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Politics

Ich war heute in Jerusalem, das erste Mal seit Jahren wiedermal, mit M. unserem Kleinen bin ich mit dem Zug hochgefahren, um zumindest ein bisschen zu protestieren gegen die Regierung überhaupt, und im Besonderen gegen die Pläne, die Justiz zu gängeln. 

Der Zug war voll bis unters Dach mit guten Leuten, die DE-MO-KRATIE skandierten, kaum standen wir auf der Rolltreppe im Hauptbahnhof Jerusalem. Und das war gleich mehrfach ermutigend: dass es diese schicken elektrischen Schnellzüge von Tel Aviv nach Jerusalem gibt, voller guter Leute die sich kümmern. 

Nur: unsere Bubble mag voller guter Leute sein, aber es ist eine viel zu kleine Bubble in diesem 10Mio Land (sind’s mittlerweile schon 11Mio?). 

Wie lange noch, bis diese Blase implodiert? Bis das Klima hier uns entweder vertreibt, vergrämt – oder den Geist einfach vernichtet und auslöscht.

Ausserdem fiel mir schon auch auf: Die On-Schuhe-Träger, die heute ‘streikten’ und nicht zur Arbeit gingen, an diesem ‘Tag der nationalen Blockade’ … mal ehrlich: wir arbeiten ja sowieso ein paar Tage die Woche remote, und die Stunde im Zug nach Jlem haben wir genutzt, um am Telefon die wichtigsten Emails zu beantworten, und die fürs Business wichtigen Calls hielten wir dann auch am Abend zu Bürozeiten in den USA ab. Zählt das als Streik?  

Die mir gegenüber gesessen haben auf der Rückfahrt berichteten am Telefon ihren Freunden: ‚Hat’s was gebracht? Keine Ahnung. Wir waren dabei…‘  Dabei sein ist alles. Zählt das als Protest?

So ging es mir ja auch. Nach den ersten Sprech-Chören im Bahnhof wurde es dem Kleinen zu laut. Er mochte dann lieber das Tram probefahren, und … eines gab das andere. Wir landeten nicht in der Masse vor dem Parlament, sondern im Mahne Yehuda-Markt zum leckeren Hummus Mittagessen…

Wird das reichen, um unsere Bubble hier zu retten?

Proteste im Bahnhof Jerusalem, Februar 2023

In Deutschland (insbesondere auf Spiegel Online) wird derzeit eine ehrenwerte Kampagne zur Ent-Glorifizierung von Terror gefahren.

Ein Anschlag nach dem anderen wird auf die suizidalen Tendenzen eines depressiven gemobbten Loser-Teenagers zurückgeführt. Die Spurensuche führt zu Ballergames und fiesen Mitschülern statt zu radikalen Predigern und 6 Mal Beten am Tag. Da ist nix mit Märtyrertod Heldenbegräbnis und dutzenden Jungfrauen im Himmel. Nur todtraurige Eltern kopfschüttelnde Nachbarn und geschockte Mitschüler.

Ich wüsste gerne wie viele der jungen Messer-Auto-Pistolen-Scheren-Schraubenzieher-Attentäter hier in Israel in den letzten 12 Monaten auch eher als depressive suizidale Teenager zu beschreiben waren die nichts mit Religion und Extremismus am Hut hatten. Oder die eher ein Breivik- denn ein Bin Laden-Poster im Schlafzimmer hängen hatten. Deren Wut auf die Gesellschaft und die Welt überhaupt zielte.

In Deutschland wird sogar das Motiv des syrischen Selbstmord-Attentäters – pardon wir wollen keine voreiligen Schlüsse ziehen wir wollen ihn nicht Vorverurteilen also des ‘Jungen Mannes mit Migrations-Hintergrund der inmitten einer Menschenmenge mutwillig einen Sprengkörper im Rucksack zur Explosion brachte’ – sogar sein Motiv wird erstmal gründlich untersucht.

Recht so!! Beim Iran-Deutschen in München der 9 Menschen und sich selbst tötete hatte es ja offenbar nichts mit Islam und Terror zu tun (zuletzt hiess es jetzt sogar er hasste das Immigrantenpack).

Bei der Geschichte mit dem Syrer mit der Rucksackbombe ist ISIS aufgewacht (wahrscheinlich hat ein Kommandeur in irgendeiner Kommandozentrale auch Spiegel Online gelesen und wütend Ausgerufen “Ihr Ungläubigen könnt doch nicht unsere Kämpfer als psychisch labile todtraurige seelische Krüppel zeichnen! Das sind doch Helden!”) Einige Tage nach dem Anschlag gibt es jetzt zwei komplett gegensätzliche Narrative und die Polizei kratzt sich am Kopf: Die Deutschen Behörden sprechen von einem depressiven traumatisierten Flüchtling. Und ISIS verbreitet das Porträt eines eiskalten jungen hasserfüllten Mannes – ein Held – der sein ganzes Leben lang für die Sache kämpfte schliesslich nach Europa einreiste um den Feind im Herz zu treffen. Welche Version stimmt nun? Möglicherweise beide? Kann dieser arme Kerl gleichzeitig traumatisierter Flüchtling und hasserfüllter Kämpfer gewesen sein?

