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Typisch Israel

In loser Folge: Beispiele für Gegensätze, die mich als Neuling in Israel ratlos machen ..

Sünde! Sünde! – In den Hochburgen der Ultraorthodoxen in Jerusalem oder in Beit Shemesh haben die extremen Orthodoxen die Hosen an. Es werden Werbeplakate, auf denen Frauen zu sehen sind, weggerissen (oder gar verboten), Ladenbetreiber werden von radikalen Orthodoxen zum Teil gewalttätig bedrängt, ihr Sortiment auf genehme Produkte zu beschränken …

Sünde! Sünde! – Die Stimmung in den Bars und Clubs des jungen Tel Avivs könnte lockerer nicht sein. Am Strand schöne Körper so weit das Auge reicht. Auf der Strasse mehr Hotpants und Minis als sonstwo auf der Welt – es ist heiss hier.

Meine Freundin und viele andere hier im jungen Tel Aviv trauern den Zeiten nach, als ‘echter Friede’ war mit den Ägyptern, und man den 5-Euro-am-Tag-All-Inclusive-Starndurlaub in Strohhütten bei den Beduinen am Roten Meer verbrachte. Kiffend, schnorchelnd, essend, rauchend, lesend, teetrinkend, tauchend, schlafend – bei 40 Grad plus.

Nach Ausbruch der zweiten Intifada 2000 knickte der Tourismus aus Israel ein und erholte sich in den Jahren danach nur langsam. Nach den ‘Sinai Bombings’ 2004 traute sich keiner mehr über die Grenze. Drei bei Israelis beliebte Urlaubsorte wurden gleichzeitig von Terroristen angegriffen. Über ein Dutzend Israelis wurden getötet, 32 Menschen insgesamt kamen ums Leben.

Seit DEM Frühling 2011 in Kairo wirft die israelische Regierung Kairo ausserdem vor, nicht genügend Kontrolle über die Banditen und Terroristen in der Wüste auszuüben. An der Grenze kam es in den letzten zwölf Monaten zu einer Handvoll Scharmützeln zwischen der israelischen Armee und Terroristen aus dem Gazastreifen, Palästinensern, Beduinen, Schmugglern, Polizisten, Grenzern – wem auch immer da drüben. Ein 250 km langer israelischer Grenz-Zaun soll bis Ende 2012 fertiggestellt werden.

Manche Israelis wissen gar nicht, dass es überhaupt möglich ist, hinzufahren. Die Angst vor “den Terroristen da draussen” wirkt wie eine dunkle unüberwindbare Wand entlang der Grenzen Israels.

Hier ein Artikel zum Thema von einer, die sagt: So gefährlich ist das gar nicht! Freunde von uns waren auch da – wir trauen uns nicht. Bis jetzt.

Love affair with Sinai unabated (By LINDA EPSTEIN 07/21/2012)
Does the idyllic setting of Sinai compensate for its “danger” factor?

Nachtrag vom 6. August: Gestern wurde ein ägyptischer Sicherheitsposten im Grenz-Dreieck Gaza/Israel/Ägypten attackiert. Die militanten Kämpfer töteten 10-15 ägyptische Beamte/Soldaten und erbeuteten gepanzerte Fahrzeuge, mit denen sie dann ein israelisches Grenz-Camp angriffen. Die Israelis schlugen den Angriff zurück und töteten einige der Kämpfer. Wo ist Mad Max?

Kulturschock! In Israel prüft kein Verkäufer meine Unterschrift, wenn ich mit Kreditkarte zahle! Was ist denn hier los? Der Schweizer in mir versteht das nicht. Da könnte ja jeder kommen!

Vielleicht geht die Erklärung dafür so: Das kleine Land Israel lebt von gegenseitigem Vertrauen, überliefert aus den Gründerjahren, als die Kibbuzim als Kooperativen funktionierten. Als man sich das Einkommen aus den verkauften Orangen teilte und gemeinsam im Speisesaal zu Abend ass. “Mein jüdischer Bruder wird mich nicht betrügen. Wir sind eine grosse Familie!”

Oder so: Polizei und Geheimdienst haben einen perfekten Überwachungs- und Repressionsapparat aufgebaut, um den Terrorsumpf auszutrocknen. Und im Vorbeiweg haben sie auch die Kleinkriminalität abgeschafft. Es ist hier alles so gut überwacht, dass man mit dieser plumpen Art des Diebstahls nicht davonkommt.

Wahrscheinlich ist das alles viel zu weit gesucht. Es muss nicht alles hier mit dem ‘Konflikt’ oder mit den Mythen aus der Gründerzeit erklärt werden. Der von Haus aus maximal pragmatisch, praktisch und ökonomisch handelnde Israeli denkt sich wohl schlicht und einfach: Wenn einer die Unterschrift fälschen will, ist das ein Leichtes. Also was soll ich mir die Mühe machen, das zu überprüfen? Ich mache mich ja nur lächerlich.

Ein ganz kleines bisschen staunt der Schweizer in mir auch nach Monaten noch, dass ich davonkomme mit einem hingezeichneten Kreuzchen auf dem Kreditkartenbeleg. Einem Blümchen. Einem Sternchen… Und dann bin ich glücklich, hier leben zu können. Und ich denke an all die Spiesser in der alten Welt, die sich empören, wenn ihre Unterschrift nicht geprüft wird, weil die Regeln nicht befolgt werden – und ich vermisse dieses Denken kein bisschen.

