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Politics

Gabi insistierte vor zwei Jahren, dass wir uns einen Drucker mit Fax kaufen. Ich lachte: “Fax??! Du bist so süss. Ich bring’ dir jedesmal Blumen wenn wir einen Fax schicken oder empfangen. Wir leben doch im Silicon Valley 2.0!”

Der Kulturschock liess nicht lange auf sich warten: In der #Startupnation stellt der bürokratische Schriftverkehr aller Art komplett auf Fax ab.

Nichts geht ohne Fax. Man bekommt kaum eine Pizza geliefert ohne Fax.

Die Parkuhr in der Strasse lässt sich zwar per iPhone-App füttern, aber banale papierne Formulare werden hin und her gefaxt wie in den tiefen 80ern.

Möglich, dass die Bürokraten mit dem Faxgeräte-Importeur unter einer Decke stecken. (Das Leben hier lehrt einen, alles auf doppelte Böden abzuklopfen. Und es ist doch nicht möglich, dass sich kein Startup findet, was dieses Problem löst.)

Jetzt hat sich ein Haver Knesset, ein Parlamentarier, das Thema für eine Schlagzeile gekrallt. Er will eine staatliche Verordnung, die sämtlichen Dienstleistern eine Email-Alternative zum Schriftverkehr per Fax aufzwingt.

Vermutlich wird die Fax-Lobby den Wink verstehen und dem Parlamentarier eine lebenslängliche Versorgung mit Tinte für seinen Drucker (mit Fax) anbieten, wenn er seinen Vorschlag zurückzieht.

Vielleicht sollte ich auch den kleinen Blumenladen bei uns um die Ecke auf der Dizengoff warnen. Ich schulde Gabi noch geschätzte zwei Dutzend Fax-Blumensträusse, aber wenn der Parlamentarier durchkommt mit seinem Vorschlag brechen harte Zeiten an…

JPost - Aus für Fax in Israel

Bei schönerem Wetter hätte mir Ramallah besseren Eindruck gemacht. Was im Zürcher November der graue nieselige Hochnebel ist, sind hier Sandwolken, feiner Staub der sich auch tagelang hält, auf Bäume und Autos legt, man spürt ihn manchmal auf der Zunge und der Dreck hängt wie ein feiner Schleier vor der Sonne. An manchen Tagen sieht man die obersten Geschosse der Hochhäuser am Ende unserer Strasse nicht mehr.

Zwei oder drei Mal im Jahr liegt so viel Staub in der Luft, dass es tagsüber apokalyptisch eindunkelt und die Sonne blutrot anläuft, als kriege sie keine Luft mehr und ersticke gleich. Danach regnet es erstmal dreckiges Wasser.

Meine Freundin aus dem diplomatischen Korps hatte mich am Samstag in einer SMS spontan eingeladen, sie zu einem Lunch am Sonntag in Ramallah zu begleiten.

 

Angeblich die Flaggen aller Staaten, die Palästina bis dato als Staat anerkannt haben. Manche von Wind und Wetter zerfetzt, manche auf Halbmast. Eine grosse Baubrache neben Arafats ehemaligem Machtzentrum.

 

Ich hatte ihr ein paar Wochen zuvor gestanden: Mit jedem Monat, den ich länger hier in Israel lebte, wurde die Vorstellung eines Besuchs beim Feind unheimlicher. Warum, weiss ich nicht. Die Medien? Die Gehirnwäsche einer Nation im Kriegszustand? Gruppenzwang eines traumatisierten Volks? Die Raketen aus Gaza im letzten Herbst?

Ich sagte meine Bürotermine für Sonntag ab.

Tel Aviv Richtung Jerusalem, nach 45 Minuten rechts abbiegen

Beim ersten Besuch in Israel, vor zwei Jahren, war ich mit Gabi unterwegs nach Jerusalem, da stand Ramallah angeschrieben auf einem Autobahnschild.