Wahrscheinlich fällt mir diese (manchmal vielleicht sogar übertrieben) differenzierte Berichterstattung auch deshalb auf weil ich als Europäer diese Diskussion hier in Israel über die menschlichen Motive und Ursachen vermisse. Hier heisst’s Terrorist Ist ja klar. Araber. Hassen uns ja eh alle. Und Hamas bedankt sich und sagt ‘Ja er war einer von uns’ und feiert ihn/sie als MärtyrerIn.

So, jetzt hat’s bei uns um die Ecke geknallt. Ein Araber aus dem Norden Israels hat in unserer Strasse um sich geschossen, zwei Menschen getötet, ein Dutzend verletzt, Hunderte traumatisiert. Was für eine abscheuliche Tat.

In einer israelischen Zeitung wunderte man sich, wie der Täter entkommen konnte und warum niemand eingegriffen hat. In Jerusalem hätte sich irgendein Sicherheitsmann/Selbstverteidiger eine Medaille geschossen. Hier auf der Dizengof, unter all den Passanten, hatte offenbar keiner eine Gun im Hosenbund. Dafür liebe ich Tel Aviv. Genau darum leben wir in Tel Aviv.

Doch was ändert sich nun mit diesem Anschlag (Amoklauf?) für mich und für uns?

Ja, wir haben in unserer Wohnung die Krankenwagen, die Polizeisirenen, die Helikopter gehört, und wir haben uns gesorgt, noch bevor die Nachrichten berichteten. Ja, wir sitzen oft in dieser Strasse in Kaffees. Ja, theoretisch hätten wir dort, 10 Minuten Spaziergang die Strasse hinauf, sitzen oder gehen oder stehen können.

Es ist näher. Es ist nicht dasselbe, wie wenn Siedler in der Westbank oder Soldaten in Jerusalem von Arabern erstochen oder überfahren werden.

Kein gutes Zeichen: Unsere Strasse in den Schweizer Nachrichten.

Kein gutes Zeichen: Unsere Strasse in den Schweizer Nachrichten.

G sagt: Was, wenn es unser Stammcafe erwischt hätte..?

Ich sage: Dieser Anschlag ändert gar nichts. Mein Wohlsein oder Unwohlsein hier hat nur in zweiter Linie damit zu tun, an welcher Adresse ein Anschlag passiert. Natürlich, eine Horrorvision wäre, dass wir hier nicht mehr vor die Tür können, ohne um Leib und Leben zu fürchten. Weil es wöchentlich knallt im Stadtzentrum. Aber davon sind wir weit weg. Der israelische Sicherheitsapparat funktioniert zu gut. Und so dramatisch die einzelnen Vorkommnisse sind: es ist kein Volksaufstand. 2 Millionen Araber leben in Israel – ihre Kultur wird diskriminiert und ausgegrenzt, sie haben schlechte Karten in der israelischen Gesellschaft. Aber sie haben fliessend Wasser, Stabilität und Sicherheit. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich hier in der Gegend umschaut. G’s Kosmetikerin kommt ursprünglich aus Gaza, jetzt betreibt sie ein Nagelstudio hier unten auf der Strasse und sagt, sie hätte Jahre gebraucht, um ihren Hass auf Juden abzubauen. Irgendwie hat sie es geschafft, zumindest zwischen den Kulturen zu leben.

Und das ist, was mich viel mehr umtriebt: das Zusammenleben – oder eben leider Gegeneinander-Leben. Das gesellschaftliche Klima hier wird immer und immer toxischer. Möglicherweise, bis es bald nicht mehr auszuhalten ist. Ich höre von manchen, die ihr Leben lang hier waren: ich halte es nicht mehr aus hier. Und sie ziehen weg und eröffnen einen Humus-Laden in Madrid.

Jede neue Gewaltwelle treibt die beiden Völker noch weiter auseinander. Und die, die an der Macht sind, die etwas zu sagen haben, giessen hüben wie drüben Öl ins Feuer. Netanyahu packte auch diese Gelegenheit nun wieder beim Schopf, um bei einem Kurzbesuch am Tatort alle Araber in Israel für den Anschlag mitverantwortlich zu machen.

In der selben Woche verbietet die Regierung – über den Kopf der Bildungskomission hinweg – ein Buch in der Schule, in dem es um die Liebe zwischen einer Jüdin und einem Muslim geht. “Junge Menschen seien naiv und romantisch, sie verstehen das Konzept der Kulturerhaltung noch nicht, man könne sie nicht so verwirren”, liess sich eine Regierungsvertreterin zitieren. Kurz: Schulstoff kann nicht das übergeordnete Konzept der Rassenreinheit unterwandern.

Der Siedlungsbau wird weiter vorangetrieben. Die Zweistaaten-Lösung wird derzeit von niemandem mehr ernsthaft verfolgt oder propagiert…

Anstatt dass man das Zusammenleben lernt und fördert, wird das Auseinanderleben propagiert.

Die Autorin Sibylle Berg hat den Anschlag an der Dizengofstrasse miterlebt, es knallte offenbar unter dem Balkon ihrer Schreibstube hier in Tel Aviv. Sie hat im Affekt eine wehleidige Kolumne für Die Welt geschrieben, in der sie sich von einer eingebildeten heilen Welt verabschiedet.

