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Typisch Israel

Natürlich, in diesen Zeiten, wenn geschossen wird, wird man ausgelacht, wenn man nach einer echten Lösung für den Konflikt fragt. Im Hotel Intercontinental unten am Strand fand gestern absurderweise die Haaretz Peace Conference statt.

Die erste Sirene am Abend erwischte die Gesellschaft aus NGOs, Medien und Politikern kalt. Als wollten die Hardliner in der Regierung den Diskutierenden und Fragenden sagen: Haltet die Klappe, jetzt sind wir dran.

Bitter finde ich, wie wenig die Regierung zu hören kriegt, dass sie Schuld trägt, weil sie noch immer keinen Frieden möglich gemacht hat. Diese Verantwortung zum Frieden trägt hier keiner. Nur die Verantwortung, das nächste Feuer zu löschen.

Im Feuerlöschen sind sie gut – keine Frage.

Jetzt gehts wieder rund, am frühen Abend hatten wir Raketenalarm. Gabi stand unter der Dusche, schamponiert, also blieben wir im Badezimmer ein paar Minuten stehen bis der Alarm durch war. Ist ja schön geschützt dort.

Ich hatte die Sirenen lauter in Erinnerung.

Hoffentlich kommt es nicht zu einer massiveren Eskalation als bei der letzten ‘Operation’ vor 18 Monaten im November.

Die Hamas sagt, sie wird uns überraschen.

Ich hoffe nicht.

Seit Ende der ‘Friedensverhandlungen’ vor zweidrei Monaten juckte der Finger am Abzug. Je länger je unerträglicher. Jetzt kann er endlich durchziehen. Aufatmen. Es herrschen wieder klare Verhältnisse.

Für viele Israelis ist klar: Dort sind die Tiere, die Teenager entführen und tot verscharren und Raketen auf Unschuldige schiessen. Hier die unbesiegten Helden und Beschützer Israels die nur ihre Arbeit machen – uns beschützen.

Alle sagen immer, die Situation hier ist komplexer, als der verwöhnte verweichlichte friedensverwöhnte Europäer denkt.

Ein Einwand mit einer gewissen Berechtigung.

Aber wirklich kompliziert wird es ja nur, wenn man über Frieden nachdenken muss.

Die Raketen, die toten Teenager, die gewalttätige Eskalation sorgt für eine grosse pervers erleichterte Klarheit und Einfachheit der Verhältnisse: Blinde Wut, Angst und Hass. Die Entführung der Teenager hat hüben wie drüben hässliche Hassgefühle entfesselt, mit einer Art perversen Erleichterung fast wurde all dieses Übel freigesetzt.

“Sie schiessen auf uns, diese Tiere entführen und töten hinterrücks Teenager. Jetzt schlagen wir zurück. Die ungeschlagene israelische Armee schützt und rettet uns.”

Wer will nicht beschützt werden im Angesicht von Raketen schiessenden Nachbarn.

Das Badezimmer sei kein sicherer Ort, sagen sie jetzt im TV. Drei Stunden lang wird live aus allen Landesteilen berichtet, Raketenalarm hier und dort, aber bis jetzt keine Treffer – und sie melden absichtlich Unwahrheiten im TV um die Hamas zu verwirren, man will ja keine Zielhilfe leisten.

Und ein gutes Dutzend tote Palästinenser in Gaza.

Ich versteh kaum ein Wort von dem was sie sagen am TV, aber gerade eben gabs die erste Werbeunterbrechung.

Wohl ein gutes Zeichen. Ausgeschossen. Ruhe.

Dann brüllendes Geschrei draussen auf der Strasse, in der Nachbarschafts-Bar – 1:0. Deutschland schiesst sich warm.

Schauen die in Gaza auch Fussball-Weltmeisterschaft?

Mittsommer hat hier kaum eine Bedeutung. Die Tage im Sommer sind nur unwesentlich länger. Es ist immer Sommer. Gerade sitze ich im Zug von Haifa (Büro, Nord-Israel) nach Tel Aviv (Zuhause). Es geht den sandigen Dünen am Mittelmeer entlang und die tief stehende Abendsonne vergoldet alles.

Heute Nachmittag, im Büro, hat’s draussen aus heiterhellem Himmel laut gerummst, die dünnen Fenster zitterten. Der Tischnachbar sagte: Das sind Lawinensprengungen. Ich lachte. Niemand weiss, was es war.