Ich hatte sie gefragt: „DA ist Ramallah?“

Ich hatte im MAGAZIN des TagesAnzeigers gelesen, dass dort viele junge Expats leben, UNO-Mitarbeiter und NGO-Workers, Hilfswerker, Friedensstifter, Abenteurer, und dass sie cool drauf sind und gute Bars und Parties machen zusammen mit den Palis. Es hatte sich aufregend und vielversprechend angehört. Etwas gefährlich vielleicht, aber ohne wirklich gefährlich zu sein. Nicht wie Saigon 1965 oder Beirut 1985. Aber doch irgendwie mit diesem schwitzigen Uniform-Geruch in der Luft, den blauäugigen blonden Fotoreportern, zähen Geschäftemachern und Abenteuern.

Sie sagte: „Ja klar, da ist Ramallah.“

Ich wollte sie fragen, ob wir da hinfahren können, aber ich hatte eine Ahnung.

Darum fragte ich vorsichtiger: „Warst du schonmal da?“

Meine Frau: „Spinnst du? Ich will nicht vergewaltigt werden.“

Araber stinken. Man lernt das so hier.

Die Diplomatin und ich im Botschafterwagen, wir fuhren am Sonntag um 10:30 in Tel Aviv los. Wir waren um 12 Uhr mit dem japanischen Diplomaten in Ramallah verabredet. Er würde uns vor einem der bekannten Expat-Hotels treffen und dann in ein gutes Restaurant mitnehmen.

Eine gute Dreiviertelstunde Ostwärts auf der Siedler-Autobahn, Schnellstrasse 443, lag vor uns. Die Siedler-Autobahn ist eine von zwei Autostrecken zwischen Tel Aviv und Jerusalem.

Die 1 ist die Haupt-Achse, sie wird derzeit durchgängig auf 6 Spuren erweitert. Die 443 führt durch die Westbank und bedient unterwegs Settlements. Palästinensern ist der Zugang zur Strasse gesperrt. Sie ist links und rechts eingezäunt. Siedler-Autobahn.

Ramallah ist Teil der Zone A, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert wird. Aus Sicherheitsgründen ist Juden der Zugang zur Zone A verboten. Egal mit welchem Pass. Ich bin weder Israeli noch Jude. Ich sehe auch nicht aus wie ein Israeli (Juden sehen ja so und so aus, aber Israeli erkennt man).

Darum hatte die Diplomatin auch kein Problem, mich in die Zone mitzunehmen.

Meine grösste Sorge: dass ich bei der nächsten Ausreise und Einreise am Flughafen drangenommen werde. Oder unangenehmer: dass sie mir plötzlich Probleme machen beim Erneuern meiner provisorischen Niederlassungsbewilligung, wenn sie erfahren, dass ich in Ramallah mittagesse.

Ich suchte mir meine Klamotten an dem Morgen sorgfältig aus, um für den Palästinenser zwar möglichst Schweizerisch auszuschauen, aber nicht verwöhnt wohlhabend.

Unterwegs im Auto nach Ramallah fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem wieder als Schweizer: Neutral. Als Tourist. Als Gast und ohne Verantwortung. Hände ausgestreckt und Handflächen nach oben gedreht. Mal kucken gehen.

Wenn ich in der Schweiz bin, bin ich Besucher aus Israel. Wenn Freunde uns in Tel Aviv besuchen, bin ich der Tel Avivi.

Wenn ich mit meiner Frau reise, behaupten wir in Istanbul, Jordanien oder Kenia zwar beide, dass wir Schweizer sind – mit dem Resultat dass ich mich mit dieser halben Lüge als Israeli fühle. Potenziell von Entführung und Bombenanschlägen bedroht, von keinem gemocht, von allen kritisch beobachtet.

Besser, wenn mir heute kein Wort Hebräisch rausrutscht. Besser, wenn niemand weiss, dass ich in Israel lebe. Besser wenn keiner weiss, dass ich Samuel heisse und eine jüdische Frau habe.

Mal wieder richtig Schweizer sein

Einfach mal gucken gehen, wie die’s in Ramallah haben.

Es tut mir ja leid mit dem was hier alles geht, politisch. Aber ich kann da wirklich nichts dafür. Es ist einfach eine komplizierte Situation. Könnt ihr nicht einfach miteinander reden?