Berg, die Tel Aviv-Touristin, liess sich von der Offenheit und Weltlichkeit unserer Stadt und ihrer Bewohner verzaubern. Die Realität ist, Tel Aviv ist Teil von Israel. Und Israel ist bis heute gut gefahren mit einer Politik der Unterdrückung und andauernder Demonstration der Stärke gegenüber den Anderen, den Nachbarn. Davon profitiert auch Tel Aviv – darunter leidet auch Tel Aviv.

Was braucht es wohl, um dieses Angst- und Machtgetriebene Gegeneinander-Prinzip zu durchbrechen, dass Israel zu einer neuen Politik findet? Und was braucht es, damit auch die anderen, die Israel hassen, zu einer gemeinsamen Zukunft bereit sind? Ist es schon zu spät dafür? Sitzen wir’s aus? Wird’s erst schlimmer, auf dass es nacher erst recht besser werden kann?

Es ist nicht ein einzelner Anschlag, der mir hier das Leben verleidet. Wenn es mir hier verleidet, ist es wegen der rassistischen Imprägnierung, der Hoffnungslosigkeit und Fantasielosigkeit wenn es ums Zusammenleben mit den anderen, den ‘Cousins’ hier geht.

Heute Nachmittag im Park, wo wir vom Strand zurück nach Hause bummeln, passieren wir nicht nur die Fitness-Gruppen und Yogi-Zirkel, die auf der grünen Wiese Hintern straffen, wir sehen auch ein gutes Dutzend Leute im Kreis unter Anleitung Krav Maga üben, die legendäre israelische Selbstverteidigungstechnik.

Ich sage zu G: ‘Da üben sie Palästinenser töten.’

Sie: ‘Nein, bei Krav Maga geht’s nur um Selbstverteidigung.’

In der Zeitung stand geschrieben: es werden jetzt kostenlose Krav Maga Kurse angeboten. Wegen der “Situation”. Damit sich jeder gegen messerstechende Palästinenser wehren kann.

Eine neue Runde der Gewalt eskaliert, wir haben wieder eine “Situation”. Wie letzten Sommer die Raketen aus Gaza. Diesmal gibt es aber keinen Iron Dome, keinen Schutzschild, keine Sirenen, keine Warnungen, jeder ist auf sich allein gestellt: Palästinenser, meist junge Männer, Teenager, aber auch Frauen, gehen auf der Strasse mit Messern (oder auch einem Schraubenzieher) auf Israelis los und stechen so viele wie möglich ab, bevor sie selbst erschossen werden.

Palästinensische Teenager stürmen so in den (fast) sicheren Tod.
In den Heldentod, der Jungfrauen im Jenseits verspricht, und ewiges Leben als Märtyrer auf Facebook.

Die jungen Araber sind getrieben von ihrer Kultur Juden zu hassen, und Israel vernichten zu wollen. Das sagen die Rechten. – Sie tun es aus Frust und Verzweiflung über die israelische Besatzung, sagen die Linken.

Die israelische Gesellschaft reagiert komplett psychotisch auf diese neue Form des Terrors.

Unter anderem werden die Bedingungen für den Waffenerwerb gelockert.

Waffennarren aus ganz Israel polieren jetzt ihre Schiesseisen, nehmen sich ein paar Tage frei, und pilgern zu den Hotspots – beispielsweise in die Altstadt Jerusalems – in der Hoffnung einen Arber mit Messer abknallen zu können. Helden!

Das ist übertrieben.
Aber so fühlt es sich in etwa an.

Die Diskussion darüber, wer wann schiessen darf, wird geführt, im Fernsehen diskutieren Experten den Abend weg, Politiker profilieren sich zum Thema. Doch auf der Strasse, in der Praxis, scheint es keine Zweifel zu geben: Ein Palästinenser mit Messer gehört abgeknallt. Der will es ja so! Der weiss ja was ihm blüht! Soll er eben nicht mit Messer auf Israelis losgehen. Wie, der Polizist soll noch seine Gesundheit riskieren und sich bemühen ihn festzunehmen? Was denn noch!?!

(Was, nach Rechtsstaat verlangt ihr? Ihr Europäer werdet schon sehen wie das ist, wenn die hunderttausenden syrischen Flüchtlinge in ein paar Monaten mal kurz Luft geholt haben, um dann ihren Hass auf euch zu entladen. Dann unterhalten wir uns wieder. – So tönt’s von vielen Israelis.)

Neulich im Zug: Eine Gruppe Soldatinnen, Mädchen in Uniform, glauben plötzlich, der Araber im Abteil nebenan habe ein Messer. Sie rufen: „Da sitz ein Terrorist!“ Ein Offizier, ein Abteil weiter, springt auf, zögert nicht, zieht seine Pistole und schiesst in die Luft. Das Chaos ist perfekt. Notbremse. Grossaufgebot der Polizei. Der Zug wird evakuiert … falscher Alarm.

Noch so eine traurig groteske Meldung: In der letzten Woche sind zwei Mal Juden mit Messer auf Araber losgegangen. Um Rache zu nehmen. Der eine von ihnen hatte sich aber beim Aussuchen seines Opfers vertan. Er schrie wohl ‘Stirb, Araber!’ und stach zu – es stellte sich heraus, dass er nicht einen Ahmed sondern einen Moshe erwischt hatte, der wie ein Ahmed aussah.

