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Typisch Israel

Bei schönerem Wetter hätte mir Ramallah besseren Eindruck gemacht. Was im Zürcher November der graue nieselige Hochnebel ist, sind hier Sandwolken, feiner Staub der sich auch tagelang hält, auf Bäume und Autos legt, man spürt ihn manchmal auf der Zunge und der Dreck hängt wie ein feiner Schleier vor der Sonne. An manchen Tagen sieht man die obersten Geschosse der Hochhäuser am Ende unserer Strasse nicht mehr.

Zwei oder drei Mal im Jahr liegt so viel Staub in der Luft, dass es tagsüber apokalyptisch eindunkelt und die Sonne blutrot anläuft, als kriege sie keine Luft mehr und ersticke gleich. Danach regnet es erstmal dreckiges Wasser.

Meine Freundin aus dem diplomatischen Korps hatte mich am Samstag in einer SMS spontan eingeladen, sie zu einem Lunch am Sonntag in Ramallah zu begleiten.

 

Angeblich die Flaggen aller Staaten, die Palästina bis dato als Staat anerkannt haben. Manche von Wind und Wetter zerfetzt, manche auf Halbmast. Eine grosse Baubrache neben Arafats ehemaligem Machtzentrum.

 

Ich hatte ihr ein paar Wochen zuvor gestanden: Mit jedem Monat, den ich länger hier in Israel lebte, wurde die Vorstellung eines Besuchs beim Feind unheimlicher. Warum, weiss ich nicht. Die Medien? Die Gehirnwäsche einer Nation im Kriegszustand? Gruppenzwang eines traumatisierten Volks? Die Raketen aus Gaza im letzten Herbst?

Ich sagte meine Bürotermine für Sonntag ab.

Tel Aviv Richtung Jerusalem, nach 45 Minuten rechts abbiegen

Beim ersten Besuch in Israel, vor zwei Jahren, war ich mit Gabi unterwegs nach Jerusalem, da stand Ramallah angeschrieben auf einem Autobahnschild.

Ich hatte sie gefragt: „DA ist Ramallah?“

Ich hatte im MAGAZIN des TagesAnzeigers gelesen, dass dort viele junge Expats leben, UNO-Mitarbeiter und NGO-Workers, Hilfswerker, Friedensstifter, Abenteurer, und dass sie cool drauf sind und gute Bars und Parties machen zusammen mit den Palis. Es hatte sich aufregend und vielversprechend angehört. Etwas gefährlich vielleicht, aber ohne wirklich gefährlich zu sein. Nicht wie Saigon 1965 oder Beirut 1985. Aber doch irgendwie mit diesem schwitzigen Uniform-Geruch in der Luft, den blauäugigen blonden Fotoreportern, zähen Geschäftemachern und Abenteuern.

Sie sagte: „Ja klar, da ist Ramallah.“

Ich wollte sie fragen, ob wir da hinfahren können, aber ich hatte eine Ahnung.

Darum fragte ich vorsichtiger: „Warst du schonmal da?“

Meine Frau: „Spinnst du? Ich will nicht vergewaltigt werden.“

Araber stinken. Man lernt das so hier.

Die Diplomatin und ich im Botschafterwagen, wir fuhren am Sonntag um 10:30 in Tel Aviv los. Wir waren um 12 Uhr mit dem japanischen Diplomaten in Ramallah verabredet. Er würde uns vor einem der bekannten Expat-Hotels treffen und dann in ein gutes Restaurant mitnehmen.

Eine gute Dreiviertelstunde Ostwärts auf der Siedler-Autobahn, Schnellstrasse 443, lag vor uns. Die Siedler-Autobahn ist eine von zwei Autostrecken zwischen Tel Aviv und Jerusalem.

Die 1 ist die Haupt-Achse, sie wird derzeit durchgängig auf 6 Spuren erweitert. Die 443 führt durch die Westbank und bedient unterwegs Settlements. Palästinensern ist der Zugang zur Strasse gesperrt. Sie ist links und rechts eingezäunt. Siedler-Autobahn.