Wir verlassen die Autobahn bei einem der Settlements – mein erstes Settlement. Das Dorf sieht aus wie andere israelische, aus dem Boden gestampfte Kleinstädte. Vielleicht noch etwas trotzigere Architektur. Noch schneller gebaut. Noch weniger Charme.

Richtungsschilder an der Strasse gibt’s hier kaum. Meine Freundin kennt den Weg. Wir biegen mitten im Dorf in eine Seitenstrasse ein, 150m die Strasse runter steht ein trotziger Turm, darum herum viel Gitter, Betonblöcke, Strassenschwellen und Stacheldraht. Checkpoint.

Wir fahren im Schrittempo auf das grosse Maschendrahttor zu, der israelische Soldat verlässt nicht mal sein Kabäuschen, das Tor schwingt lautlos auf und wir fahren durch. Das war’s.

Unser Auto hat CD Nummernschilder. Corps Diplomatique. Diplomatisches Korps. Meine Freundin erklärt, dieser Checkpoint ist nur offen für Diplomaten, UN Mitarbeiter und Sondergenehmigungen.

In die andere Richtung, auf der anderen Strassenseite sehe ich die Schleusen für die Fussgänger, die Palästinenser, die durch den Checkpoint nach Israel wollen. Auf der palästinensischen Seite des Checkpoint stehen geparkte Autos, die Strasse ist bis auf eine Spur in der Mitte zugeparkt mit PWs von Tagesaufenthaltern in Israel.

Wir sind in Zone A.  Aber noch nicht in Ramallah.

Die Strasse hier ist schlechter. Es ist ein löchriges Asphaltband auf den Sand gelegt. Links und rechts stehen weissgraue rohe Betonbauten. Hier baut keiner fürs Auge. Es ist unklar, welche Häuser noch im Bau sind, welche schon fertig, bewohnt wirkt hier gar nichts, plötzlich kommt mir auch die Landschaft so anders vor, so trocken, so karg, so unbelebt, steinig, sandig, das diffuse milchige Licht tut das seine dazu, es kommt mir vor als hätte ich meinen Kopf in eine andere Welt gesteckt, in der das Licht diffus, die Frischluft knapp und das Land trocken ist.

Sogar die Karten auf dem Handy sind blank.

Auf Google Maps ist Ramallah als grauer Fleck markiert, ohne Strassennamen. Das Mövenpick Hotel Ramallah wird angezeigt. Das ist alles.

Meine Freundin kennt den Weg. Wir unterqueren die Siedler-Autobahn, deren Sichtschutz-Zäune die Landschaft zerschneiden. Hinter dem Band aus beigen Blachen könnten auch die Schienen eines riesenlangen Rollercoasters liegen, der hier über die Hügel vor Jerusalem flitzt. Irgendwo ist der Einstieg, da muss man anstehen, Karten kaufen und dann Schlange stehen für die nächste Abfahrt.

Dann erreichen wir auch schon die ersten Häuser Ramallahs. Wie’s aussieht wird auch hier wie überall in Israel viel gebaut. Pardon: Wie überall in Israel wird auch hier viel gebaut. Die Architekten scheinen noch etwas weniger gut ausgebildet. Die Ambitionen der Bauherren sind aber hoch. Es stehen einige Paläste an der Strasse, Mischung aus moderner Architektur, Festungsbau und Neureichen-Punk-Prunk.

Wir suchen unseren Treffpunkt

So euphorisch Lonely Planet Ramallah als Happening Place feiert, so dürftig ist auch da die Karte. Sie zeigt 800×800 Meter Innenstadt.

Das wäre eine Aktion: Ramallah auf Google Maps erfassen.

Wir verfahren uns, werden aber von netten Fussgängern zum Treffpunkt gewiesen. Dann folgen wir dem Japaner zum Restaurant.

Wir essen in einem von Christen betriebenen Restaurant. Es wird Tel Aviver Standard geboten, etwas bemühter, man spürt, das ist nicht normal hier. Das tut man für ‘die andern’. Der junge coole Inhaber oder Maitre d’ bedient uns zuvorkommend. Auch die Preise sind hoch. Wir trinken einen Orvieto.

Die Diplomaten tauschen Ansichten und Einsichten aus.

Der Japaner geht Bergsteigen in der Westbank.