Bekannte von uns betreiben ein Bed and Breakfast am Rande Jerusalems. Letzte Woche waren drei Araber aus einem arabischen Dorf im Norden Israels zu Gast. Die Araber, Zahnärzte die beruflich in Jerusalem zu tun hatten, fragten beim Einchecken: ‘Ist es sicher hier für uns?’ Alle haben Angst.

Das Szenario von letztem Jahr wiederholt sich auf der politischen Bühne: Die Rechten und mit ihnen die Siedler in der Westbank schreien Zetermordio – und lachen sich ins Fäustchen. Denn jetzt können sie sich endlich mal wieder richtig um die Palästinenser in der Westbank kümmern. Dörfer abriegeln, Durchsuchungen, Checkpoints aufbauen … Und man wusste es ja immer schon: seht nur, die Palästinenser sind wie Tiere, sie achten das Leben nicht! Wie soll man mit so jemandem verhandeln!

In wen soll man Hoffnung setzen? In die eine Gesellschaft, wo Teenager mit Messern ausziehen um als mordende Volkshelden zu sterben; oder in die andere Gesellschaft, die ihre Stärke und Überlegenheit rücksichtslos nur zum eigenen Vorteil nutzt … Das Bedrückende ist, dass die Menschlichkeit hüben wie drüben verloren geht. Wer den Anderen nicht mehr als Mensch sieht, macht sich selbst zum Unmenschen.

1 – Unser Nord-Tel Aviv ist schwierig zu fassen.

Nord Tel Aviv ist (unter anderem) ein Spielplatz für Leute, die genauso gut in Europa, Berlin, Zürich, London oder vielleicht sogar so ziemlich überall auf der Welt wohnen könnten.

Nord Tel Avivis wohnen unter anderem hier, weil’s das einzige kleine Fleckchen Land ist im Umfeld von vielen vielen hunderten Kilometern, in dem sich das Leben ein bisschen normal anfühlt.

Natürlich, man lebt hier auch wegen dem nahen Strand, weil die Sonne jahrum scheint, vielleicht weil die Familie hier eine Wohnung besitzt, weil’s Sex-Appeal hat, weil’s mehr knistert als in Europa… Manchmal, wenn ich was getrunken habe, denke ich auch, es ist ein Aussenposten unserer Zivilisation. Das ist auch ein Kick. Als wäre ich auf einem fremden Planeten gelandet. Es ist nicht unbedingt der friedlichste Planet. Aber er hat was zu bieten.

Unser Spielplatz wird toleriert von Rest-Israel. Es macht sich gut nach aussen.

Tatsache ist, unser Leben hier hat praktisch keine Schnittstellen zum Land rundherum, zu Rest-Israel.

Das kann ein Zürcher oder ein Berliner wohl auch über die Schweiz respektive über Deutschland sagen. Nur ist hier in Israel die die Kluft zwischen den beiden Welten viel tiefer – und wenn sich die Verwerfungen zeigen, viel schmerzhafter.

Das Leben im völlig losgelösten Tel Aviv hat schon lange einen Namen: ‚Living in the Bubble’. In der Blase leben. Die Blase ist das säkulare, europäisch linke Tel Aviv, weit weg von Militär und Weihrauch. Der Alltag hier in Nord-Tel Aviv macht es einfach zu vergessen, dass zwischen uns und all dem Wahnsinn rundherum nur ein dünner, arg strapazierter Puffer liegt: Rest-Israel.

 

2 – Jetzt stehen Wahlen an.

Wir sind keine Aktivisten. Uns geht es gut. Wir wollen natürlich, dass das Leben zahlbarer wird, dass Friede gemacht wird … Aber unsere eigentliche tiefste Nord-Tel Aviv Angst: Dass die von Rest-Israel eine rechts-nationalistische Regierung an die Macht wählen, die das Land und die Gesellschaft über die nächsten Jahre noch weiter nach Rechts und in die Agression treibt, was Israel mittelfristig international unmöglich macht…

Israel hat genug von Bibi. So fühlte sich der Wahlkampf in Tel Aviv an.

Dann radelte ich am Sonntag vor der Wahl auf dem Heimweg von der Arbeit durch die lange Ibn Gabirol Strasse. Um sieben Uhr Abends nach der Stosszeit fliesst der Verkehr normalerweise wieder. An diesem Sonntag stauten sich Busse in der Spur Stadteinwärts: Die letzte grosse Kundgebung im Wahlkampf stand an. Die Rechte versammelte sich am Rabin Platz rund um ihre Anführer. Auch Bibi Netanyahu hatte einen Auftritt angekündigt.

Die Busse kamen von überallher, viele auch aus den Siedlungen der Westbank. Sie waren voller Jungs mit Kippas. Frauen mit Kopftüchern führten ihre 5, 6, 7, 8, 9, 10köpfigen Familien die Strasse runter. Kippas und Kopftücher sieht man an einem normalen Tag sehr wenige in Nord-Tel Aviv.

