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Typisch Israel

Die Kadenz steigt. Heute feuerten sie zwei Mal Raketen auf Tel Aviv. Der Tag ist noch nicht um. Es wird immer unheimlicher. Einige unserer Freunde wurden eingezogen für die Bodenoffensive. Der Arzt mit den wasserblauen Augen ist als Jet-Pilot bei der Luftwaffe schon länger im Einsatz. Die Israelis auf der Strasse geben sich entschlossen, ergeben. Beeindruckt, aber nicht erschüttert.

Nachdem ich um fünf einen Kunden im Arcaffe treffe, lasse ich mir im Deli Hühnerbeine geben und hole Broccoli fürs Abendessen beim Araber. Bei uns um die Ecke treffen sich wie immer Familien mit Kinderwagen, der Nachwuchs kurvt mit Dreirädern über den grossen Basel-Platz. Gleich werden die Sirenen wieder losheulen.

Die Anspannung lässt jetzt nicht mehr nach. Mir fällt es schwer, das normale Leben im Kriegszustand zu akzeptieren. In der Ulpan sagt Tzipi die Lehrerin heute Morgen, sie würde uns lieber die Zukunftsform der Pi’el-Verben erklären, aber da wir nachfragen, gibt sie uns etwas Kriegs-Vokabular mit: Sirene (Aszaka), Rakete (Til) oder Treppenhaus (Madregot). Dorthin soll man sich begeben, wenn kein Schutzraum (Miklat) in unmittelbarer Nähe ist. Der Rektor (Menahel) kommt in die Klasse, instruiert uns und lobt uns, dass wir trotz der Bedrohungslage zur Schule kommen. In der Zehn-Uhr-Pause heulen die Sirenen los. Das Treppenhaus ist voll mit Schülern und Lehrern. Seufzen, Augen rollen, viele haben ihr Handy am Ohr während der 60 Sekunden bis zur Detonation (Pizuz).

Wie ich mit dem Abendessen in den Einkaufstüten die Baselstrasse runter in Richtung unserem Haus gehe, heulen wieder die Sirenen los. Mittlerweile bleibt keiner mehr stehen, alle wissen was zu tun ist, eilen zum nächsten Hauseingang. Die Sirenen verstummen, ich bin am Handy mit meiner Frau verbunden, das Mädchen neben mir im Treppenhaus spricht beunruhigt in ihr Telefon. Wir warten. Dann ist ein bedrohlich dumpfer Rumms zu hören. Wo hat die Rakete eingeschlagen? Die Ambulanzen des Rettungszentrums am Baselplatz bleiben still…

Zuhause schalte ich den Fernseher ein. Der Nachrichtenkanal zeigt Bilder von zwei Abfangraketen, die eine orange-weisse Kurve in den schwarzen Abendhimmel zeichnen und dann in einem grossen Feuerball aufgehen. Die Rakete aus Gaza: Abgefangen. Der Verkäufer im Kiosk sagt bei unserem täglichen Schwatz: Nach zehn Raketen hast du’s gesehen.

Der Kosename der Stadt ist The Bubble. Weil die Leute hier im Alltag seit Jahren die politische und militärische Situation Israels ignorieren und ungerührt und unberührt das Leben geniessen. Dieser Tage hat die Bubble auch noch eine Eisenkuppel als Verstärkung: Den Iron Dome der Hightech-Abfangraketen. Wir hoffen, dass die Tel Aviver Bubble hält.

Abfangrakete beschützt die «Bubble»

In den Nachrichten heisst es, «Tel Aviv wird angegriffen». Das tönt gefährlich. Ist es aber bis jetzt zum Glück überhaupt nicht. Es sind zwei schlecht gezielte Raketen in unsere Richtung (im Süden Israels haben in den letzten Tagen hunderte Raketen eingeschlagen, mit tragischen aber überschaubaren Folgen).

