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Missverständnisse

Ich wurde eingeladen, einen Vortrag zu halten über die kulturellen Unterschiede zwischen Israel und der Schweiz. Der Kontext: Das israelische Management einer israelischen HighTech-Firma versteht die Entscheide ihres Schweizer Mutterkonzerns nicht.

Die Israelis fragen sich: ‘Warum wollen die Schweizer unsere Projekte nicht? Wir haben doch so gute Ideen!’ Israelis haben immer gute Ideen – und sie wollen ihre Ideen umsetzen. Konzepte schreiben, Machbarkeitsstudien? Fehlanzeige. Los! Machen!

Die Aufgabenstellung an mich, wie ich die Einladung zum ‘Cultural Differences’-Workshop als Schweizer verstehe: Kulturelle Unterschiede aufzeigen, Verständnis schaffen für den Anderen und das Andere, interkultureller Dialog …

Als Israeli verstehe ich: Ich soll bitte bitte ein Rezept liefern, wo und wie man beim Schweizer den Hebel ansetzen muss. (Und gerne bestätigen, dass dass die Schweizer langsam und zögerlich sind.)

Am Ende leite ich eine knapp zweistündige Session währendder wir viel über die Eigenheiten beider Länder lachen. Über die korrekten Schweizer und die wilden Israelis.

Mein Lieblingsmoment kommt, als die Manager fragen, wie man denn einem Schweizer eine Meinung entlockt. ‘Was meint der Schweizer, wenn er sagt er hat keine Meinung?’ fragen sie. Ich sage: ‘Möglicherweise hat er keine Meinung.’ Die Israelis denken ich scherze – sie können’s nicht glauben dass jemand ‘keine Meinung’ hat.

Dann wird ein konkretes Projekt angesprochen, was vom Schweizer Hauptsitz nicht genehmigt wird. Da frage ich: ‘Versteht ihr denn, warum die Schweizer das nicht wollten?’ Sie sagen: ‘Ja, es ist ein logischer Entscheid: zu viel Risiko.’

Natürlich will der Israeli trotzdem ran. Es ist nicht so dass er das Risiko nicht sieht – er nimmt es einfach in Kauf.

Der CEO, eine Israelin, sagt gegen Ende: ‘Das hört sich ja an als leben wir im Dschungel!’

Die runde lacht laut – und etwas stolz auch.

“Speck, Schinken und Wurst ist krebserregend”, diese WHO-Meldung macht Schlagzeilen. Die Juden haben’s ja schon immer gewusst, denke ich, die ganzen unkoscheren Schweinereien sind nicht gut für uns. Die Bibel. Die Bibel weiss es eben.

Ausgerechnet in dieser aufgeheizten Stimmung passiert mir das Unverzeihliche: Ich serviere unseren Freunden M und L meine feine selbstgemachte Bolognese. Sie waren schon öfter bei uns zum Essen, auch zum Grill mit Schweizer Würsten und anderen Leckereien.

Die ersten Bissen Bolognese sind gegessen, da sagt M: MMhh das schmeckt aber fein, was hast du da reingemacht?

Ich sage: Rindfleisch …
… und ein bisschen Speck zur Würze.

Er sagt einen Moment lang gar nichts.

Dann lacht seine Frau ihr lautes Lachen.
Und sie ruft: Yes! Yes! Yes! Speck! Schweinefleisch!

Er sagt ruhig: Es musste ja mal soweit kommen.

Sie steht auf und jubelt.

Er ignoriert sie. Sagt: Aber es schmeckt so verdammt gut, ich werde das jetzt essen. Weil Du es bist, und er hebt sein Weinglas in meine Richtung.

Mir wird heiss und kalt gleichzeitig.

Er zu ihr weiter: Aber das ändert gar nichts bei uns zu Hause.
Offenbar will sie auch mal mit Speck – und er ohne.
Sie kocht gerne.

Er tut es ausdrücklich mir zuliebe?

Ich bin gerührt.
Ich schäme mich für meinen Fauxpas. Ich war überzeugt dass er sich nicht um die Koscher-Geschichte schert.

Er isst es für mich. Wenn ich es nicht wäre, dann würde er es nicht essen.
Ist das seine Art zu sagen: Du bist also imfall Schuld?

Ich werde also in der Hölle schmoren.

Oder er?

Wird er in der Hölle schmoren? Ich vermute, er wird entschuldigt, weil er es ja für mich gemacht hat, einen ahnungslosen, gemeinen Christen. Er hat es aus Liebe zu mir gemacht…

Im selben Moment fährt mir die ganze Tragweite dieser Situation ein: Genau darum sollten Juden keine Nicht-Juden heiraten. Genau darum muss Israel rein bleiben, so jüdisch wie möglich. Darum werde ich beim Boarding von El Al Sicherheitsmitarbeitern mit unangenehmen Fragen kleingemacht, das Handgepäck durchsucht, damit ich am liebsten woanders hinfliegen würde.

Meine Frau hätte mit dem richtigen Mann auf den richtigen Weg zurückgefunden!!