Er kennt einige gute Wände in der Gegend.

 

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Nach dem Orvieto fahren wir zu Arafat

Anschliessend besuchen wir die Mukatah, das Hauptquartier der PLO zu Yassir Arafats Zeiten und sein ‘Gefängnis’ von 2002 bis 2004, als israelische Truppen seine Regierungsanlage belagert hielten – und zum grössten Teil zerstörten.

Es ist die einzige touristische Destination Ramallahs. 

Das Grab Arafats steht Besuchern offen, es wird von einer Handvoll Soldaten in Paradeuniform bewacht.

Es wird nicht als seine letzte Ruhestätte angesehen. Die soll in Jerusalem sein, wenn der Felsendom wieder zu Palästina und nicht mehr zu Israel gehört.

Nach der etwas surrealen, gespenstisch kahlen und fahlen Kulisse der Mukatah fahren wir ins nahegelege Stadtzentrum, spazieren durch die belebte Hauptstrasse, vorbei am Stars-and-Bucks zum schmutzigen und einfachen, aber gut besuchten Markt mit viel Frischwaren. Wir sind beinahe die einzigen Westler, ich sehe noch eine Asiatin mit einem palästinensischen Begleiter auf dem Markt und einen älteren Abenteurer oder Künstler, der vielleicht 1985 in Beirut war.

Die Türme frisches Gemüse und Früchte auf dem Markt sind wie ein Schock: Das maximal intensive Rot, Grün, Gelb der Peperonis. Das Orange der Khakis und Mandarinen. Die dicken Büschel Bananengelb. Grüner Lattich.

Wo sind die Gewürze? Gewürze machen sich gut als Mitbringsel.

Es ist alles spottbillig.

Während unser Restaurant durchaus Tel Aviver Preise verlangte, ist hier auf dem Markt alles ein Vielfaches billiger.

Gegen fünf stehen wir im massiven Stau im Berufsverkehr vor Tel Aviv. Die Autos in langen Kolonnen vor der Kulisse Tel Avivs, eine gute halbe Stunde weg vom ärmlichen Ramallah, sind Beleg für den Kontrast zwischen den beiden Welten.

Wie sag’ ich’s den andern? 

Am nächsten Tag auf Arbeit weiss ich nicht, ob ich die Geschichte erzählen kann.

Bis jetzt bin ich der naive Europäer, der gut meint – aber natürlich nichts versteht. Ich will nicht als Pali-Sympathisant angeschrieben werden.

Mein Foto am Schrein von Arafats Grab, grinsend zwischen den beiden Ehrenwachen, zeige ich keinem.

Als ich Kollege Y dann doch von meinem Ramallah Besuch erzähle, macht er ein sehr eigenartiges Gesicht. Etwas fasziniert, etwas ungläubig, leicht abgestossen, er macht einen Schritt zurück.

Ich hab’s noch einigen anderen Freunden erzählt. Sie stellen fast keine Fragen.

Y schaute, als hätte ich einen Brief von seinem Cousin mitgebracht, der wegen Vergewaltigung im Gefängnis sitzt. Niemand will diesen Brief aufmachen. Was kann da schon drinstehen was man lesen möchte?

Mit diesem Cousin, der eine Frau vergewaltigte (angeblich), hat man seit Jahren keinen Kontakt mehr. Und mittlerweile ist es einfacher so.

Sie fragen schon alle: Wie war’s?

Ich sage: Deprimierend.

Sie sagen: Ja natürlich.

Ich hatte mich in Afrika, in den Städten Kenias, so gefühlt. Vielleicht ist es das Lebensgefühl in Gesellschaften, in der es kein Vertrauen in die Gesellschaft gibt. Die Luft ist knapp für alle.

Dass diese Stadt als Hauptstadt und Teil eines ‘gleichberechtigten’ Staates neben Israels funktionieren könnte, scheint sehr weit hergeholt. Der Vorsprung Israels in jeder Hinsicht ist derart gigantisch, dass von einer Gleichberechtigung, wie sie die Zweistaatenlösung suggeriert, keine Rede sein kann.

Es fühlte sich eher an wie der Besuch in einem Reservat.

Der Besuch beim armen, verkrüppelten Nachbarn.

