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Typisch Israel

Ich sitze draussen in der Sonne. Im Coop hier an der Dizengoff steht ein Weihnachtsbaum. Ansonsten ist Nord-Tel Aviv frei von Weihnachtsstimmung.

Gerüchteweise hatte ich in der Ulpan gehört, man kriege in Yaffo, im mehrheitlich arabischen Süden Tel Avivs, Weihnachtsbäume zu kaufen. (Den christlich-orthodoxen Kirchen gehört dort offenbar die halbe Stadt.) Erst dachte ich noch: Tannenbäume. Mein Kumpel aus Kanada korrigierte dann meine Erwartungen: Plastikbäume.

Es dunkelt schon ein, als wir uns am Sonntag schliesslich auf die Suche machen. Die eine Strasse runter finden wir Kioske und Imbisse mit Weihnachtsdekoration. Ich frage nach einem Weihnachtsbedarfs-Händler. Die Verkäuferin sagt: Es ist Sonntag, die Läden der Christen sind geschlossen.

Zum Glück halten nicht alle Christen den Ruhetag heilig. Am Ende der Strasse spielt ein angeketteter Elektro-Nikolaus Saxofon und schüttelt im Takt zu ‘Last Christmas’ seinen Plastik-Rumpf.

Wir haben jetzt einen Mannshohen Baum mit Kugeln, Girlanden, Glöckchen, einem Stern obenauf und farbigen Blinklichtern rundum. Und für Freitag haben wir Freunde zu einer fröhlichen Nacht eingeladen. Es wird ihr allererstes Weihnachtsfest.

Wir kaufen einen Weihnachtsbaum in Yaffo

Eine der bleibendsten Impressionen von meiner Israel-Reise vor 15 Jahren: Zwei sexy junge Frauen am Pool mit ihren Dienstwaffen neben sich, das volle Magazin im Bündchen des Bikini-Höschens. Die jungen israelischen Frauen in Uniform sind ein Klischee-Bild von Israel. Sie sind natürlich beliebt auf Youtube. «Sexy women of israeli military» wurde 450’000 Mal angeschaut, die Diashow «Israel Female Soldiers» 1.5 Millionen Mal.

Davita aus Holland war für ein paar Wochen in unserer Klasse in der Ulpan. Gestern postete die 22-jährige auf Facebook «goodbye world». Sie hat heute ihren «draft day». Ihren Aushebungstag für die israelische Armee. Davitas «goodbye world» ist garantiert nicht düster gemeint. Es ist ihr Gruss an uns: «Endlich geht’s los, tschüss alte Welt». Heute bei der Rekrutierung erfährt sie, ob sie in den kleinen weiblichen Kampftrupp der israelischen Armee aufgenommen wird. Alle israelischen Frauen leisten zwei Jahre Militärdienst. Aber nur eine Handvoll freiwilliger Mädchen wird für den Kampf-Einsatz ausgebildet. Das ist Davita’s Traum. Für diesen Traum ist sie aus Amsterdam nach Israel gekommen. «Ich will nicht auf Menschen schiessen, ich suche einfach die Herausforderung,» sagte sie.

Im Frühjahr hatten wir Ben in der Klasse, einen jungen US-Amerikaner, der nach seinem Dienst bei den US-Marines hergekommen ist, um für Israel in die Hosen zu steigen. Er ist der Infanterist aus dem Bilderbuch: etwas untersetzt, oder einfach nur kräftig gebaut, spielt American Football als Hobby. Schon Ben’s Ambitionen haben mich eigenartig berührt. Erst war ich fasziniert, nicht ohne Bewunderung für den radikalen Lebensentscheid. Krass, dachte ich. Und ich wollte mehr wissen.

Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, wie man sich freiwillig zum Armeedienst melden kann. Könnte ich ihren Entscheid besser verstehen, wäre ich jüdisch? «Steht auf und kämpft für Israel!», nachdem die Juden im Dritten Reich sich widerstandslos haben ‘vernichten’ lassen (wie man bis heute ‘vorwurfsvoll’ hört hier)? Ben und Davita sind hier für’s Abenteuer, für die Kameradschaft in der Armee, für den Challenge – und um etwas für Israel zu tun. Der israelische Staat tut viel dafür, jüdische Jugendliche aus der ganzen Welt nach Israel zu bringen, sie für den Staat und die Armee zu begeistern. Und egal, wie viele Stunden ich in der Ulpan-Schule sitze, Hebräisch und israelische Kultur pauke: Ich werde nie ein Israeli sein. Ich war nicht in der Armee.