Es ist nicht Todesangst, was mich gestern Abend aus der Stadt treibt, zu Familie im Umland, um dort zu übernachten. Es ist nicht die Furcht davor, die dritte Rakete falle ausgerechnet auf meinen Kopf, unter Millionen von Tel Avivern. Es sind die leeren Strassen und Bars. Selbst in den TV-Nachrichten witzeln sie, dass es nie so viele leere Parkplätze im chronisch zugeparkten Tel Aviv gab. Es ist das Gefühl von 9/11: Unsere Welt, unsere Realität wird brutal angegriffen und schwer verletzt (und dazu gehören auch die Bomben auf Gaza). Ich glaube, was mich aus der Bahn wirft, ist die Attacke auf die Realität um mich herum, die Verletzlichkeit der Welt, die ich kenne und liebe und in der ich lebe und leben will.

Also füttere ich Gizmo, fülle seinen Napf randvoll, entschuldige mich bei ihm, dass ich ihn alleine im Kriegsgebiet zurücklasse, und fahre raus aus der Stadt. Das kann ich mir noch nicht vorstellen: aber am Morgen, wenn meine Frau von der Arbeit zurückkommt, wird alles wieder wie immer sein. Köstliches israelisches Frühstück im kleinen Coffeeshop, fiese Raketen auf den Süden Israels, keine Spur von Krieg in Tel Aviv. Bis zur nächsten Sirene.

Den zweiten Bombenalarm erlebe ich heute Nachmittag am Meer. Meine Frau geht um acht Uhr früh zur 24-Stunden-Schicht. Schweren Herzens. Man rechnet hier mit mehr Geschossen aus Gaza. In der Situation will man nicht alleine sein. Ich frühstücke mit einer Freundin. Sie ist Ungarin, Grafikerin, auch ein Liebes-Import. Wie immer, wenn wir zusammensitzen, besprechen wir Israel, tauschen Gedanken zu unserer neuen Heimat aus. Sie beschwert sich, dass die Leute hier kein Bewusstsein für’s Visuelle haben. Sie nimmt alles hier etwas persönlicher als ich. Natürlich geht’s auch um den Bomben-Alarm von gestern. Wir sind beide ähnlich ratlos, versuchen zu begreifen, was dieser Krieg mit uns zu tun hat.

Am Hafen feiern sie mit einem kleinen Event den Start zur israelischen Langstrecken-Segler-Meisterschaft. Ich setze mich nach dem Frühstück zu den Zaungästen auf die Hafenmole. Die Jachten starten in drei Gruppen Richtung Norden zu einem 8-10 Stunden langen Rennen nach Netanya und zurück. Es sind perfekte Segelbedingungen, leicht bedeckter Himmel, glatte See, steifer Ostwind. Auf dem Weg zurück an den Strand heulen die Sirenen wieder los. Alle kauern sich hinter die massiven Steine des Wellenbrechers.

Eine, zwei Minuten lang heulen die Sirenen, ich filme mit dem iPhone, löse meinen Blick nicht von der Skyline Tel Avivs. Ein scharfer Knall vom Meer draussen – Ruhe. –  Einen Moment später geht das Tok-Tok der Matkot-Spieler am Strand wieder los. Andere Passanten auf der Mole haben den Einschlag der Rakete im Wasser gesehen. Ein paar hundert Meter vom Ufer weg, südlich der roten Boje wo die Segler eben noch gewendet hatten.

Eine Viertelstunde später meldet der Armeesprecher wie schon nach dem gestrigen Angriff: «Projectile did not explode on the ground.» Ich setze mich ins Landwer am Hafen und esse Hummus und Falafel. Wie ich da sitze und langsam wieder zu mir komme, erkenne dieses Gefühl der Ohnmacht und der Enttäuschung wieder: So hatte ich mich zuletzt gefühlt am Nachmittag des 11. September 2001.

Sirenengeheul … wo schlägt’s ein …?