Doch wie’s gekommen ist, sitze ich jetzt hier mit aufrichtigen guten Juden am Tisch, füttere sie mit Speck, versorge sie an einem anderen Abend mit Bratwurst und Cervelat (Schweinedarm!).

Und beim Kaffee stelle ich Fragen nach der Menschlichkeit der israelischen Politik.

Meine Anwesenheit hier erodiert das Fundament Israels!

Nach einem Jahr Pause habe ich mich wieder für Hebräisch-Unterricht eingeschrieben. Ich wiederhole die 2. Klasse, Kurs “Bet”. Neulich in Ulpan ging es darum, welche Bücher wir kennen und lieben. Jemand erwähnte Saint Exupéry’s Der kleine Prinz, hebräisch Ha Nasich Ha Katan.

Der Kleine Prinz! Die Lehrerin war happy. Israelis kriegen glänzige Augen, wenn sie an den Kleinen Prinz denken.

Doch dann fragten andere in der Klasse: “Wer ist der kleine Prinz?” Der Uruguayer, der Kanadier, die Kasachin … die Hälfte unserer kleinen Klasse kannte den Kleinen Prinz nicht! Die Lehrerin schien ehrlich geschockt.

Sie wollte nicht glauben, dass jemand den Kleinen Prinz nicht kennt!

Es ist das meist-verkaufte und meist-übersetzte französische Buch (Wikipedia). Ich kenne den Titel von früher, aus dem Französischunterricht … Man sollte meinen, jeder kennt den Prinzen.

Mir schien immer schon, dass die Israelis eine innigere Beziehung zum kleinen Prinzen haben, dass ihnen die Begegnung des Bruchpiloten Saint Exupéry mit dem kleinen blonden Ausserirdischen in der Wüste besonders nahe geht.

Ins aufgeregte Gemurmel der Lehrerin hinein sagte ich in der Klasse: „Israel ist Seinfeld und Petit Prince,“ und erntete einige Lacher damit.

Ich meinte es ernst. Seit ich hier bin begegnen mir immer mal wieder Zitate und Anspielungen auf das Buch oder die TV-Serie. Die beiden Titel gehören hier zur Leitkultur.

Bei der TV-Serie Seinfeld ist alles klar: Jüdischer Humor. Natürlich stehen die Israelis drauf. Aber Saint Exupéry war ja nicht mal jüdisch! Woher kommt diese Liebe zum kleinen Prinzen?

„Ihr Israelis habt so ein Glänzen in den Augen wenn man den Petit Prince erwähnt …“ sagte ich später zu Gabi.

Sie antwortete: „Ein Glänzen in den Augen?” als hätte ich sie an etwas erinnert.

“Es gibt da noch ein Lied,“ sagte sie dann. “In dem Lied stirbt der kleine Prinz, und es geht darum, dass er all das, was der Kleine Prinz erlebt, nicht erleben wird.” Natürlich stirbt der kleine Prinz in Israel nicht an Keuchhusten …

Jonathan Gefen, einer der Überväter der israelischen Popmusik schrieb den Song “Ha Nasich HaKatan” in den 70er-Jahren. Der erste Vers beginnt wie das Buch mit einem kleinen blonden Jungen mitten in der Wüste.

Wie im Buch zeichnet auch der Erzähler im Lied ein Schaf und ein Bäumchen für den Jungen.

Aber im zweiten Vers dreht der Wind: “Der kleine Prinz von Einheit B / Er wird nicht mehr sehen, wie das Schaf die Blume isst / Seine Lilien sind alle dornig / Sein kleines Herz ist kalt wie Eis.”

Und weiter: “Wenn du mal hierherkommen solltest / Wisse, dass er hier mit seinem Fallschirm gelandet ist / Und wie er fiel, das hörte keiner / Denn der Sand ist weich.”

Wenn man dem kleinen blonden Prinz begegne, solle man “unseren Müttern einen Brief schreiben”, und ihre Trauer lindern mit der Nachricht, dass der kleine Prinz von Einheit B zurückgekehrt ist.

Das Lied ist eine fixe Grösse im Liederkanon der jährlichen Gedenkfeiern am Memorial Day, dem Feiertag im Frühling, wo ganz Israel zuhause vor dem Fernseher oder in einer der grossen Trauerfeiern den Toten gedenkt, den Kriegs-Opfern, den Helden, den toten Söhnen und Töchtern …

Der Kleine Prinz in Israel ist also kein Ausserirdischer, sondern ein Fallschirmjäger von Einheit B, gefallen in der Wüste?

Ist die ganze Liebe der Israelis zu Exupérys Geschichte also eine Fata Morgana?

Woran denken sie, wenn sie an den kleinen Prinzen denken?

Ich fand es immer süss, dass die Israelis den Kleinen Prinz ins Herz geschlossen haben. Als wäre er einer der ihren!

Was für eine schreckliche Idee, den Held aus einem Kinderbuch als jungen Soldaten sterben zu lassen. Das ist, als würde man Nils Holgerson’s Gänse von der Luftabwehr abschiessen lassen.