Ramallah ist Teil der Zone A, die von der Palästinensischen Autonomiebehörde kontrolliert wird. Aus Sicherheitsgründen ist Juden der Zugang zur Zone A verboten. Egal mit welchem Pass. Ich bin weder Israeli noch Jude. Ich sehe auch nicht aus wie ein Israeli (Juden sehen ja so und so aus, aber Israeli erkennt man).

Darum hatte die Diplomatin auch kein Problem, mich in die Zone mitzunehmen.

Meine grösste Sorge: dass ich bei der nächsten Ausreise und Einreise am Flughafen drangenommen werde. Oder unangenehmer: dass sie mir plötzlich Probleme machen beim Erneuern meiner provisorischen Niederlassungsbewilligung, wenn sie erfahren, dass ich in Ramallah mittagesse.

Ich suchte mir meine Klamotten an dem Morgen sorgfältig aus, um für den Palästinenser zwar möglichst Schweizerisch auszuschauen, aber nicht verwöhnt wohlhabend.

Unterwegs im Auto nach Ramallah fühlte ich mich zum ersten Mal seit langem wieder als Schweizer: Neutral. Als Tourist. Als Gast und ohne Verantwortung. Hände ausgestreckt und Handflächen nach oben gedreht. Mal kucken gehen.

Wenn ich in der Schweiz bin, bin ich Besucher aus Israel. Wenn Freunde uns in Tel Aviv besuchen, bin ich der Tel Avivi.

Wenn ich mit meiner Frau reise, behaupten wir in Istanbul, Jordanien oder Kenia zwar beide, dass wir Schweizer sind – mit dem Resultat dass ich mich mit dieser halben Lüge als Israeli fühle. Potenziell von Entführung und Bombenanschlägen bedroht, von keinem gemocht, von allen kritisch beobachtet.

Besser, wenn mir heute kein Wort Hebräisch rausrutscht. Besser, wenn niemand weiss, dass ich in Israel lebe. Besser wenn keiner weiss, dass ich Samuel heisse und eine jüdische Frau habe.

Mal wieder richtig Schweizer sein

Einfach mal gucken gehen, wie die’s in Ramallah haben.

Es tut mir ja leid mit dem was hier alles geht, politisch. Aber ich kann da wirklich nichts dafür. Es ist einfach eine komplizierte Situation. Könnt ihr nicht einfach miteinander reden?

Wir verlassen die Autobahn bei einem der Settlements – mein erstes Settlement. Das Dorf sieht aus wie andere israelische, aus dem Boden gestampfte Kleinstädte. Vielleicht noch etwas trotzigere Architektur. Noch schneller gebaut. Noch weniger Charme.

Richtungsschilder an der Strasse gibt’s hier kaum. Meine Freundin kennt den Weg. Wir biegen mitten im Dorf in eine Seitenstrasse ein, 150m die Strasse runter steht ein trotziger Turm, darum herum viel Gitter, Betonblöcke, Strassenschwellen und Stacheldraht. Checkpoint.

Wir fahren im Schrittempo auf das grosse Maschendrahttor zu, der israelische Soldat verlässt nicht mal sein Kabäuschen, das Tor schwingt lautlos auf und wir fahren durch. Das war’s.

Unser Auto hat CD Nummernschilder. Corps Diplomatique. Diplomatisches Korps. Meine Freundin erklärt, dieser Checkpoint ist nur offen für Diplomaten, UN Mitarbeiter und Sondergenehmigungen.

In die andere Richtung, auf der anderen Strassenseite sehe ich die Schleusen für die Fussgänger, die Palästinenser, die durch den Checkpoint nach Israel wollen. Auf der palästinensischen Seite des Checkpoint stehen geparkte Autos, die Strasse ist bis auf eine Spur in der Mitte zugeparkt mit PWs von Tagesaufenthaltern in Israel.

Wir sind in Zone A.  Aber noch nicht in Ramallah.