Die Haaretz Zeitung berichtete dass Siedler-Gemeinden aus der Westbank ihre Bewohner aufgefordert hatten, nach Tel Aviv zu reisen. Sie organisierten vom Staat subventionierte Bus-Reisen. Offenbar ist es legal für Siedler-Gemeinden, ihre Bewohner mit Steuergelder zu unterstützen bei Pro-Siedlungspolitik-Demos.

Sprich: Meine Steuergelder werden in die Westbank geführt, wo sie wiederum dafür zahlen, dass Siedler nach Tel Aviv gekarrt werden für eine pro-Siedlungspolitik Massendemo …

Bei dieser Vorstellung steigt ein fauliger Gestank auf aus den Bauhaus-Fundamenten unserer schicken Nord-Telaviv-Bubble.

 

3 – Nach den Wahlen

Die tausenden Siedler in meiner Strasse zu sehen war ein unheimliches Bild.

Wo lebe ich eigentlich hier?

Die Rechte gewinnt die Wahlen – nicht in Tel Aviv, aber in Israel. In Tel Aviv gewinnt die Links/Mitte-Liste mit grossem Abstand … in den arabischen Städten macht die Arabische Liste fantastische Zahlen. In der Westbank gewinnt die Rechte. In Jerusalem die Rechte und die Religiösen …

Wie lange hält unsere Bubble noch?

Die Regierung Netanyahu provoziert seit Jahren scheints chaotische Schlagzeilen, “Ja zum Friedensprozess”, “Nein zum Friedensprozess”, “Ja zu zwei Staaten”, “Nein zu Palästina”, neulich, kurz vor einem Deutschlandbesuch: “Die Palästinenser sind für den Holocaust verantwortlich” … So konfus dies im Alltag wirken mag, so zielstrebig und konsequent wird hinter diesem Dauerlärm gearbeitet. Das Leitmotiv: Palästinenser gibt es nicht, es gibt nur Araber, und von denen wissen wir ja, wie die sind, also ignorieren wir sie wo es geht, bauen hohe Zäune und versuchen sie so gut es geht zu beschäftigen bis … bis …. bis … ja bis wann?

Irgendwann, in einigen Jahren wird Israel Reservate ausrufen und diese Gebiete den Palästinensern als ‚Palästina’ zur ‚Selbstbestimmung’ überlassen.

Eine Abkehr oder gar Umkehr von diesem Weg scheint hier unmöglich.

Seit Oslo wird die Westbank konsequent ‘zersiedelt’ und jede Minute der ‘Friedensverhandlungen’, jede Minute Status Quo, wird dazu genutzt, Tatsachen zu schaffen.

Ist es nicht am Ende so, dass wir das Schicksal der Indianer zwar bedauern, aber dass wir keine echte Alternative anzubieten haben?

Mit unserer „Toleranz“ und „Offenheit“ gegenüber anderen Kulturen wollen wir doch nur das Beste für alle. Wir wollen dass alle Menschen gleich und frei und glücklich sind.

Wirklich?

Unsere westliche Kultur ist expansiv, sie übernimmt, erleuchtet, befreit – gliedert ein in unser Wirtschaftssytem – und löscht alles andere aus oder verdrängt es bestenfalls in die Folklore. Fortschritt.

Darum geht es uns heute so gut.

In Tel Aviv gibt’s keinen goldenen Herbst, die Baumkronen entlang der Sderots (Boulevards) sind immergrüner Ficus und Palmwedel. Herbst geht so: Kranwagen mit motorsägenden Arbeitern auf Hebebühnen machen die Runde, die mächtigen Baumkronen werden vor dem ersten Wintersturm zurückgeschnitten. Es grünt immer weiter.

Es war sowieso kein goldener Herbst. Die unheimliche Kriegsdüsternis des Sommers blieb hängen lange in den Winter hinein. Es gab keine Zäsur, keinen Frieden, keine Läuterung.

So sehr die Schönwetter-Mantras nerven – von wegen ‚Tel Aviv ist die hipste Party-Stadt der Welt’ und das ‚Silicon Valley des Ostens’ und die ‚Schwulendestination Nummer 1′ – sie stehen auch für eine Realität, die ich vermissen lernte.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

Diesmal fühlte es sich wirklich so an.

Einige tausend Menschen sind tot und es war als ob es keinen kümmerte. Alles was während und nach dem Krieg in der öffentlichen Diskussion interessierte: Was können Armee und Geheimdienst in der nächsten Schlacht besser machen?

Die viel wichtigere Frage, wie man eine nächste Schlacht vermeiden könnte, blieb und bleibt ungestellt. Oder vielmehr wohl: diese Frage ist derart allgegenwärtig seit 70 Jahren dass alle möglichen Antworten erschöpft scheinen. In den Ohren der Israelis tönt jeder Kommentar wie das dünne kraftlose Echo aus dem Archiv … jaja, das hatten wir schon.

Dieselben Gesichter sind heute an der Macht, hüben wie drüben, und sagen dieselben Dinge wie vor der Schlacht, rechts wie links.

Dann wurden von Netanyahu Neuwahlen ausgerufen, praktisch nahtlos ging es vom Krieg in den Wahlkampf wo sowieso nur noch Personalisierung und Polemik zählen.

Die Lektionen des Sommers sind allesamt deprimierend.