An der Grenze zu Syrien starb am Mittag ein Israeli, hatte ich in einer Schlagzeile gelesen.

Syrien ist vom Büro geschätzte 50 Kilometer Luftlinie weg.

Mittag hatte ich zum ersten Mal alleine mit Hanan gegessen, einem netten jungen Familienvater. Er hatte das Bedürfnis, über Politik zu sprechen. Über die Entführten drei Jugendlichen, und wie die israelische Politik/das israelische Militär das missbraucht, um die Hamas zu bestrafen und zu quälen.

Dann verwandelte sich sein Gesicht von einer Sekunde zur nächsten in das eines alten Mannes: “Ich war in Gaza, im Militär, als wir noch Gaza besetzten. Ich sah die Männer, die einfach nur zur Arbeit wollen. Die Kids, die Steine nach uns warfen – für die ist es ein Spiel.” Grau, traurig, selbst seine Zähne wurden aschig, er hatte Mühe zu atmen.

Wir waren fertig mit dem Lunch. Wir standen auf. Ich weiss nicht mehr was er sagte, ich glaube etwas über Musik oder Fernsehen oder Kino…

Nach einem Jahr Pause habe ich mich wieder für Hebräisch-Unterricht eingeschrieben. Ich wiederhole die 2. Klasse, Kurs “Bet”. Neulich in Ulpan ging es darum, welche Bücher wir kennen und lieben. Jemand erwähnte Saint Exupéry’s Der kleine Prinz, hebräisch Ha Nasich Ha Katan.

Der Kleine Prinz! Die Lehrerin war happy. Israelis kriegen glänzige Augen, wenn sie an den Kleinen Prinz denken.

Doch dann fragten andere in der Klasse: “Wer ist der kleine Prinz?” Der Uruguayer, der Kanadier, die Kasachin … die Hälfte unserer kleinen Klasse kannte den Kleinen Prinz nicht! Die Lehrerin schien ehrlich geschockt.

Sie wollte nicht glauben, dass jemand den Kleinen Prinz nicht kennt!

Es ist das meist-verkaufte und meist-übersetzte französische Buch (Wikipedia). Ich kenne den Titel von früher, aus dem Französischunterricht … Man sollte meinen, jeder kennt den Prinzen.

Mir schien immer schon, dass die Israelis eine innigere Beziehung zum kleinen Prinzen haben, dass ihnen die Begegnung des Bruchpiloten Saint Exupéry mit dem kleinen blonden Ausserirdischen in der Wüste besonders nahe geht.

Ins aufgeregte Gemurmel der Lehrerin hinein sagte ich in der Klasse: „Israel ist Seinfeld und Petit Prince,“ und erntete einige Lacher damit.

Ich meinte es ernst. Seit ich hier bin begegnen mir immer mal wieder Zitate und Anspielungen auf das Buch oder die TV-Serie. Die beiden Titel gehören hier zur Leitkultur.

Bei der TV-Serie Seinfeld ist alles klar: Jüdischer Humor. Natürlich stehen die Israelis drauf. Aber Saint Exupéry war ja nicht mal jüdisch! Woher kommt diese Liebe zum kleinen Prinzen?

„Ihr Israelis habt so ein Glänzen in den Augen wenn man den Petit Prince erwähnt …“ sagte ich später zu Gabi.

Sie antwortete: „Ein Glänzen in den Augen?” als hätte ich sie an etwas erinnert.

“Es gibt da noch ein Lied,“ sagte sie dann. “In dem Lied stirbt der kleine Prinz, und es geht darum, dass er all das, was der Kleine Prinz erlebt, nicht erleben wird.” Natürlich stirbt der kleine Prinz in Israel nicht an Keuchhusten …

Jonathan Gefen, einer der Überväter der israelischen Popmusik schrieb den Song “Ha Nasich HaKatan” in den 70er-Jahren. Der erste Vers beginnt wie das Buch mit einem kleinen blonden Jungen mitten in der Wüste.

Wie im Buch zeichnet auch der Erzähler im Lied ein Schaf und ein Bäumchen für den Jungen.

Aber im zweiten Vers dreht der Wind: “Der kleine Prinz von Einheit B / Er wird nicht mehr sehen, wie das Schaf die Blume isst / Seine Lilien sind alle dornig / Sein kleines Herz ist kalt wie Eis.”

Und weiter: “Wenn du mal hierherkommen solltest / Wisse, dass er hier mit seinem Fallschirm gelandet ist / Und wie er fiel, das hörte keiner / Denn der Sand ist weich.”