Zu gerne wüsste ich jetzt, wer hier in Israel beim kleinen Prinz an den Ausserirdischen denkt – und wer an den gefallenen blonden Sohn Israels und an seine weinende Mutter … Es ist ein Kriegervolk hier. Nicht mal den Kleinen Prinz verschonen sie.

 

THE LITTLE PRINCE

I met him in the heart of the desert
How pretty the sunset is to a sad heart
I painted him a tree and a ewe on paper
And he promised me he would return

The Little Prince from unit “B”
He no longer will see the ewe that eats the flower
And all of his lillies are thorns now
And his little heart is as cold as ice

And if sometime you arrive here
Know that here he parachuted
And the sound of his fall was never heard
Because of the soft sand

And if a boy should appear there
With laughter in his face and golden hair
Know that is him, and offer him a hand
And wipe the desert sand from his eyes
And then do me one small favor

Write quickly, please, to all of our mothers
To relieve them a little and alleviate their sadness
“The Little Prince has returned to us!”
The Little Prince of unit “B”

He no longer will see the ewe that eats the flower
And all of his lillies are thorns now
And his little heart is as cold as ice.
I met him in the heart of the desert.

Heute trauert Israel um seine gefallenen Soldaten. Als ich das erste Mal dabei war, wie Tausende zur Feier auf dem grossen Rabin-Platz strömten, fehlte mir die Volksfeststimmung, es gibt keinen Grill-Stand von Bell am Strassenrand, keine T-Shirts und Ballone und keine Feldschlösschen Bierzelte. Gabi meinte: „It’s not a celebration!“ Es gilt ernste, fast heilige Trauerpflicht für’s ganze Land. Alles ist geschlossen heute Abend, Läden, Kioske, Bars, Restaurants.

Zur Bekräftigung und Bestätigung dass die gefallenen Soldaten nicht umsonst ihr Leben liessen haute Netanyahu die Schlagzeile raus: „Israel ist die Heimat eines Volkes – der Juden.“ Purer Rassismus.

Ich whatsappte die Schlagzeile an Freunde. „Jude sein ist eine Frage der Einstellung,“ schrieb eine zurück. „Aber ich mag die Schweizer,“ schrieb eine andere.

Die linke Politik schrie auf, man werde keine Einschränkung demokratischer Grundwerte zulassen, Israel sei ganz zuerst eine Demokratie mit gleichen Bürgerrechten für alle und erst dann die Heimat der Juden etc etc.

Und ich sitze in unserem Garten und gegen acht wird es still auf der Strasse, die lauten Dieselbusse fahren nicht mehr.

Leute spazieren die Strasse runter, in Richtung Rabin Platz.

Um 20 Uhr heult die alles betäubende Kriegs-Sirene los, ein langgezogener schriller ton, nicht das auf und ab der Raketenalarme. Alles steht still. Eine Minute lang heult ganz Israel, wer am Tisch sitzt, steht auf, wer im Auto unterwegs ist stoppt, steigt aus. Ich im Garten. Gizmo der Kater miaut.

20 Uhr 01 Autotüren fallen zu. Motoren heulen auf, die paar wenigen Autos und Busse auf der Dizengoff fahren weiter.

Von der Klagemauer mit Staatspräsident und Ehrengarde geht’s via Schaltung ins TV-Studio raus zur Live-Schaltung von der Feier in Rishon Le Zion, eine Stadt südlich von Tel Aviv.

Auch hier in Tel Aviv auf dem Rabin-Platz wird mit Kerzen, Streichern und sehr mittelmässigen Sängern vor Videowänden den Soldaten gedacht. Gespielt werden Lieder, die für Aussenstehende wie mich wie schlechter Heimatpop klingen, die aber für Israelis sentimentale Herzensangelegenheit sind, nicht zuletzt weil sie jedes Jahr an Memorial Day vorgetragen werden.

Auf den Videowänden und zuhause im Fernsehen werden zwischen den Songs und Reden die Porträts gefallener Soldaten und ihre Geschichte in 3:30′ Form vorgestellt: Mama erzählt eine Anekdote, Kinderfotos werden eingeblendet, Papa erzählt eine Geschichte, Fotos, mit Kameraden, mit der Freundin, dann weinen sie und die Streicher setzen ein fürs nächste Lied.

Schnitt ins Publikum zu weinenden schönen Menschen, die ich oder du sein könnten, die alle diese Lieder im Herzen tragen, und die weinen weil sie diesen Soldaten auf der Videowand gekannt haben, oder weil sie einen Bruder, Onkel oder Cousin haben der im Krieg gefallen ist, oder ganz einfach weil alles so traurig ist.

In den USA ist Memorial Day der Tag für BBQs und Shopping. Hier ist es das sehr lebendige Ritual einer Nation in ständiger Kampfbereitschaft. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

memorialday

Memorial Day Zeremonie auf dem Rabin Platz (2012)