Der unbedingte Glaube an die Überlegenheit und an die Unterdrückung der Anderen als einzige taugliche Strategie sitzt fester denn je. Das Handwerk wurde über Jahrzehnte perfektioniert und hat sich einmal mehr bewährt.

Die Machtdemonstration der israelischen Rechten ist unheimlich. Die ‚Opposition’ hat nichts anzubieten.

Die Fantasie der Leute ist erschöpft. Keiner glaubt daran, dass echter Frieden hergestellt werden könnte, alle geben sich mit dem Status Quo zufrieden. Eine Perspektive ist das nicht. Aber alltagstauglich ist es allemal, denn der Horizont im Alltag ist der nächste Samstag Abend und bis dahin sieht’s gut aus.

Die Toten werden hingenommen. Im eigenen Land wie auch rundherum. „In anderen Konflikten gibt’s ja noch viel mehr Tote.“ Friedensdenker Amos Oz zeigt mit dem Finger auf Europa und auf die zwei Weltkriege „soviel Schaden werden wir garantiert nicht anrichten“ verspricht er in einer Rede.

Israel wird nichts an seiner Strategie ändern.

Es gibt keinen Grund dazu. Die Welt schaut zu. Die USA schicken Geld für Waffen und liefern Rückendeckung in der UNO.

Die kranken Islamisten rundherum verleihen der Strategie zusätzliche Legitimation. Verstanden wird nur Gewalt. Freiheit zählt nichts – und führt nur zu neuer Gewalt.

Irgendwann, in einigen Jahren wird Israel Reservate ausrufen und diese Gebiete den Palästinensern als ‚Palästina’ zur ‚Selbstbestimmung’ überlassen.

Eine Umkehr oder Abkehr von diesem Weg scheint unmöglich.

Die letzten Wochen waren zum Kotzen. Seit ein paar Tagen ist’s nun ruhiger in Tel Aviv und der Alpdruck von dem Krieg löst sich langsam. Diese vier Wochen Krieg haben aber sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen (nicht nur für mich). Es hat sich gezeigt, was es heissen kann, hier die Zukunft zu ‘planen’. Dass man trotz der Bubble und der Eisenkuppel die brenzlige politische Situation nicht für immer ausblenden kann, so angenehm das auch wäre. Das schlimmste war aber, die ultra-nationalistische Seite vieler Israelis zu spüren (komplett unfähig zu Kritik an ihrer Armee und an ihrer Staatsgewalt). Und bei allen friedliebenden tollen Menschen hier: Nach meinem Geschmack finden es zu viele Israelis ok, Araber zu töten.

Jetzt wachen wir mal schnell auf aus diesem bösen Traum – den Luxus haben wir ja hier in Tel Aviv – und hoffen, dass man sich auf beiden Seiten nicht wieder mit einem ‘Waffenstillstand’ zufriedengibt. Dass die Regierung und die Palis und die Welt und alle an echtem Zusammenleben arbeiten.

Am Samstag ist eine PeaceNow Demo, die genau danach verlangt. Nach einem echten Friedensprozess. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir hinfahren.

“Bis vor drei Wochen fühlte ich mich hier wie im Paradies,” sagte mir eine junge Türkin. Sie erhält in ein paar Wochen die israelische Staatsbürgerschaft. – Sie sei sich aber ihrer Sache jetzt nicht mehr so sicher.

Hatte sie vor dem Krieg nichts von den Palästinensern in Gaza und der Westbank gewusst? Haben die Israelis nicht immer mehr oder weniger offen gesagt, die einzige Lösung sei, Gaza ins Meer zu kippen (natürlich meinten sie das nicht wirklich, sondern sagten das nur, um ihre Hoffnungslosigkeit zu illustrieren)? Hatte die Neu-Israelin geglaubt, absolute militärische Überlegenheit garantiere ausreichend und nachhaltig Sicherheit und Wohlbefinden? War sie überzeugt dass ‘Deckel draufhalten’ auf Dauer gut geht?

Die Raketenalarme sind erst schockierend, dann mühsam, und jetzt nur noch ein kleiner dummer Running Gag in dieser grossen deprimierenden Kriegsrealität um uns herum. Man ist ja nicht unmittelbar gefährdet hier in Tel Aviv. Die Raketen werden abgefangen von der ‘Eisernen Kippa’, wie der Iron Dome auf Hebräisch heisst. (Und bis jetzt wurden hier in Tel Aviv auch alle anderen Versionen von Tod und Untergang made by Hamas abgewendet.) Aber ist es nicht nur eine Frage der Zeit bis es hier in einer Bar oder in einem Bus knallt..? 

Die täglich, stündlich steigende Zahl Toter und Verletzter in Gaza drücken einem auf die Brust wie ein Albtraum. 

Und das schmerzhafteste (und vielleicht der wahre Schock für die Türkin) ist dass die ganze Leichtigkeit verpufft ist. Israel zeigt ein hässliches Gesicht. Die gefeierte Fassade der Start-up-Nation – Israel als phänomenales High-Tech Center mit dem sexy Schwulenparadies Tel Aviv als Herz und Schrittmacher – diese Kulisse ist erstmal im Theaterhimmel verschwunden.