Ich lese die Meldung aus der Kabinetts-Sitzung der israelischen Regierung wieder und wieder:

7. The Cabinet decided to continue support, in partnership with the Jewish Agency for Israel, of the “Morasha” program, which is designed to introduce Jewish students from around the world, aged 17-30, to the State of Israel and the Jewish People and prevent assimilation via a two-year course of studies to enrich their knowledge of Judaism and Israel.

Ich lese: Die Regierung unterstützt ein Programm, um der ‘Assimilation’ jüdischer Studenten im Ausland entgegenzuwirken. Sprich: um die jüdische Identität und die Identifikation mit israel zu fördern. In meinem kleinen europäischen Kopf ist Assimilation und Integration bisher nur im politischen Kontext der lärmigen Integrationsdebatte in Deutschland und in der Schweiz vorgekommen. Integration als hohes Ziel für alle. Hässliches Stichwort: Leitkultur.

Deutschland schimpft auf die Türken, die sich nicht integrieren. Die Linke fordert von der Regierung mehr Integrationsprogramme, die über Sprachkurse hinausgehen. Die israelische Regierung unterstützt Programme zur Verhinderung von Assimilation im Ausland. Ein gewöhnungsbedürftiger Gedanke. (Gleichzeitig gibt es natürlich hier im Einwandererland Israel sehr weitreichende Programme zur Integration und Assimilation der vielen Einwanderer. Wobei nicht-jüdische Einwanderer konsequent diskriminiert werden. Was damit beginnt, dass de facto nur jüdische Einwanderer als ‘Einwanderer’ gelten.)

Ob die Türkei ähnliche Programme zur Verhinderung von Assimilation in Berlin-Kreuzberg unterstützt? – Wie … ist das kein fairer Vergleich? – Ist es besser vergleichbar mit Unterstützung aus dem Vatikan für katholische Jugendprogramme, draussen in der Welt?

In Tel Avivs Strassen sieht man wenig Uniformen. Besuch aus der Schweiz ist gerne überrascht, wie “friedlich” es hier aussieht. Doch jeder (jüdische) Israeli war drei Jahre seines Lebens im Wehrdienst, Frauen zwei Jahre. Die Armee ist Teil jedes Isrealis. Der ewige  Kampf um die Heimat ist verinnerlicht. Es patrouillieren keine Panzer in Tel Aviv aber die Armee hat eine unendlich wichtige Rolle hier in Israel.

Nach dem Attentat diese Woche auf israelische Touristen in Burgas, Bulgarien, wurden die sieben Toten gestern in einem Jet der Luftwaffe nach Hause überführt. Eine Zeitung meldete: “Am Flughafen Ben Gurion wurde eine militärische Zeremonie abgehalten” zu Ehren der Opfer. Eine militärische Zeremonie für Touristen, die in Bulgarien von Terroristen in den Tod gerissen wurden? Als Angehöriger hätte ich auf diese traurige “militärische Ehre” verzichten wollen. Das waren Zivilisten! Sie waren nicht im Krieg! – Oder waren sie es doch?

“Der Iran war es”, hiess es in Netanyahus Stellungnahme unmittelbar nach dem Anschlag. Das mag richtig sein. Doch die polizeilichen und geheimdienstlichen Untersuchungen waren zu dem Zeitpunkt eben erst angelaufen. Netanyahus Schuldzuweisung zementiert natürlich in erster Linie das Feindbild Iran weiter. Darüber hinaus lässt die Rhetorik der Regierung aber auch keinen Zweifel daran: die getöteten israelischen Touristen sind Kriegs-Opfer.

Bin ich nur überempfindlich, weil mich die Logik dieses un-greifbaren Kriegs ohnehin verrückt macht? Israel liquidiert seine Feinde im Ausland –  Atomwissenschaftler im Iran, Hezbollah-Führer in Dubai – und versteht dann seine getöteten Touristen als mlitärische Opfer.

Was macht diese Logik aus mir, der ich hier in Israel lebe?

Was mich seit dem ersten Tag hier verrückt macht, sind die unlösbaren, offensichtlichen Widersprüche in diesem Land, in dieser Kultur, in der Befindlichkeit der Menschen hier, in den Strukturen der israelischen Gesellschaft.

Ich kann damit nicht gut umgehen. Wie kann ein Land so fortschrittlich und so rückständig sein, gleichzeitig? So tolerant in eine Richtung und so intolerant in eine andere? Wie kann ein Volk so maximal pragmatisch und so ungebrochen fanatisch handeln? Israel provoziert eine Hassliebe, es geht nicht anders, scheint es. So geht es nicht nur mir. So geht es den allermeisten Israelis, die ich kenne.

In loser Folge ein paar Beispiele für Gegensätze, die mich als Neuling hier ratlos machen. Hier als Nummer 1 ..

Wir sind die Grössten – Unsere Armee hat die ganzen Araber hier Mal für Mal klein gemacht. Iran? Wenn ihr uns lässt, machen wir die platt. Kein Problem für uns. Unsere Piloten sind die besten. Gegenschläge? Die israelische Armee hat keine echten Gegner. Was also soll schon passieren?

Wir sind Opfer – Seht ihr nicht, dass wir uns als kleine friedliche Einheit in einer riesigen feindlichen Masse behaupten? Der Antisemitismus wächst ungebremst (und unwidersprochen) in der ganzen Welt. Stoppt die Hasskampagne gegen Israel!