Die Strasse hier ist schlechter. Es ist ein löchriges Asphaltband auf den Sand gelegt. Links und rechts stehen weissgraue rohe Betonbauten. Hier baut keiner fürs Auge. Es ist unklar, welche Häuser noch im Bau sind, welche schon fertig, bewohnt wirkt hier gar nichts, plötzlich kommt mir auch die Landschaft so anders vor, so trocken, so karg, so unbelebt, steinig, sandig, das diffuse milchige Licht tut das seine dazu, es kommt mir vor als hätte ich meinen Kopf in eine andere Welt gesteckt, in der das Licht diffus, die Frischluft knapp und das Land trocken ist.

Sogar die Karten auf dem Handy sind blank.

Auf Google Maps ist Ramallah als grauer Fleck markiert, ohne Strassennamen. Das Mövenpick Hotel Ramallah wird angezeigt. Das ist alles.

Meine Freundin kennt den Weg. Wir unterqueren die Siedler-Autobahn, deren Sichtschutz-Zäune die Landschaft zerschneiden. Hinter dem Band aus beigen Blachen könnten auch die Schienen eines riesenlangen Rollercoasters liegen, der hier über die Hügel vor Jerusalem flitzt. Irgendwo ist der Einstieg, da muss man anstehen, Karten kaufen und dann Schlange stehen für die nächste Abfahrt.

Dann erreichen wir auch schon die ersten Häuser Ramallahs. Wie’s aussieht wird auch hier wie überall in Israel viel gebaut. Pardon: Wie überall in Israel wird auch hier viel gebaut. Die Architekten scheinen noch etwas weniger gut ausgebildet. Die Ambitionen der Bauherren sind aber hoch. Es stehen einige Paläste an der Strasse, Mischung aus moderner Architektur, Festungsbau und Neureichen-Punk-Prunk.

Wir suchen unseren Treffpunkt

So euphorisch Lonely Planet Ramallah als Happening Place feiert, so dürftig ist auch da die Karte. Sie zeigt 800×800 Meter Innenstadt.

Das wäre eine Aktion: Ramallah auf Google Maps erfassen.

Wir verfahren uns, werden aber von netten Fussgängern zum Treffpunkt gewiesen. Dann folgen wir dem Japaner zum Restaurant.

Wir essen in einem von Christen betriebenen Restaurant. Es wird Tel Aviver Standard geboten, etwas bemühter, man spürt, das ist nicht normal hier. Das tut man für ‘die andern’. Der junge coole Inhaber oder Maitre d’ bedient uns zuvorkommend. Auch die Preise sind hoch. Wir trinken einen Orvieto.

Die Diplomaten tauschen Ansichten und Einsichten aus.

Der Japaner geht Bergsteigen in der Westbank.

Er kennt einige gute Wände in der Gegend.

 

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Nach dem Orvieto fahren wir zu Arafat

Anschliessend besuchen wir die Mukatah, das Hauptquartier der PLO zu Yassir Arafats Zeiten und sein ‘Gefängnis’ von 2002 bis 2004, als israelische Truppen seine Regierungsanlage belagert hielten – und zum grössten Teil zerstörten.

Es ist die einzige touristische Destination Ramallahs. 

Das Grab Arafats steht Besuchern offen, es wird von einer Handvoll Soldaten in Paradeuniform bewacht.

Es wird nicht als seine letzte Ruhestätte angesehen. Die soll in Jerusalem sein, wenn der Felsendom wieder zu Palästina und nicht mehr zu Israel gehört.

Nach der etwas surrealen, gespenstisch kahlen und fahlen Kulisse der Mukatah fahren wir ins nahegelege Stadtzentrum, spazieren durch die belebte Hauptstrasse, vorbei am Stars-and-Bucks zum schmutzigen und einfachen, aber gut besuchten Markt mit viel Frischwaren. Wir sind beinahe die einzigen Westler, ich sehe noch eine Asiatin mit einem palästinensischen Begleiter auf dem Markt und einen älteren Abenteurer oder Künstler, der vielleicht 1985 in Beirut war.

Die Türme frisches Gemüse und Früchte auf dem Markt sind wie ein Schock: Das maximal intensive Rot, Grün, Gelb der Peperonis. Das Orange der Khakis und Mandarinen. Die dicken Büschel Bananengelb. Grüner Lattich.