Israel hat viele zum Teil widersprüchliche Gesichter. Widersprüche stören hier nicht. Das macht Israel oft reizvoll, facettenreich – aber es kann auch Angst machen. Was ist denn das echte Israel? 

Ist die so vielgelobte und herumproletete Toleranz der israelischen Gesellschaft gegenüber Schwulen, Transsexuellen etc. nur eine willkommene, regenbogenfarbene Maske vor der hässlichen, rassistischen Fratze eines gnadenlosen Kriegers?

Dieser Tage ist schwer zu glauben, dass Israel wirklich beides ist.

Wo sind all die Menschenfreunde hin..?

“Ich war ja immer links und gegen Krieg, aber …”

So beginnen viele Konversationen mit Israelis dieser Tage. Alle Israelis sagen, dass ihnen die toten palästinensischen Kinder, Frauen und Männer leid tun.

“… aber dieser Krieg muss sein, es ist ein gerechter Krieg.”

“… aber diesmal müssen wir Hamas erledigen.”

“… aber in Syrien töten sie viel mehr Menschen und da sagt keiner was.”

“… aber es gibt keinen anderen Weg.”

Das sagen die Linken.

Nur wenige gehen zu Demos, werden von rechten Hooligans eingeschüchtert – auch physisch bedroht. Bis sie aus Angst und Hoffnungslosigkeit damit aufhören.

Ich höre von Freunden, dass viele junge Israelis scharf drauf sind nach Gaza zu fahren und dort endlich mal auszuteilen, Terroristen zu jagen, abzuknallen, Bomben zu werfen etc. Um die Sache ‘ein für allemal zu erledigen’.

Natürlich haben die Israelis den Terror der Hamas satt. Natürlich ist Israel heute in einer Situation, wo Gewalt als einziges Mittel zur Verteidigung taugt. Doch warum muss das so bleiben? Israelis zeigen auf die Palästinenser. Mit jedem Tag Krieg nimmt der Hass auf beiden Seiten zu.   

Uns Europäern wird von den Israelis immer vorgeworfen wir seien naiv, weil wir an Dialog und Frieden glauben. Es sei alles viel komplizierter!

Kompliziert?

Wenn man heute hinhört ist’s ganz einfach: Man muss die Hamas auslöschen.

Eine Freundin (sie ist beruflich hier) verzweifelt: “Ich glaubte immer, die Israelis seien zwar nach aussen oft unfreundlich bis unerträglich, doch ich war bereit, an einen guten Kern zu glauben. – Mit all dem Hass, der jetzt zum Vorschein kommt, habe ich den Glauben verloren. Ich will nur noch weg.”

Ein anderer Freund, seit 6 Jahren hier und auch mit einer Israelin verheiratet: “Ich halte es nicht mehr aus im Büro. Sogar mit meiner Frau streite ich mich, sie liest nur israelische Presse. Die Israelis können nicht akzeptieren, dass ihre Armee und ihre Führung fehlbar ist.”

Wir gestern zuhause, Gabi deprimiert: “Was all diese Ausländer sagen, das gibt mir zu denken. So habe ich Israel noch nie gesehen. Ich zweifle.” Ihre Welt der klaren Fronten hat Schaden genommen.

Es wird spürbar, wie dieser Konflikt das Land auffrisst.

Der Krieg überzieht das ganze Leben mit einer matten Lähmung, einem Dämpfschaum, er vergiftet jede Minute und jede Freude. Wir wachen morgens auf und schauen erstmal bange nach, wie viele Tote es in der Nacht in Gaza gab. Tagsüber zucken wir zusammen wenn draussen jemand die Autotür zuknallt …

Die grosse unausgesprochene Angst ist, dass hier ein Bus oder ein Cafe in die Luft fliegt. Gestern war ein Tag ohne Raketenalarm, aber Abends beim Bier hörten wir plötzlich Explosionen aus der Ferne, als eine Rakete über einem Vorort Tel Avivs abgeschossen wurde.

Die Touristen bleiben aus. Die Stadt ist spürbar leerer und weniger fröhlich. Im Gym flimmert auf den Fernsehern rundum an der Wand die Live-Kriegsberichterstattung (und nicht mehr Fashion TV wie sonst). Die Feier zum 1. August beim Botschafter wurde abgesagt. Die Kollegen im Büro müssen einrücken, ich bin bald der einzige unter 40 auf Arbeit. Über 80’000 Reservisten wurden angeblich aufgeboten. Wer eingezogen wird, beruhigt: Die Reservisten (WK-Soldaten in der Schweiz) würden nur im Norden Israels ungefährdete Posten hüten, so dass die jungen ‘aktiven’ Soldaten, die 19, 20-jährigen in den Krieg ziehen können. Man schicke nicht die Familienväter, sondern die jungen, heissblütigen, pubertären Kämpfer nach Gaza.

Wir tun was gegen den Krieg

Und dann gibt’s noch die Momente des schlechten Gewissens: Wir tun nichts. Wir könnten ja immerhin demonstrieren gehen, entweder mit den Judenhassern (Friedensdemo) oder mit den Arabermördern (für den gerechten und nötigen Krieg).

Im Fernsehen zeigen sie auch wie tausende Israelis mit Wagenladungen Schokolade, Rasierklingen, Zigaretten zu den Soldaten im Süden fahren. Oder Israelis, die ihre Gitarre einpacken, um den vor den Toren Gazas wartenden Soldaten ein Ständchen zu bringen.