Ich weiss, ich habe nichts gesehen. Ich war gerade mal zwei, drei Stunden dort.

Ich weiss noch nicht, wann ich wieder hinfahre.

Es scheint so weit weg.

Und was soll ich dort …?

Es gibt dort nichts, was ich brauche.

Was habe ich damit zu tun?

 

Der Schrein Yasser Arafats, in der Anlage der Mukatah, dem ehemaligen Hauptsitz der PLO, der von israelischen Truppen 2002-2004 belagert und zerstört wurde.

 

Wir haben noch immer keine Gasmaske. Dafür haben wir jetzt Atropin für zwei im Badezimmerschrank – das Gegengift für Nervengas aus Syrien. Das war einfacher zu bekommen.

Ich verbringe wieder viel Zeit damit, das Undenkbare zu denken, wie letzten November, während dem Raketenbeschuss aus Gaza. Was, wenn tatsächlich Bomben fallen? In der New York Times berichtete ein Augenzeuge vom Giftgaseinsatz in Syrien: “Die Detonationen hörten sich an wie platzende Wasserfässer…” Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Was tun wir dann? Wie können wir uns vorbereiten? Will ich mich überhaupt vorbereiten? Oder gehöre ich zu jenen, die sagen: Passiert eh nichts..?

Vom Undenkbaren ist es nicht weit zum Schwarzen Humor. Gestern Abend treffe ich auf einer Party einen Bekannten, einen schwulen feinen Ballett-Tänzer, der viel in Europa auf Tournee ist, und der sein Leben in Israel mit ganzem Herzen hasst. Er ruft: “Kommt schon! Beschiesst uns und löscht die eine oder andere israelische Stadt aus! Dann kann ich endlich als Kriegsflüchtling nach Europa!” Ich lache. Er lacht nicht.

Die gefühlte Bedrohungslage hat sich seit dem Nay im Britischen Unterhaus entschärft. Die kriegsmüden englischen Lords haben unser Wochenende gerettet.

Donnerstag waren wir wie geplant am Strand, Freitag war ich mit Freunden auf einem kleinen Katamaran segeln (ich liebe mein Leben hier!) … und dachte, während wir in herrlichem Südwestwind vor der Küste kreuzten, ein bisschen weiter raus aufs Meer, da liegen die US Zerstörer und warten auf Zielkoordinaten aus Washington.

Auf der anderen Seite geht das Morden in Syrien weiter. Wo sind die Völker, die sich von ihren Tyrannen befreien und Demokratien starten? Ich verstehe gar nichts. Und es scheint, dass es Obama ähnlich geht. Dabei hatten sie doch letzte Woche die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern neu gestartet …

Denkt das Undenkbare! Das könnte auch ein Zitat aus einem Kurs für angehende Manager sein. So entsteht Innovation! Die Israelis können das gut. Da einen Zusammenhang zu konstruieren, ist aber wohl Schwachsinn.

Abendessen am Strand: Irgendwo da draussen dümpeln die Kriegsschiffe.

Abendessen am Strand, Nachtschwimmer im Wasser: Irgendwo da draussen dümpeln die Kriegsschiffe.

 

Zwei israelische Filme waren im Oscar-Rennen um den besten Dok-Film: The Gatekeepers und Five Broken Cameras. Israel hat aufgeatmet, als keiner der Filme gewonnen hat. Das Thema beider Filme: das besetzte Westjordanland. Hier mit Fokus auf die Sicherheitskräfte und Sicherheitspolitik Israels,  dort mit Fokus auf die traurige Realität der Palästinenser.

Wir waren mit Freunden im Kino in The Gatekeepers. Was mich erst überraschte: Die Wirkung des Films auf Israelis ist viel stärker, als man sich das als Europäer vorstellen kann. Die Reflexionen der alten abgebrühten Geheimdienst-Recken fahren den Israelis ein.