Wo sind die Gewürze? Gewürze machen sich gut als Mitbringsel.

Es ist alles spottbillig.

Während unser Restaurant durchaus Tel Aviver Preise verlangte, ist hier auf dem Markt alles ein Vielfaches billiger.

Gegen fünf stehen wir im massiven Stau im Berufsverkehr vor Tel Aviv. Die Autos in langen Kolonnen vor der Kulisse Tel Avivs, eine gute halbe Stunde weg vom ärmlichen Ramallah, sind Beleg für den Kontrast zwischen den beiden Welten.

Wie sag’ ich’s den andern? 

Am nächsten Tag auf Arbeit weiss ich nicht, ob ich die Geschichte erzählen kann.

Bis jetzt bin ich der naive Europäer, der gut meint – aber natürlich nichts versteht. Ich will nicht als Pali-Sympathisant angeschrieben werden.

Mein Foto am Schrein von Arafats Grab, grinsend zwischen den beiden Ehrenwachen, zeige ich keinem.

Als ich Kollege Y dann doch von meinem Ramallah Besuch erzähle, macht er ein sehr eigenartiges Gesicht. Etwas fasziniert, etwas ungläubig, leicht abgestossen, er macht einen Schritt zurück.

Ich hab’s noch einigen anderen Freunden erzählt. Sie stellen fast keine Fragen.

Y schaute, als hätte ich einen Brief von seinem Cousin mitgebracht, der wegen Vergewaltigung im Gefängnis sitzt. Niemand will diesen Brief aufmachen. Was kann da schon drinstehen was man lesen möchte?

Mit diesem Cousin, der eine Frau vergewaltigte (angeblich), hat man seit Jahren keinen Kontakt mehr. Und mittlerweile ist es einfacher so.

Sie fragen schon alle: Wie war’s?

Ich sage: Deprimierend.

Sie sagen: Ja natürlich.

Ich hatte mich in Afrika, in den Städten Kenias, so gefühlt. Vielleicht ist es das Lebensgefühl in Gesellschaften, in der es kein Vertrauen in die Gesellschaft gibt. Die Luft ist knapp für alle.

Dass diese Stadt als Hauptstadt und Teil eines ‘gleichberechtigten’ Staates neben Israels funktionieren könnte, scheint sehr weit hergeholt. Der Vorsprung Israels in jeder Hinsicht ist derart gigantisch, dass von einer Gleichberechtigung, wie sie die Zweistaatenlösung suggeriert, keine Rede sein kann.

Es fühlte sich eher an wie der Besuch in einem Reservat.

Der Besuch beim armen, verkrüppelten Nachbarn.

Ich weiss, ich habe nichts gesehen. Ich war gerade mal zwei, drei Stunden dort.

Ich weiss noch nicht, wann ich wieder hinfahre.

Es scheint so weit weg.

Und was soll ich dort …?

Es gibt dort nichts, was ich brauche.

Was habe ich damit zu tun?

 

Der Schrein Yasser Arafats, in der Anlage der Mukatah, dem ehemaligen Hauptsitz der PLO, der von israelischen Truppen 2002-2004 belagert und zerstört wurde.

 

Wir haben noch immer keine Gasmaske. Dafür haben wir jetzt Atropin für zwei im Badezimmerschrank – das Gegengift für Nervengas aus Syrien. Das war einfacher zu bekommen.

Ich verbringe wieder viel Zeit damit, das Undenkbare zu denken, wie letzten November, während dem Raketenbeschuss aus Gaza. Was, wenn tatsächlich Bomben fallen? In der New York Times berichtete ein Augenzeuge vom Giftgaseinsatz in Syrien: “Die Detonationen hörten sich an wie platzende Wasserfässer…” Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf.

Was tun wir dann? Wie können wir uns vorbereiten? Will ich mich überhaupt vorbereiten? Oder gehöre ich zu jenen, die sagen: Passiert eh nichts..?