Was wir gegen den Krieg tun: wir gehen aus, gut essen in der hochklassigen soliden Brasserie am Rabin Platz (leicht besorgt, weil dort auf dem Rabin Platz jeden Abend demonstriert und gegendemonstriert wird). Wir schlürfen Austern während draussen die Leute von der Friedensbewegung Reden halten und Plakate ausrollen.

Wir fahren am Wochenende zum Strand im Norden (leicht besorgt, weil der Strand gleich neben einem arabischen Dorf liegt).

Doch der abgelegene Strand ist ungewöhnlich voll, weil für diesen Tag eine 12-Stündige Feuerpause ausgerufen wurde. Ich bin erleichtert und erfreut. Wie deprimierend wäre das denn, alleine am Strand zu liegen …

Nach Hause in die Türkei könne sie auch nicht zurück, sagte die Türkin. Der Antisemitismus dort sei offen und unerträglich. 

Immerhin können wir jederzeit in die Schweiz abhauen.

Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.

Hoffen wir, dass diesmal nach einer echten Lösung gesucht wird.

Natürlich wird dies nicht der letzte Konflikt gewesen sein. Doch der fiese Teufelskreis hin zu immer mehr Hass, Entfremdung und Bitterkeit auf beiden Seiten muss gebrochen werden. Sonst verkommt die ganze positive Energie Tel Avivs wirklich zur Kulisse. Und Kulissen halten nicht für lange.

Heute trauert Israel um seine gefallenen Soldaten. Als ich das erste Mal dabei war, wie Tausende zur Feier auf dem grossen Rabin-Platz strömten, fehlte mir die Volksfeststimmung, es gibt keinen Grill-Stand von Bell am Strassenrand, keine T-Shirts und Ballone und keine Feldschlösschen Bierzelte. Gabi meinte: „It’s not a celebration!“ Es gilt ernste, fast heilige Trauerpflicht für’s ganze Land. Alles ist geschlossen heute Abend, Läden, Kioske, Bars, Restaurants.

Zur Bekräftigung und Bestätigung dass die gefallenen Soldaten nicht umsonst ihr Leben liessen haute Netanyahu die Schlagzeile raus: „Israel ist die Heimat eines Volkes – der Juden.“ Purer Rassismus.

Ich whatsappte die Schlagzeile an Freunde. „Jude sein ist eine Frage der Einstellung,“ schrieb eine zurück. „Aber ich mag die Schweizer,“ schrieb eine andere.

Die linke Politik schrie auf, man werde keine Einschränkung demokratischer Grundwerte zulassen, Israel sei ganz zuerst eine Demokratie mit gleichen Bürgerrechten für alle und erst dann die Heimat der Juden etc etc.

Und ich sitze in unserem Garten und gegen acht wird es still auf der Strasse, die lauten Dieselbusse fahren nicht mehr.

Leute spazieren die Strasse runter, in Richtung Rabin Platz.

Um 20 Uhr heult die alles betäubende Kriegs-Sirene los, ein langgezogener schriller ton, nicht das auf und ab der Raketenalarme. Alles steht still. Eine Minute lang heult ganz Israel, wer am Tisch sitzt, steht auf, wer im Auto unterwegs ist stoppt, steigt aus. Ich im Garten. Gizmo der Kater miaut.

20 Uhr 01 Autotüren fallen zu. Motoren heulen auf, die paar wenigen Autos und Busse auf der Dizengoff fahren weiter.

Von der Klagemauer mit Staatspräsident und Ehrengarde geht’s via Schaltung ins TV-Studio raus zur Live-Schaltung von der Feier in Rishon Le Zion, eine Stadt südlich von Tel Aviv.

Auch hier in Tel Aviv auf dem Rabin-Platz wird mit Kerzen, Streichern und sehr mittelmässigen Sängern vor Videowänden den Soldaten gedacht. Gespielt werden Lieder, die für Aussenstehende wie mich wie schlechter Heimatpop klingen, die aber für Israelis sentimentale Herzensangelegenheit sind, nicht zuletzt weil sie jedes Jahr an Memorial Day vorgetragen werden.

Auf den Videowänden und zuhause im Fernsehen werden zwischen den Songs und Reden die Porträts gefallener Soldaten und ihre Geschichte in 3:30′ Form vorgestellt: Mama erzählt eine Anekdote, Kinderfotos werden eingeblendet, Papa erzählt eine Geschichte, Fotos, mit Kameraden, mit der Freundin, dann weinen sie und die Streicher setzen ein fürs nächste Lied.

Schnitt ins Publikum zu weinenden schönen Menschen, die ich oder du sein könnten, die alle diese Lieder im Herzen tragen, und die weinen weil sie diesen Soldaten auf der Videowand gekannt haben, oder weil sie einen Bruder, Onkel oder Cousin haben der im Krieg gefallen ist, oder ganz einfach weil alles so traurig ist.

In den USA ist Memorial Day der Tag für BBQs und Shopping. Hier ist es das sehr lebendige Ritual einer Nation in ständiger Kampfbereitschaft. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

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Memorial Day Zeremonie auf dem Rabin Platz (2012)