Meine Interpretation: So sehr man als Israeli die Politik des eigenen Landes kritisieren mag; das eigene Land, die Heimat, würde ohne den Sicherheitsapparat nicht existieren. Also ist man der Armee und den Sicherheitsbehörden hauptsächlich dankbar. Die Agenten und Soldaten erledigen das Unvermeidliche. Nicht mehr und nicht weniger. Israel muss sich verteidigen. Israel verteidigt sich erfolgreich. Die Wertschätzung und der Stolz auf diese Leistung hat jeder Israeli im Blut. Auch weil jeder Israeli seinen Dienst leistet und somit ein Teil dieses Systems ist. Weil schon Vater und Mutter im Krieg waren für Israel.

Der Film zeigt eine andere schmerzhafte Realität. Die sechs alten Männer, die die letzten 30 Jahre den Inlandgeheimdienst geleitet haben, geben zu Protokoll, dass die (Sicherheits-)Politik Israels versagt hat. Die blitzgescheiten starken Heldenfiguren brechen aus ihrer Rolle aus. Sie leiden unter ihrer Vergangenheit. Sie zeigen auf, wie hässlich der Kampf gegen den Terror ist. Wie skrupellos Israel agiert (agieren muss?). Und sie geben der Politik die Schuld daran. Sie klagen die Politiker an, die noch immer keine nachhatlige Lösung für die besetzten Gebiete anstreben. Sie klagen an, dass die Politik nie eine echte Strategie verfolgte. Dass nur immer taktisch argumentiert wurde. Und dass nur ein ehrlicher Dialog mit den Palästinensern eine bessere Zukunft bringen kann…

Das sagen keine besserwisserischen Europäer oder linke Träumer, sondern Männer, die mittendrin standen, die den roten Knopf drückten, die Tötungen und Folter verantworten. Die in ihrem Duktus über Tötungen und Folter sprechen – und damit das wahre Gesicht und die dreckige Arbeit der Sicherheitskräfte, der Helden, offenbaren.

Netanyahu sagte: Er schaut sich diesen Film nicht an.

Der Film erschüttert die Gewissheit, dass Israel richtig handelt und dass Israel auf dem richtigen Weg ist. Unbedingt sehenswert. Aber nicht angenehm anzusehen. Vor allem für Israelis.

Dieser Tage werden in den israelischen Medien saftige Scharmützel geführt. Im Politbetrieb wird geklüngelt, verhandelt und intrigiert was das Zeug hält. Es geht um die Ministerposten in der neuen Regierung.

Auch in der Schweiz werden Leute öffentlich angeschwärzt, böse Gerüchte werden verbreitet, der gute Ruf wird mit alten Geschichten ruiniert etc. Aber mir kommt’s vor wie bei vielem: Es knallt hier lauter, keiner hält hinter dem Berg, es wird hemmungsloser zugelangt und gnadenloser ausgeteilt. Heute werden dem Bildungsminister der jetzigen Koalition, Gideon Sa’ar (47), pikante Sexgeschichten angehängt. Und dabei geht’s nicht um einen anzüglichen Spruch oder einen kleinen Klaps auf den Hintern einer Assistentin. Der Vorwurf: Er soll als DJ in einer Bar in Tel Aviv etwas mit einer Minderjährigen unter Drogen gehabt haben. Um ihn garantiert loszuwerden, wird der designierten Nummer 3 im neuen Kabinett gleichzeitig per öffentlichem Brief eine Affäre mit einer Büromitarbeiterin angehängt (Jerusalem Post, 20.2.13). Er ist bereits geschieden und offiziell mit einem TV-Starlet liiert… Ein anderer wichtiger Mitarbeiter Netanyahus wurde bereits abserviert, weil er mit dem Handy unter dem Sitzungstisch private parts einer Mitarbeiterin fotografiert hatte – wobei der eigentliche Skandal in diesem Fall war, dass Netanyahu ihn trotz Berufsverbot stillschweigend weiterbeschäftigte (Globalpost, 29.1.13). Lieberman, der Aussenminister, steht vor Gericht wegen Untreue … es läuft was.

Der neue Justizminister, der junge, zugedröhnte Groupies vernaschte? – Sowas steigert nicht unbedingt das Vertrauen in die Regierung. Aber solche unmöglichen Geschichten machen Israel. Im Guten wie im Bösen: Es liegt mehr drin hier.