Wenn man dem kleinen blonden Prinz begegne, solle man “unseren Müttern einen Brief schreiben”, und ihre Trauer lindern mit der Nachricht, dass der kleine Prinz von Einheit B zurückgekehrt ist.

Das Lied ist eine fixe Grösse im Liederkanon der jährlichen Gedenkfeiern am Memorial Day, dem Feiertag im Frühling, wo ganz Israel zuhause vor dem Fernseher oder in einer der grossen Trauerfeiern den Toten gedenkt, den Kriegs-Opfern, den Helden, den toten Söhnen und Töchtern …

Der Kleine Prinz in Israel ist also kein Ausserirdischer, sondern ein Fallschirmjäger von Einheit B, gefallen in der Wüste?

Ist die ganze Liebe der Israelis zu Exupérys Geschichte also eine Fata Morgana?

Woran denken sie, wenn sie an den kleinen Prinzen denken?

Ich fand es immer süss, dass die Israelis den Kleinen Prinz ins Herz geschlossen haben. Als wäre er einer der ihren!

Was für eine schreckliche Idee, den Held aus einem Kinderbuch als jungen Soldaten sterben zu lassen. Das ist, als würde man Nils Holgerson’s Gänse von der Luftabwehr abschiessen lassen.

Zu gerne wüsste ich jetzt, wer hier in Israel beim kleinen Prinz an den Ausserirdischen denkt – und wer an den gefallenen blonden Sohn Israels und an seine weinende Mutter … Es ist ein Kriegervolk hier. Nicht mal den Kleinen Prinz verschonen sie.

 

THE LITTLE PRINCE

I met him in the heart of the desert
How pretty the sunset is to a sad heart
I painted him a tree and a ewe on paper
And he promised me he would return

The Little Prince from unit “B”
He no longer will see the ewe that eats the flower
And all of his lillies are thorns now
And his little heart is as cold as ice

And if sometime you arrive here
Know that here he parachuted
And the sound of his fall was never heard
Because of the soft sand

And if a boy should appear there
With laughter in his face and golden hair
Know that is him, and offer him a hand
And wipe the desert sand from his eyes
And then do me one small favor

Write quickly, please, to all of our mothers
To relieve them a little and alleviate their sadness
“The Little Prince has returned to us!”
The Little Prince of unit “B”

He no longer will see the ewe that eats the flower
And all of his lillies are thorns now
And his little heart is as cold as ice.
I met him in the heart of the desert.

Das 11 Minuten-Porträt des palästinensischen SodaStream-Fabrikarbeiters wurde in Haaretz Online präsentiert mit dem Kommentar “Wer nützt hier wen aus”. Der junge palästinensische Vater im YouTube-Video fährt jeden Morgen zu seiner Arbeit im jüdischen Settlement Ma’ale Adumim in der besetzten Westbank, am Abend wird er mit dem Firmenbus wieder nach Hause gebracht.

Der palästinensische Fabrikarbeiter sagt: “Ich bin dagegen, in Settlements zu arbeiten, weil ich gegen Settlements bin. Aber ich arbeite im Settlement.”

Weil er sonst keine Arbeit finde, sagt er.

Der Film gibt sich betont unpolitisch, er zeigt die Zerrissenheit des Familienvaters, dessen einzige Möglichkeit, Frau und Kind zu ernähren darin liegt, beim Feind anzuschaffen.

Der Mann spielt liebevoll mit seinem kleinen Sohn.

Der Film suggeriert dann, dass der Mann aus Angst um seine Arbeitsstelle seine wahre Meinung nicht sagen will. Der Interviewer sagt: “Wir sind nicht von SodaStream.” Der Mann fragt: “Wird dieser Film den Leuten von SodaStream gezeigt? Die haben mich für diesen Film ausgesucht, weil sie wissen, dass ich ihnen keine Probleme mache.”

In der nächsten Szene sitzt er mit einem Notizbuch voller Gedichte am Küchentisch. Er dichtet, dass der Tag kommt: “The monster in me awakens, ready to torture and slaughter.”

Sind alle Palästinenser schlafende Monster?

Ich weiss nicht, ob der Film darauf angelegt war, diese Essenz israelischen Denkens zu zeigen. Alle wissen hier: Das Monster wächst, dort, hinter der Mauer, hinter den Checkpoints (die im Film nicht gezeigt werden), am anderen Ende der Strasse.