Gerade ist das Buch von Shani Boianjiu erschienen, einer jungen israelischen Autorin. Sie erzählt die Geschichte von drei israelischen Freundinnen vor, während und nach ihrer Dienstzeit in der Armee. Darin geht es natürlich um die grosse Frage «was mach’ ich hier eigentlich?» Und natürlich geht es auch um gefühlsarmen Teenager-Sex in Uniform (der New Yorker hatte im Sommer einen Auszug aus dem Buch abgedruckt). Ich habe das Buch bei Chaim, dem Buchhändler an der Baselstrasse, bestellt. Nur den Titel verstehe ich nicht: «The People Of Forever Are Not Afraid». Mein Vorschlag ginge eher in die Richtung: «Girls In Uniform». (Druckt schonmal die nächste Auflage.) Hier ist ein Interview mit Boianjiu im New Yorker.

«… goodbye world …»

Wie ich am Donnerstag früh in meine hohen Schuhe steige – es ziehen jetzt fast täglich Regenschauer vom Meer her über die Stadt und setzen die Strassen unter Wasser – stosse ich mit dem Fuss auf eine Plastiktüte mit Süssigkeiten. Ich brauche eine Weile, bis ich verstehe: Nikolaus war hier. Gabi hat sich an Samichlaus erinnert – und ihre Frankfurter Freundin  erklärte ihr, wie man’s macht. (Mit all den Deutschen in Zürich wird der Samichlaus auch Stiefel füllen lernen.)

Vor einem Jahr sassen wir am Chlausabend im Mate, dem Quartier-Pub mit Billardtisch. Bei einem Bier erklärte ich Gabi den Samichlaus. Natürlich habe ich beste Erinnerungen an den Samichlaus und seinen Schmutzli, an ihre Besuche bei uns zuhause, der Mann mit dem dicken Buch, dem grossen Jutesack mit Spanisch Nüssli und den Mandarinli, die kurzen Gedichte, die wir aufsagen mussten … Gabi hörte nicht die Musik, sie gab sich geschockt, dass Eltern einen bärtigen fremden Mann in ihr Zuhause kommen lassen, der ihre Kinder schlägt und/oder in den dunklen Wald entführt, wenn sie nicht ‘gut’ waren. Ich verteidigte meinen Samichlaus mit Herzblut. Aber sie wollte mich nicht verstehen und trieb mich vor sich her.

A propos andere Länder, andere Sitten: Ich beschrieb in einer fröhlichen Runde die Schweizer Jasskarten. ‘Shields’, ‘Acorns’, ‘Bells’, ‘Roses’… Auch ein grosses Stück Heimat und Kindheit. Sagte eine in der Runde: King of Roses…? Und Boy of Roses…? Wie schwul sei das denn! Definitiv ist Schwulsein hier in Ordnung – aber ein Mann hat ein Mann zu sein.

Am Sonntag war der erste Hanukah-Tag. Die leckeren Weihnachtsguezli aus Zürich sind schon fast alle. Es hat nur noch eine Handvoll Mailänderli. Während Hanukah gibt’s hier an jeder Ecke Sufganiot – in Zürich nennen wir die Berliner.

Hanukah-Leuchter auf dem Basel-Platz: Jeden Abend zündet der Rav eine neue Kerze an.

Heute in der Ulpan kommt eine Sekretärin in die Klasse und verteilt Schokoriegel und eine kleine laminierte Notiz an alle Schüler. Auf dem Zettelchen steht auf Hebräisch und umseitig auf Englisch: “After some hard days, we are pleased to get back to our routine and our regular school activities. Thanks to the teachers, the staff and especially you the Students here for attending classes, for your understanding and cooperation.”

Gaza rückt tatsächlich jeden Tag weiter weg. Aber wirkliche Erleichterung will nicht aufkommen. Die Bubble wurde dank ‘Iron Dome’ von Raketentreffern verschont. Aber das Wissen um die vielen Opfer in Gaza und die Toten im Süden Israels ist nachhaltig bedrückend. Für mich ist es eine Lektion zum Thema ‘Leben in Israel’. Doch was ist die Moral dieser Episode?