Heute hatte ich Schulfrei. Wahltag ist ein Bank-Holiday in Israel. Büros und viele Läden waren geschlossen. Der Bürger wird für seine Pflichterfüllung mit einem freien Tag belohnt. Der Mann am Kiosk sagte mir: «Es ist der einzige freie Tag (Chofesh) ohne Feiertag (Chag) in Israel.» Sprich: Ohne traditionelle Pflichten, ohne Familienzeremonie, ohne Erinnerung an eine historische Tragödie etc. Der Kioskmann arbeitete natürlich trotzdem. Die ganze Stadt war unterwegs bei Flanierwetter, sonnig angenehmen 23 Grad. Ich habe die Tel Aviver auf der Strasse noch nie so entspannt erlebt.

Beim Wählen ist alles gleich wie zuhause und doch anders. Man steckt einen Zettel in einen Umschlag und wirft den Umschlag in eine Urne im Quartierzentrum. Gabi hat auf meinen Wunsch hin die Links-aussen-Partei Meretz eingelegt. Ich habe keine Ahnung, was in deren Programm steht. Aber es scheint mir, das Land braucht Linksdrall.

Wen immer ich in den letzten Wochen fragte: Alle rätselten, wen man wählen müsste, um Bibi abzuwählen. Während Bibi die Rechte mehr oder weniger hinter sich brachte, waren bei der Linken viele halbstarke Einzelkämpfer im Spiel. Jetzt hat offenbar George Clooney-Verschnitt Yair Lapid profitiert von seinem Promi-Bonus als bekannter Journalist, Autor und TV-Host. Im Wahlkampf hatte die Linke den Politneuling als ahnungslosen Schulabbrecher verspottet. Die Rechte hatte ihn ignoriert. Mit seinem ‘Zukunfts-Programm’ und mit einer Best-of Sammlung hoffnungsvoller Phrasen für die Mittelschicht, die er sich als TV-Profi bei Obama und Co abgeschaut hat, bringt er es nun mit seiner neuen Partei aus dem Stand zur zweitstärksten Fraktion im Parlament. Das ist wie wenn Roger DeWeck oder Peter Rothenbühler heute eine neue politische Partei gründen, und damit bei den nächsten Wahlen in den Bundesrat einziehen würden.

Heute Abend feiern im Fernsehen alle Parteien ihren Wahlsieg. Wie überall auf der Welt. Die einen ehrlich glücklich. Die anderen mit Frust und Krampf im Lächeln. Gewonnen hat King Bibi, wie von allen vorhergesagt. Auch wenn die Links/Mitte-Parteien einen Achtungserfolg eingefahren haben. Bibi wird (vorerst) weiter regieren. George Clooney hin oder her. Am Ende heisst’s hier: Netanyahu. What else ..?

Welche Partei vertritt meine Interessen? – Ein Online-Fragebogen hilft bei der Wahl-Entscheidung. Nebst den Fragen, die ich aus der Schweiz bestens kenne (“Sollten Arbeitslose jede angebotene Stelle annehmen müssen?”) gibt es auch einige sehr ‘israelische’ Fragen.

Fragebogen: Sind Sie eher für oder gegen Meinungsfreiheit?

Fragebogen: Wie wichtig ist Ihnen Religionsfreiheit?

Die Grafikerin sagte mir Freitag beim Frühstück: «Man kann sich wohl an den Raketenbeschuss gewöhnen, wie sich Frauen an ihren prügelnden Ehemann gewöhnen. Man liebt und leidet.» Raketen-Alarm in Tel Aviv ist auch für Israelis keine Alltäglichkeit. Aber Israelis wachsen in diesem Bewusstsein auf, in dieser Realität, die ich jetzt hautnah kennenlerne: Israel im Krieg ist gewissermassen Normalzustand. Es herrscht kein Ausnahmezustand. Ich bin im Ausnahmezustand. Willkommen zu Hause.

