bereit, an einen guten Kern zu glauben. – Mit all dem Hass, der jetzt zum Vorschein kommt, habe ich den Glauben verloren. Ich will nur noch weg.”
Ein anderer Freund, seit 6 Jahren hier und auch mit einer Israelin verheiratet: “Ich halte es nicht mehr aus im Büro. Sogar mit meiner Frau streite ich mich, sie liest nur israelische Presse. Die Israelis können nicht akzeptieren, dass ihre Armee und ihre Führung fehlbar ist.”
Wir gestern zuhause, Gabi deprimiert: “Was all diese Ausländer sagen, das gibt mir zu denken. So habe ich Israel noch nie gesehen. Ich zweifle.” Ihre Welt der klaren Fronten hat Schaden genommen.
Es wird spürbar, wie dieser Konflikt das Land auffrisst.
Der Krieg überzieht das ganze Leben mit einer matten Lähmung, einem Dämpfschaum, er vergiftet jede Minute und jede Freude. Wir wachen morgens auf und schauen erstmal bange nach, wie viele Tote es in der Nacht in Gaza gab. Tagsüber zucken wir zusammen wenn draussen jemand die Autotür zuknallt …
Die grosse unausgesprochene Angst ist, dass hier ein Bus oder ein Cafe in die Luft fliegt. Gestern war ein Tag ohne Raketenalarm, aber Abends beim Bier hörten wir plötzlich Explosionen aus der Ferne, als eine Rakete über einem Vorort Tel Avivs abgeschossen wurde.
Die Touristen bleiben aus. Die Stadt ist spürbar leerer und weniger fröhlich. Im Gym flimmert auf den Fernsehern rundum an der Wand die Live-Kriegsberichterstattung (und nicht mehr Fashion TV wie sonst). Die Feier zum 1. August beim Botschafter wurde abgesagt. Die Kollegen im Büro müssen einrücken, ich bin bald der einzige unter 40 auf Arbeit. Über 80’000 Reservisten wurden angeblich aufgeboten. Wer eingezogen wird, beruhigt: Die Reservisten (WK-Soldaten in der Schweiz) würden nur im Norden Israels ungefährdete Posten hüten, so dass die jungen ‘aktiven’ Soldaten, die 19, 20-jährigen in den Krieg ziehen können. Man schicke nicht die Familienväter, sondern die jungen, heissblütigen, pubertären Kämpfer nach Gaza.
Wir tun was gegen den Krieg
Und dann gibt’s noch die Momente des schlechten Gewissens: Wir tun nichts. Wir könnten ja immerhin demonstrieren gehen, entweder mit den Judenhassern (Friedensdemo) oder mit den Arabermördern (für den gerechten und nötigen Krieg).
Im Fernsehen zeigen sie auch wie tausende Israelis mit Wagenladungen Schokolade, Rasierklingen, Zigaretten zu den Soldaten im Süden fahren. Oder Israelis, die ihre Gitarre einpacken, um den vor den Toren Gazas wartenden Soldaten ein Ständchen zu bringen.
Was wir gegen den Krieg tun: wir gehen aus, gut essen in der hochklassigen soliden Brasserie am Rabin Platz (leicht besorgt, weil dort auf dem Rabin Platz jeden Abend demonstriert und gegendemonstriert wird). Wir schlürfen Austern während draussen die Leute von der Friedensbewegung Reden halten und Plakate ausrollen.
Wir fahren am Wochenende zum Strand im Norden (leicht besorgt, weil der Strand gleich neben einem arabischen Dorf liegt).
Doch der abgelegene Strand ist ungewöhnlich voll, weil für diesen Tag eine 12-Stündige Feuerpause ausgerufen wurde. Ich bin erleichtert und erfreut. Wie deprimierend wäre das denn, alleine am Strand zu liegen …
Nach Hause in die Türkei könne sie auch nicht zurück, sagte die Türkin. Der Antisemitismus dort sei offen und unerträglich.
Immerhin können wir jederzeit in die Schweiz abhauen.
Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.
Hoffen wir, dass diesmal nach einer echten Lösung gesucht wird.
Natürlich wird dies nicht der letzte Konflikt gewesen sein. Doch der fiese Teufelskreis hin zu immer mehr Hass, Entfremdung und Bitterkeit auf beiden Seiten muss gebrochen werden. Sonst verkommt die ganze positive Energie Tel Avivs wirklich zur Kulisse. Und Kulissen halten nicht für lange.