Heute trauert Israel um seine gefallenen Soldaten. Als ich das erste Mal dabei war, wie Tausende zur Feier auf dem grossen Rabin-Platz strömten, fehlte mir die Volksfeststimmung, es gibt keinen Grill-Stand von Bell am Strassenrand, keine T-Shirts und Ballone und keine Feldschlösschen Bierzelte. Gabi meinte: „It’s not a celebration!“ Es gilt ernste, fast heilige Trauerpflicht für’s ganze Land. Alles ist geschlossen heute Abend, Läden, Kioske, Bars, Restaurants.

Zur Bekräftigung und Bestätigung dass die gefallenen Soldaten nicht umsonst ihr Leben liessen haute Netanyahu die Schlagzeile raus: „Israel ist die Heimat eines Volkes – der Juden.“ Purer Rassismus.

Ich whatsappte die Schlagzeile an Freunde. „Jude sein ist eine Frage der Einstellung,“ schrieb eine zurück. „Aber ich mag die Schweizer,“ schrieb eine andere.

Die linke Politik schrie auf, man werde keine Einschränkung demokratischer Grundwerte zulassen, Israel sei ganz zuerst eine Demokratie mit gleichen Bürgerrechten für alle und erst dann die Heimat der Juden etc etc.

Und ich sitze in unserem Garten und gegen acht wird es still auf der Strasse, die lauten Dieselbusse fahren nicht mehr.

Leute spazieren die Strasse runter, in Richtung Rabin Platz.

Um 20 Uhr heult die alles betäubende Kriegs-Sirene los, ein langgezogener schriller ton, nicht das auf und ab der Raketenalarme. Alles steht still. Eine Minute lang heult ganz Israel, wer am Tisch sitzt, steht auf, wer im Auto unterwegs ist stoppt, steigt aus. Ich im Garten. Gizmo der Kater miaut.

20 Uhr 01 Autotüren fallen zu. Motoren heulen auf, die paar wenigen Autos und Busse auf der Dizengoff fahren weiter.

Von der Klagemauer mit Staatspräsident und Ehrengarde geht’s via Schaltung ins TV-Studio raus zur Live-Schaltung von der Feier in Rishon Le Zion, eine Stadt südlich von Tel Aviv.

Auch hier in Tel Aviv auf dem Rabin-Platz wird mit Kerzen, Streichern und sehr mittelmässigen Sängern vor Videowänden den Soldaten gedacht. Gespielt werden Lieder, die für Aussenstehende wie mich wie schlechter Heimatpop klingen, die aber für Israelis sentimentale Herzensangelegenheit sind, nicht zuletzt weil sie jedes Jahr an Memorial Day vorgetragen werden.

Auf den Videowänden und zuhause im Fernsehen werden zwischen den Songs und Reden die Porträts gefallener Soldaten und ihre Geschichte in 3:30′ Form vorgestellt: Mama erzählt eine Anekdote, Kinderfotos werden eingeblendet, Papa erzählt eine Geschichte, Fotos, mit Kameraden, mit der Freundin, dann weinen sie und die Streicher setzen ein fürs nächste Lied.

Schnitt ins Publikum zu weinenden schönen Menschen, die ich oder du sein könnten, die alle diese Lieder im Herzen tragen, und die weinen weil sie diesen Soldaten auf der Videowand gekannt haben, oder weil sie einen Bruder, Onkel oder Cousin haben der im Krieg gefallen ist, oder ganz einfach weil alles so traurig ist.

In den USA ist Memorial Day der Tag für BBQs und Shopping. Hier ist es das sehr lebendige Ritual einer Nation in ständiger Kampfbereitschaft. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

memorialday

Memorial Day Zeremonie auf dem Rabin Platz (2012)

Es ist Purim, alle verkleiden sich als Piraten, scharfe Politessen und Krankenschwestern, Sträfling, Superheld(in), Bunny oder gelbe Mäuschen. Made in China-Kostüme gibt’s für wenig Geld an jeder Ecke.

Ich war letztes Jahr in einem blauen Austin Powers Anzug aus Polyester an einer Party, wo noch zwei oder drei andere dieselbe ‘Idee’ hatten. (Supermodel Bar Refaeli war angeblich auch auf der Party, aber ich erkannte sie nicht in ihrem Kostüm). Frida Kahlos und John Lennon sind beliebt für anspruchsvollere Gesellschaften.

Bugs Bunny’s Walk of Shame. Fällt nicht auf an Purim.