Vom Undenkbaren ist es nicht weit zum Schwarzen Humor. Gestern Abend treffe ich auf einer Party einen Bekannten, einen schwulen feinen Ballett-Tänzer, der viel in Europa auf Tournee ist, und der sein Leben in Israel mit ganzem Herzen hasst. Er ruft: “Kommt schon! Beschiesst uns und löscht die eine oder andere israelische Stadt aus! Dann kann ich endlich als Kriegsflüchtling nach Europa!” Ich lache. Er lacht nicht.

Die gefühlte Bedrohungslage hat sich seit dem Nay im Britischen Unterhaus entschärft. Die kriegsmüden englischen Lords haben unser Wochenende gerettet.

Donnerstag waren wir wie geplant am Strand, Freitag war ich mit Freunden auf einem kleinen Katamaran segeln (ich liebe mein Leben hier!) … und dachte, während wir in herrlichem Südwestwind vor der Küste kreuzten, ein bisschen weiter raus aufs Meer, da liegen die US Zerstörer und warten auf Zielkoordinaten aus Washington.

Auf der anderen Seite geht das Morden in Syrien weiter. Wo sind die Völker, die sich von ihren Tyrannen befreien und Demokratien starten? Ich verstehe gar nichts. Und es scheint, dass es Obama ähnlich geht. Dabei hatten sie doch letzte Woche die Friedensverhandlungen mit den Palästinensern neu gestartet …

Denkt das Undenkbare! Das könnte auch ein Zitat aus einem Kurs für angehende Manager sein. So entsteht Innovation! Die Israelis können das gut. Da einen Zusammenhang zu konstruieren, ist aber wohl Schwachsinn.

Abendessen am Strand: Irgendwo da draussen dümpeln die Kriegsschiffe.

Abendessen am Strand, Nachtschwimmer im Wasser: Irgendwo da draussen dümpeln die Kriegsschiffe.

 

Vor ein paar Tagen war es nur beiläufiges Tischgespräch: Hast du deine Gasmaske schon..? Smalltalk beim Bier. Einige Familienväter im Freundeskreis hatten nach den furchtbaren Berichten über den Giftgaseinsatz in Syrien für ihre Familien vorgesorgt. Alle anderen ignorierten das Thema. (Es ist wie mit den Fahrrad-Helmen. Man fühlt sich albern, einen zu tragen, hier in Tel Aviv tragen nur Eltern und ihre Kleinen einen. Ausserdem: wohin mit den doofen Masken? Dann haben wir wieder zwei Schachteln mehr, die in unsrer kleinen Wohnung rumliegen.)

Man gewöhnt sich hier ans Säbelrasseln. Aber heute, wenn die Israelis Schlange stehen für Gasmasken, und Freunde am Telefon allen Ernstes fragen, ob man die Gasmaske schon geholt hat, weckt das schlechte Erinnerungen an die Bomben im letzten November. Da redeten auch alle vom Golfkrieg ’91, als das letzte Mal Raketen auf Tel Aviv niedergingen und Giftgasangriffe befürchtet wurden.

Soll ich mir nun den Nachmittag frei nehmen, und mich in die Schlange stellen vor dem Postbüro, um eine Gasmaske abzuholen? Ich weiss nicht, ob ich mir das leisten kann, gerade eben habe ich zwei  neue Projekte gestartet. Und morgen wollten wir zum Strand fahren … und soll ich das Rauchen jetzt wirklich bleiben lassen, oder ist das albern..?

 

Drei Stunden Schlange stehen für eine Gasmaske.

Drei Stunden Schlange stehen für eine Gasmaske.

 

 

Trotz Monaten in der Sprachschule reicht mein Hebräisch noch nicht viel weiter als bis ‘Kaffee schwarz’. Schriftlich kommuniziere ich mit Hilfe von Google’s Übersetzungs-App. Telefongespräche vermeide ich nach Möglichkeit. Was unter anderem ein Handicap ist, weil hier viel, gerne und günstig Essen nach Hause bestellt wird.

Letzte Woche, home alone, rief ich bei Domino’s an und bestellte eine PIzza (irgendwann musste ich mich dieser Situation stellen).