Seit ich hier bin frage ich mich: Was ist denn der Unterschied, ob ich mein gutes Leben in Zürich oder in der Bubble Nord-Tel Avivs lebe? Was kümmert mich, ob Damaskus und der Bürgerkrieg in Syrien 2’000 oder nur 200 Kilometer weit weg ist? Welche Verantwortung trage ich? «Thank you for your understanding and cooperation», heisst es auf dem Zettel. Understanding, Verständnis? Cooperation, Zusammenarbeit?

«Vielen Dank fürs Verständnis»

Noch was politisch heikles zum Thema ‘Widersprüchliches Israel’ und was mir nach meinem ersten Krieg so durch den Kopf geht:

Sichere Heimat für alle Juden! – Endlich, nach Jahrhunderten in der Diaspora, hat das jüdische Volk eine Heimat und eine Armee und kann sich entsprechend verteidigen. Israel ist der einzige Ort auf der Welt, wo Juden selbstbestimmt und in Sicherheit leben können!

Sichere Heimat für alle Juden! – Israel ist seit seiner Gründung vor 60 Jahren im Kriegszustand und wird von seinen Nachbarn mit der Auslöschung bedroht … während Millionen Juden in der ganzen Welt ein gutes und sicheres Leben führen.

(Vorsicht! Minenfeld!! Ein falscher Schritt, ein falsches Wort zu diesem Thema, und es fetzt einem die Beine weg. Die glühenden Zionisten rufen: Mit solch Gedankengut soll Israel geschwächt werden!  Wer sagt, Israel ist nicht sicher und in der Diaspora lebt sich’s besser, der glaubt nicht an Israel, an die Berechtigung Israels! Siehe beispielsweise der Streit um Judith Butlers Suche nach ihrer jüdischen Identität im heutigen Zionismus.

Ich für meinen Teil denke während dem Krieg: Im grossartigen Tel Aviv unter einer Eisenkuppel zu sitzen, die Raketen abfängt .. das ist natürlich eine stolze Leistung jüdischer/israelischer Kampfkraft, keine Frage. Aber den Juden in Zürich geht’s in den Minuten trotzdem besser. Auch wenn diese mir am Telefon wiederum versicherten: Ach, wären wir doch in Israel, es ist schrecklich, diese Angriffe von hier aus mitzuerleben…)

Der Blick auf die iPhone-Karte ist elektrisierend: Die Kleine Schweiz ist keine zwei Stunden Autofahrt weg von Tel Aviv. Nochmals zwei Stunden weiter nördlich wären wir in Damaskus – oder, wenn wir links abbiegen, in Beirut. Was für ein Potenzial! Diese drei grossen Städte mit grosser Vergangenheit, so nah beisammen… Sobald die Grenzen offen sind, der Nahe Osten eine grosse friedliche Einheit, fahren wir fürs Wochenende nach Damaskus! Oder nach Beirut ins Museum oder ins Theater…

Letztes Jahr waren wir Pferdereiten auf den Golanhöhen. Der Ranchero dort hiess Uri. Als wir Uri sagten, dass ich Schweizer bin, fragte er mich: «Wie macht ihr das mit der Neutralität? Wir wollen auch neutral sein. Wir wollen auch einfach allen rundherum sagen, wir sind jetzt Neutral, und dann lassen sie uns in Ruhe…»

Tel Aviv, Beirut im Norden, Damaskus im Nord-Osten. Und wir mittendrin.

Auf dem Weg nach Norden in die “Kleine Schweiz” überholen wir Sattelschlepper mit Militär-Bulldozern und Tanks. Am späteren Abend schiebt dann ein mächtiges Gewitter mit Blitz und Donner über unser Zimmer nach Osten. Wir sitzen draussen in der schwarzen Nacht im beheizten überdachten Whirlpool und lassen Blitz und Donner an uns vorbeiziehen. Der Krieg liegt noch wie schlecht verdautes Essen im Magen.

Tank auf dem Highway nach Norden

Sonnenaufgang in der ‘Schweiz Israels’ über dem See Genezareth und den Golan-Höhen. Dahinter liegen Syrien im Norden,  Jordanien im Süden.

G hat zwei Nächte in einem Zimmer im Norden gebucht, um mich wieder mit Israel zu versöhnen. Zimmerim nennen die Israelis die kleinen B&Bs mit privater Terrasse, grossem Jacuzzi und grossem Fernseher – weg von lärmigen Buslinien und engen Treppenhäusern (Madregot). Die meisten Zimmer im Norden waren schon ausgebucht.