Ein Volk von Kriegern lässt an Purim zwei Tage und Nächte lang das Kind raus. Ist doch normal. Ganz zu schweigen davon, dass man auch jahrum im Alltag nicht schlecht fährt, wenn man den ungeduldigen, ungezogenen Israeli manchmal nicht ganz für voll nimmt, sondern als Kindskopf behandelt.

“Do you also have Halloween?” fragt mich ein Kollege auf Arbeit.

“We have Fasching.” sage ich.

“FASCHING!” brüllt er ins Büro.

Typisch deutsch! Fasching! Nur ein paar Buchstaben weg vom Faschismus! 

Es ist so ein Ding mit Deutsch hier.

Bis vor einigen Jahren fürchtete man als Deutsch-Sprechender, von Holocaust-Überlebenden ‘erwischt’ zu werden. Jenes Israel kenne ich nur aus Erzählungen.

Meine Nachbarn und die Leute, die heute neben mir im Bus oder Restaurant sitzen, die haben ganz andere Deutsch-Erfahrungen. Partys im hippen 20xx Berlin beispielsweise.

Immer wieder wird einem auch das “AUFMACHEN!! SHNELL!! PAPIEREN!!”-Deutsch aus den Zweitweltkriegs-Klamottenfilmen vorgeführt, das einem auch in den USA ständig um die Ohren gehauen wird. Das hat mehr mit Hollywood als mit Israel zu tun.

Oder dann eben das Pornodeutsch. Was ich von vielen schon gehört habe, und noch immer nicht ganz glauben kann: Deutsch ist hier die Sprache für versauten Sex.

Für Israelis meiner Generation wurde Deutsch offenbar radikal umbesetzt, weil die deutsche Porno-Video-Industrie willig hierhin exportierte, und weil RTL und SAT1 Ende der 80er-Jahre per Satellit ihre “Französischen Kusinen” und “Es Juckt in der Lederhosen”-Softpornos am Spätabend auch nach Israel ausstrahlten.

Wer hätte gedacht, was für eine Image-Kur die Produzenten da ihrer Muttersprache verpassten. Aus dem Konzentrationslager-Deutsch ruckizucki zum Matratzenlager-Deutsch. In Serbien wurde ich Ende 90er in den Ferien auch mit spritz mich Jochen begrüsst.

So sehr es mir als Schweizer gegen die Natur geht, dass Hochdeutsch die Sprache sein soll, die hier in heissen Nächten durch offene Schlafzimmerfenster auf die Strasse schallt, verschiedene Quellen sagen alle übereinstimmend dasselbe… 

Hier ein Bericht aus erster Hand, von der deutschen Historikerin(!) Anna Rau, Zitat: I, as well as other German girls I know, have been asked to speak German when things get hot and heavy: Germans and Israelis – sharing history and sexual fascination.

Ich spreche nur Englisch hier. Und immer mehr Hebräisch.

Gabi insistierte vor zwei Jahren, dass wir uns einen Drucker mit Fax kaufen. Ich lachte: “Fax??! Du bist so süss. Ich bring’ dir jedesmal Blumen wenn wir einen Fax schicken oder empfangen. Wir leben doch im Silicon Valley 2.0!”

Der Kulturschock liess nicht lange auf sich warten: In der #Startupnation stellt der bürokratische Schriftverkehr aller Art komplett auf Fax ab.

Nichts geht ohne Fax. Man bekommt kaum eine Pizza geliefert ohne Fax.

Die Parkuhr in der Strasse lässt sich zwar per iPhone-App füttern, aber banale papierne Formulare werden hin und her gefaxt wie in den tiefen 80ern.

Möglich, dass die Bürokraten mit dem Faxgeräte-Importeur unter einer Decke stecken. (Das Leben hier lehrt einen, alles auf doppelte Böden abzuklopfen. Und es ist doch nicht möglich, dass sich kein Startup findet, was dieses Problem löst.)

Jetzt hat sich ein Haver Knesset, ein Parlamentarier, das Thema für eine Schlagzeile gekrallt. Er will eine staatliche Verordnung, die sämtlichen Dienstleistern eine Email-Alternative zum Schriftverkehr per Fax aufzwingt.

Vermutlich wird die Fax-Lobby den Wink verstehen und dem Parlamentarier eine lebenslängliche Versorgung mit Tinte für seinen Drucker (mit Fax) anbieten, wenn er seinen Vorschlag zurückzieht.