Eine hungrige halbe Ewigkeit nach dem Anruf kam eine SMS von unbekannter Nummer und ich liess Google übersetzen. “Domino’s Apostel wird gleich mit Dir sein,” wurde mir verkündet. Natürlich! Heiliges Land! Ich jubilierte. Der Apostel brachte mir eine Familienpizza mit Peperoni – blieb aber nicht zum Essen.

 

 

In unseren Schweizferien wundern wir uns über das menschenleere Zürich, bis mir in den Sinn kommt: Sommerferien! Strandferien, Wanderferien, Camping, Kulturreisen, Abenteuerreisen: Der Zürcher fährt und fliegt weg. Gabi kann’s kaum glauben. Hier in Tel Aviv ist jetzt auch Schulfrei. Man merkt’s an den vollen Malls, Kinos, Highways, Stränden.

Familien verbringen den Tag gerne im klimatisierten Shoppingcenter. Draussen ist’s zu heiss. (Grosses Gesprächsthema sind die tragischen Schlagzeilen von Babies, die auf dem Rücksitz im Auto ‘vergessen’ werden und auf dem Parkplatz an Hitzschlag sterben. Vier tote Kleinkinder allein in den letzten fünf Wochen.)

Man fliegt hier nicht weg. Strand? Meer? Sonne? Hitze? Haben wir alles hier. Wohin also ausfliegen? Ausserdem ist Wegfliegen gemessen am Einkommen schweineteuer. Wer wirklich gut Kohle hat, der fliegt natürlich trotzdem weg. Aber die Mehrheit bleibt hier.

Wir sind noch schön braungebrannt von unsrer Woche in der Schweiz (die Israelis staunten).

Let’s go to the Mall! Schöne Ferien!

 

 

pendler

Seit März pendle ich Sonntags nach Haifa zur Arbeit. Auf dem Bahnhof gibt’s die Gratiszeitung. Mein Zug fährt meist pünktlich.

Für Israelis ist Zugfahren eine neue Mode. Vor bald 100 Jahren, als die Eisenbahnverrückten Briten hier waren, gab’s ein Streckennetz zwischen Damaskus, Beirut, und Kairo mit täglichen Verbindungen via Haifa, Tel Aviv und Jerusalem von einer Grosstadt zur anderen. Nur als naiver Schweizer kann ich heute davon träumen, in zwei Stunden von Tel Aviv nach Damaskus oder Beirut zu flitzen.

Im Abteil gibt’s eine Steckdose für den Laptop und man kann sich unterwegs über Wlan ins Gratis-Internet einklinken. Chapeau, Israel.

Nach der Unabhängigkeit Israels wurde das Streckennetz vernachlässigt, der teure Ausbau aufgeschoben. Busse waren das Transportmittel der ersten 50 Jahre Israel. Erst seit 20 Jahren feiert die Eisenbahn ein Comeback. Irgendwo lese ich: Anfangs 90er reisten noch 2-3 Millionen Passagiere pro Jahr mit dem Zug. Heute sind es gegen 40 Millionen.

Viele schimpfen über Verspätungen, Streiks und spontane Fahrplanänderungen. Ich kann das nicht bestätigen. Den 7 Uhr Zug teile ich vor allem mit den vielen Soldaten, die Sonntags aus dem Wochenende zurück in ihre Kasernen im Norden einrücken.

Am Streckennetz wird fleissig weitergebaut. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann in einer friedlichen Zukunft mit dem Zug nach Beirut fahren kann für einen Theaterabend.

Nach Shabbat am Meer in der Sonne, am wilden Strand, mit dem Auto gut eine Stunde nördlich von Tel Aviv, Richtung Haifa, Richtung Libanon, stehen wir auf einem sandigen Parkplatz in den Dünen. Wir sind mit einer Handvoll Freunden in zwei kleinen Stadtautos unterwegs. Wir haben Hunger.