Draussen vor meinem Fenster rennt jemand die Baselstrasse runter – ich horche auf. Alarm? Nichts. – Heute früh, noch im Bett, schrecke ich hoch beim Aufheulen eines Autos, was sich entfernt wie die Sirene anhört. Nichts. – Mein Banknachbar in der Ulpan-Schule flüstert mir mitten im Unterricht zu: «Ist das eine Sirene?», steht auf und öffnet das Fenster. Nichts. – Heute bleibt es ruhig in Tel Aviv. Aber die Nerven sind gereizt. Die Strassen sind tagsüber ruhig wie an einem Feiertag, nur der Berufsverkehr brummt am Morgen und am Abend wie immer. Ein Abendessen mit Freunden wird abgesagt. Die Schwester von G sucht gestern bei uns Nestwärme, sie wohnt alleine in einer kleinen Studentenwohnung, sie übernachtet bei uns… Wir geben unseren Plan auf, das kommende Wochenende für ein paar Tage wegzufahren; die für den Krieg eingezogenen Ärzte fehlen im Krankenhaus, G wird arbeiten müssen … (Wohin auch fahren: In den Süden Richtung Gaza und Raketen? In den Norden auf die Golan-Höhen, in Sichtweite des syrischen Bürgerkriegs?) Das Leben in Tel Aviv geht nur auf den ersten Blick weiter wie immer.

Das Goethe-Institut Tel Aviv lädt diese Woche ein zu «Brüder Grimm und das Böse im Märchen». Vielleicht sollten wir da hingehen. Am Ende siegt immer das Gute. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Vor einem Jahr haben mich solche Scharfmacher-Texte in der Jerusalem Post noch berührt und beunruhigt:

“On Iran, the thing to fear might be fear itself – Overconfidence should be avoided, but an army is useless if you’re afraid to use it.”

“Bezüglich Iran: Furcht ist, was wir fürchten müssen – Überzogene Selbstsicherheit sollte vermieden werden. Aber eine Armee ist nutzlos, wenn man sie nicht einsetzt.”

Was will der Kommentator sagen: Wer eine gute (will nicht sagen: die beste) Armee hat, sollte gefälligst auch Krieg führen? Wer nicht in den Krieg zieht, kann den Krieg nicht gewinnen? Dass Israel bitte nicht aus Angst vor Krieg einen Krieg vermeiden sollte? Ihr seid alles Memmen, ich habe den Grössten?

Heute ringt mir das ständige Säbelrasseln ein etwas trauriges Lächeln ab. Zuviel wird hier gelärmt, gedroht, gezetert … man gewöhnt sich daran wie an den Autobahnlärm im Schlafzimmer.

A propos: Verteidigungsminister Ehud Barak hat gestern in einem Interview den Krieg mit dem Iran auf nächsten Sommer verschoben. Nach den Wahlen. Iran habe offenbar beschlossen, mit dem Bau der Atombombe noch ein Weilchen zuzuwarten. Also brauche man jetzt nicht sofort einen Krieg. Aber nächsten Sommer könnte es dann sein …

„In diesem Jahr liegen wir vor Ländern wie den Vereinigten Staaten, Singapur und Iran“, sagt Victor Malamud, Leiter eines Förderprogramms für Jungforscher an der Ben Gurion-Universität, in der Haaretz. „Das ist eine fantastische Leistung.“

Grund für den Jubel: Yuval Katzenelson, Schüler aus Israel, hat einen ersten Preis gewonnen am internationalen Physik-Wettbewerb für Nachwuchsforscher „First Step to Nobel Prize“. Und 12 andere Israelische Jungforscher wurden mit ihm ausgezeichnet. Der Preis wird von einer Uni in Polen ausgetragen, Sponsoren kommen hauptsächlich aus Indonesien und einigen anderen Ländern in Fernost und die Webseite des Veranstalters ist eine Zeitreise in Internet-Welten der frühen 90er-Jahre. Herzliche Gratulation!

Wie Malamud in dem Artikel in der Haaretz auf die Auswahl der besiegten Länder kommt, würde ich ihn gerne fragen: “… vor Ländern wie den Vereinigten Staaten, Singapur und Iran.” Hm. Klar, die Amerikaner zu schlagen ist immer eine besondere Auszeichnung. Die in Singapur haben viel Kohle, aber ansonsten weiss ich nicht, was Singapur in dieser Dreierreihe verloren hat. Und Iran? Da tut’s einfach gut, denen wo immer möglich eins auszuwischen. Alles ist so politisch hier!