Vielleicht sollte ich auch den kleinen Blumenladen bei uns um die Ecke auf der Dizengoff warnen. Ich schulde Gabi noch geschätzte zwei Dutzend Fax-Blumensträusse, aber wenn der Parlamentarier durchkommt mit seinem Vorschlag brechen harte Zeiten an…

JPost - Aus für Fax in Israel

Letztes Wochenende kämpfte ich mit zwei lesbischen ungarischen Designerinnen an einem dreitägigen Hackathon um 10,000 Shekel. (Ich sage das so, weil ich immer wieder verblüfft bin, in was für Situationen mich das Leben hier in Israel hineinspült.)

Wir drei waren “Team Europa” und wir hatten neun oder zehn andere Teams gegen uns in einem Wettkampf um das beste Konzept und Design für eine Mobile-App.

Ausgeschrieben hatte den Wettbewerb eine internationale Design-Beratungsfirma in Zusammenarbeit mit einem Medizinal-Hightech-Startup. Die Aufgabe: Konzept und Design für eine “Gesundheits-App” für Smartphones entwickeln. Als Ausgangspunkt diente eine existierende medizinische Diagnose-Routine, die per Smartphone vereinfacht und für Patienten zuhause verfügbar gemacht werden sollte (ich musste unterschreiben, dass ich niemandem etwas von den Ideen erzähle, die besprochen wurden).

Wir hatten gute 48 Stunden Zeit, dann mussten wir unsere Lösung in einem Pitch, einer 8-minütigen Präsentation, verkaufen.

Wir machten uns daran, einen Patienten zu erfinden. Wir stellten uns eine Situation vor, in der unsere App nützlich wäre. Wir entwickelten ein Konzept, wie die App funktionieren würde, entlang der vorgegebenen Technologie. Und wir entwickelten ein schönes, einheitliches, funktionelles und attraktives Screen-Design für die Nutzerführung.

So war uns die Aufgabe gestellt worden.

Wir hatten Stress, das Material für die Präsentation rechtzeitig zusammenzubringen, aber wir schafften es. Wir präsentierten als erstes Team. Jury und die anderen Teams mochten unseren Pitch.

Die 10’000 Schekel nahmen andere mit nach Hause: Ihre Präsentation war mit viel Leidenschaft und Witz vorgetragen, aber ihre Lösung war grafisch und ‘designerisch’ völlig unentwickelt. Das Screen-Design für ihre App war bestenfalls ‘funktionell’. Es kümmerte sie nicht, wie hübsch oder gut das ganze aussah. Was sie hatten: Sie hatten bestechende Ideen zur Technologie. Dazu, wie man das Smartphone besser einsetzen könnte.

Das israelische Gewinnerteam hatte einen Schritt zurück gemacht und Schwachpunkte der Technologie erkannt, die nicht mit gutem Screen-Design zu beheben waren.

Wir hatten uns an den Wettbewerbs-Vorgaben orientiert. Die Israelis dachten ‘out of the box’.

Wir hinterfragten nicht, was gegeben schien. Die Israelis sagten: Was ihr uns vorgibt, ist nicht gut genug. Also setzten sie sich hin und dachten darüber nach, wie man die Technologie verändern müsste. Ihre Ideen waren komplett unausgereift, aber sie hatten einen futuristischen Touch. Ihre Ideen versprachen etwas Neues. Sie hatten aufregende Ideen. Dass die Aufgabenstellung damit sehr weit gedehnt wurde, kümmerte weder das Gewinnerteam noch die Jury.

Ich bin zufrieden mit unserer Präsentation. Aber ich ärgere mich, dass wir diesen Schritt zurück nicht gemacht hatten. Auf Hebräisch sagt man jemand ist ‘rosh gadol’ oder ‘rosh katan’, grosser Kopf oder kleiner Kopf. Wir waren die mit dem kleinen Kopf.

Die Fähigkeit, sich von Vorgaben zu lösen und das zu tun, was einem richtig scheint, erlebe ich hier jeden Tag. Vorgaben aller Art (natürlich auch Anstand und Gesetz) werden hier bestenfalls als Ideen respektiert, wie man sich verhalten könnte. So lebt man hier. Out of the box.

vor ein paar Tagen ist Arik Einstein gestorben. Ich kannte ihn nicht. Er war ein Sänger der 60er und 70er hier in Israel, war seit den 80ern nicht mehr aufgtreten – blieb aber eine Art Paul McCartney Israels. Zu seiner Abdankung auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv kamen tausende, inklusive Bibi Netanyahu.