Als Neu-Israeli stand ich die ganzen letzten Tage unter besonderer Beobachtung. Alle wollten wissen: Wie nimmt er’s? Israelische Freunde meldeten sich besorgt und entschuldigten sich für die Umstände. In die Schweiz meldete ich jeweils: Die Situation ist verschissen, aber ich bin in guten Händen.

Noch hält sich meine Erleichterung über die Waffenruhe mit der Hamas in Grenzen. Die Unruhe der letzten Tage sitzt mir in den Knochen. Von unserem Zimmer im Norden verspricht man uns wunderschöne Aussicht über den Kinneret (See Genezareth) – am anderen Ufer wütet der syrische Bürgerkrieg.

Wie wir gerade aus dem Haus gehen, rollt krachend lauter Donner über die Stadt. Mein Herz bleibt für einen Moment stehen. Dann setzt der Regen ein.

Gestern Abend hiess es: Waffenstillstand um Mitternacht wahrscheinlich. Ich fragte die Nachbarn: «Wird’s Freudenfeste geben?» Für einen Moment stellte ich mir vor: Alle rennen auf die Strasse und umarmen sich. – Die Nachbarn schauten mich etwas mitleidig an und sagten: «Das ist nicht Paris 1945.» Ist hier wirklich Krieg der Normalzustand?

Heute Abend: Leere Busse fahren Parade auf der Dizengoff. Es ist unheimlich ruhig draussen. Wir sassen mittags beim Geburtstags-Brunch von Gs Schwester im Restaurant Gilys am Meer, als, wie ein heftiger Windstoss über stillem Wasser, an einigen Tischen nebenan Unruhe aufkam, Stühle rückten, Handys bimmelten… G schnappte einige Brocken der Konversationen auf und sagte: «Wie … Explosion … habt ihr Sirenen gehört…?»

Wir wollten nach dem Brunch mit dem Bus zum Museum fahren. Die Schlagzeile: Terroranschlag auf Bus in Tel Aviv. Linie 142. In der Nähe des Museums. In der Nähe von Verteidigungsminister Baraks Haus. Barak fährt bestimmt nicht Bus. Aber unsere Freundin, Baraks Nachbarin. Deren Kleinkind wird regelmässig geweckt von den Demonstranten draussen vor Baraks Hauseingang (Barak wohnt im 15. Stockwerk)…

Wir schreiben Textnachrichten, fragen Freunde, ob bei ihnen alles ok ist. Man will die eigene Welt fühlen, anfassen, nach dem Erdbeben die Gläser im Schrank zurechtrücken.  Gs Schwester erzählt, wie ein Studienfreund von ihr auf Whatsapp eine Gruppe gründete, wo nach jedem Raketenangriff durchnummeriert wird wie in der Armee: “1 .. bin ok, 2 .. bin ok, 3 .. bin ok, 4 .. 4 .. 4??  4 .. bin ok, 5 …”

Die Polizei sucht zwei Verdächtige in Tel Aviv, heisst es in den Abend-Nachrichten, möglicherweise sind sie bewaffnet mit weiteren Sprengsätzen. Die Strassen sind ruhig, die vorbeifahrenden Busse sind leer. Um fünf dämmert’s. Sechs Uhr fühlt sich an wie Mitternacht. Im Haus gegenüber probt eine Band, der Gitarrist hat die ganzen Klassiker von Hotel California bis Scorpions drauf. Die Hamas trägt die Eskalation der Gewalt erfolgreich nach Tel Aviv. While My Guitar Gently Weeps.

Gespenstisch .. Leere Busse auf der Dizengoff

«Tonight we’ve gotta celebrate, cause this could be the end ..» – Videoclip der Raketenattacke gestern Abend auf Tel Aviv, gefilmt und gepostet von den Internet-Nerds im Atelier The Hub in Tel Aviv. Als Soundtrack stelle man sich alternativ die Alarm-Sirenen Tel Avivs vor (Explosion der von ‘Iron Dome’ abgefangenen Rakete im Nachthimmel bei 0:56 im Video).

Im Süden Israels ist gestern ein Mann auf seinem Balkon von einer Rakete getötet worden, während er den Angriff auf seine Stadt filmte.