Wir waschen uns mit sonnenwarmem Wasser aus der Flasche das Salz vom Gesicht. Der Parkplatz ist schon beinahe leer, obwohl die Sonne noch recht hoch am Himmel steht. Viele sind schon auf dem Heimweg. Shabbat endet – und die neue Woche beginnt – mit Sonnenuntergang. Wir sind hungrig auf Hummus, Chips, Salat.

Israel ist munzig wie die Schweiz. Hier im Norden steht alle drei Kehren auf der Landstrasse ein Dorf. Wo in der grünen Schweiz in der Dorfbeiz Wurstsalat auf Papier-Platzdeckchen serviert wird, gibt’s hier einen offenen Imbiss mit schmuddeliger Theke, mit Hummus, Pita, Fleisch vom Drehspiess oder Falafel im Angebot und Blechtöpfchen voller Essiggemüse und Oliven als Beilage. Man sitzt auf weichgesessenen Plastikstühlen an Plastiktischen im Staub.

Wir werweissen, wo wir essen gehen. Man kennt sich aus am Strand, aber keiner von uns kennt einen guten Laden hier in der Gegend.

Ich sage, an der grossen Kreuzung wo’s zur Autobahn nach Tel Aviv geht, da haben wir letztes Jahr unseren Sonnenschirm gekauft, die waren nett, da gibt’s auch einen Imbiss nebenan.

Die ganzen Läden da an der grossen Kreuzung werden von Arabern betrieben.

Schon beim Zigarettenholen am Kiosk war mir aufgefallen, wie anders die Welt hier oben im Norden tickt. Weicher, weniger hart als in Tel Aviv. Weil das Araber sind? Oder sind’s einfach nur die Landeier? Aufm Dorf im Zürcher Oberland ticken die Leute auch anders als an der Langstrasse.

An Tel Aviv hab ich mich gewöhnt. Eine Stunde weg mit dem Auto bin ich komplett in der Fremde.

Wir hatten letztes Jahr da an der Kreuzung gehalten, eben um einen Sonnenschirm zu kaufen. Gabi wartete im Auto. Der Laden da ist ein übergrosser Unterstand, eine kleine Lagerhalle mit Wellblechdach, vollgepackt mit Plastik und Blech, Zeugs und Mobiliar für Haus und Küche. Strand-Utensilien stehen zuvorderst, für die Städter die hier am Wochenende langfahren zu den abgelegenen Stränden. Für uns.

Ich fragte erst noch einen Typen der da rumstand und rauchte, was er an Auswahl hätte. Er wusste nichts zu sagen. Also wählte ich einen Schirm mit grünen Palmen auf Meerblau, made in China, und brachte ihn zur Kasse. Ich musste warten, die Frau an der Kasse war mit einem anderen Kunden beschäftigt. Ein Junge reichte mir ein kleines Glas arabischen Kaffee. Ich verstand nichts von seinem Hebräisch, fühlte mich erst als Tourist und dann doch als Besatzer, bezahlte, wollte nichts falsch machen, wollte auch nicht beschissen werden und zu viel für den Schirm bezahlen, dachte, das ist die Arabische Art, man kriegt Kaffee. Nett sind sie. Versuchte noch zu handeln, zählte mein Wechselgeld.

Erst als ich wieder ins Auto stieg ging mir auf, dass ich dem Junge was hätte geben sollen. Ich fühlte mich schlecht. Typisch, Städter, reich, ohne Anstand und ohne Respekt. Der Junge dachte wohl: Es stimmt schon, was sie über die Juden sagen.

Ich fühlte mich, als hätte ich eine Gelegenheit verpasst, etwas für den Frieden zu tun.

Das war letztes Jahr. Ich wollte gerne dahin zurück. Auch zum Kiosk, zum Imbiss. Diese andere Welt hier kennenlernen, die mir noch immer fremd ist. Und wenn ich’s mir recht überlege: die mir irgendwie immer fremder wird.

Unsere Freunde wischen auf ihren iPhones herum, mein Vorschlag wird nicht gestützt. Niemand will da hin. Man sehe an dem Imbiss da nie Leute sitzen, sagt der eine. Das sei ein schlechtes Zeichen.

Alle versuchen, auf Google Maps eine Empfehlung für Hummus Chips Salat zu bekommen. Ich sage: Leute, hier hat’s ein Dorf am andern, lasst uns einfach reinfahren und irgendwo halten.

Einer sagt: Die mögen uns nicht hier in den Dörfern. They don’t like us here.

Ich sage nichts mehr. Wir fahren schliesslich los, dem anderen Auto hinterher. Sie haben angeblich auf Google was gefunden.

Nach zwanzig Minuten auf der Autobahn Richtung Tel Aviv biegen sie bei einer Autobahntanke ab, wir folgen ihnen, um zwei Ecken in einen alten Industriepark, auf einen riesigen verlassenen Parkplatz. Am einen Ende stehen einstöckige lange Barracken.

Unterm Dach hängt ein grosses Schild: Hummus Olga. Russischer Hummus.

Geschlossen an Shabbat.

Ein Doktor Kollega von Gabi, auch Assistenzarzt, ist Kampfpilot bei der Luftwaffe. Ein wahres Alphatier. Es gibt wenig was hier mehr zählt als der Pilotenschein der IAF, der Israeli Airforce. Er ist ein netter Kerl mit eisblauen Augen. Wenn er mal wieder ein paar Tage auf Arbeit fehlt, und danach liest man über Detonationen in Syrien oder Gaza, denkt man sich seinen Teil.

Syrien 2013-05-26

Auf Spiegel.de wird ein hochrangiger syrischer Politiker zitiert: Syrien werde sein Volk mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen. 

Aus einem Email an meine Mutter streiche ich diesen Satz: “Es sind alle bisschen angespannt heute wegen der Ereignisse in Syrien, man befürchtet eine Eskalation in den nächsten Tagen… Hoffen wir, dass es nicht gefährlich wird.”

Syrien 2013-05

Im Büro plaudern wir über den bevorstehenden Krieg. – Dann bittet mich S, positive Quoten über Israel zusammenzufassen für einen Blogpost auf der Firmenseite. 

Manchmal komme ich aus dem Staunen nicht mehr heraus hier. 

Der «Playboy» ist auch nicht mehr, was er mal war. Trotzdem. Hier, in unserem kleinen französischen Cafe Colette an der Baselstrasse, wo altes Tel Aviver Geld verkehrt und Internetmillionäre sich breit machen; wo man im Mercato Gruyère, Brie und Pasta al Tartufo shoppt; im Haus neben unserem Buchhändler Chaim, wo man den New Yorker und die französische oder amerikanische Vogue mitnimmt; in der Strasse, wo es für Jungmütter und Grosseltern eine ganze Reihe Boutiquen mit Accessoires und Babyklamotten für Enkel/Kinder gibt (beinahe-chic, billig gemacht und überteuert wie das meiste in Tel Aviv); wo zwar nicht Nespresso Maschinen und Kapseln verkauft, aber die Kopie EspressoClub; in unserem unschuldigen kleinen Café Colette geführt von der Riesigen Matrone, wo je nach Wochentag der schwule gepiercte Schlaks mit den kurzen graumelierten Haaren und dem Modebart, oder die kleine süsse Studentin (knapp 18 und bald in der Armee) mit den weit auseinanderliegenden Mandelaugen, servieren; keine fünfzehn Minuten weg vom Orthodoxenquartier, wo die Männer mit Hut andere Frauen nicht mal ansehen, wenn sie mit ihnen sprechen, wo sich am Shabbes niemand mit dem Auto reinfahren traut, weil niemand ungestraft die biblische Ruhe bricht… In dem Kaffee hier also liegt der Playboy auf.

Es liegt einfach mehr drin hier. Es kommt so oft so viel so überraschend zusammen hier, im Kleinen wie im Grossen. Charakter zeigen fällt nicht auf. Kein Profil zeigen fällt auf. Dafür liebe ich das Leben hier. (Die Croissants im Colette sind anständig, das Frühstück ist nicht besonders toll im Vergleich, aber es ist der einzige Ort wo ich den Cafe Americano trinke ohne das kleine Milchkännchen anzurühren, lang, schwarz, kein bisschen bitter.)