Eben hatten wir Raketen-Alarm hier in Tel Aviv. Es war der erste Alarm seit dem Golfkrieg 1992, schreiben sie im Live-Report auf Haaretz. Mehr haben sie nicht zu sagen. Die Sirene heult, meine Frau kann es erst gar nicht glauben – und hat keine Ahnung, was zu tun ist. Ich denke: Was ist die Chance, dass eine Rakete ausgerechnet Basel trifft. Und wenn man die Schäden im Süden des Landes sieht, ist da nach einem Einschlag jeweils ein Loch in der Fassade oder im Dach, aber das Haus steht noch. Das sind ja keine Flächenbombardements. Die Sirene heult, wir schauen nach draussen auf die Strasse, neugierig, wie ernst das zu nehmen ist. Die einen hasten durch die Strasse, auf der Suche nach dem nächsten Schutzraum. Andere bleiben stehen … Meine Frau ruft Freunde an, um zu hören, was die machen. Die Sirene heult vielleicht ein, zwei Minuten. Ich könnte kotzen. Nur ganz weit weg habe ich vielleicht auch Angst um mein Leben. Aber was ist die Wahrscheinlichkeit … Viel mehr bin ich wütend, enttäuscht, traurig, dass das wirklich passiert. Dass Raketen auf Tel Aviv fallen, und Israel den Gazastreifen bombardiert. Die Sirene verstummt, dann hören wir in der Ferne einen Bums. Die im Fernsehen wissen erst auch nicht mehr als wir. Sie zeigen immer wieder Live-Bilder einer Panoramakamera von Tel Aviv, die Hochhäuser vor dunklem Nachthimmel, abertausende Lichter. Dann eine Sicht auf die Stadtautobahn Ayalon mit dem dichten Feierabendverkehr… Die Anonymität der Grossstadt beschützt mich.

Wir sind zu einem äthiopischen Diner eingeladen bei der stellvertretenden Botschafterin zuhause. Sie schreibt eine SMS, eben sei das Essen eingetroffen, es rieche köstlich, sie hoffe, wir kommen trotz dem Schrecken alle.

Jetzt, heute Abend, halbzehn israelische Zeit, steht zuvorderst zuoberst auf Spiegel Online: «Palästinenser fürchten neuen Krieg». Dies, nachdem die israelischen Streitkräfte eine Offensive aus der Luft gestartet haben und weitere Attacken ankündigen. Heute Nachmittag sass ich mit einer Freundin in der French Bakery bei der Besprechung ihrer neuen Webseite, als sie im iPhone die Nachricht las über die Tötung des Hamas-Generals bei einem Luftschlag im Gaza-Streifen. Sie war nicht gerade ausser sich, aber beunruhigt, enttäuscht, auch ängstlich und wütend. Sie sagte etwas wie: «Das ist also unser Land!? Es tötet diesen Mann.» Ich legte die Nachricht ab, wie ich diese Nachrichten in der Schweiz abgelegt hatte.

Jeder hier weiss von jemandem, der jemanden kennt, der in einem Armee-Einsatz verletzt oder getötet wurde. Diese Nachrichten sind hier keine anonymen Nachrichten, es geht um Menschen. Dann, gerade vorhin, borgt sich der Nachbar vom 1. Stock Basilikum aus unserem Garten. Er sagt: «Es ist jedes Mal das gleiche.» Im Januar stehen Wahlen an für die Regierenden. Jetzt, zwei Monate vor den Wahlen, wischen sie mit einem kleinen, gut kontrollierbaren Krieg sämtliche nicht-kontrollierbaren, unangenehmen, aber für die Leute hier essenziellen Polit-Themen vom Tisch. Von wegen sozialer Gerechtigkeit. Der Nachbar hat eine linke Freundin.

Die Palästinenser fürchten einen neuen Krieg. Natürlich! Wer nicht! Gestern Abend sitzen wir mit einem Arbeitskollegen meiner Frau am Tisch. Er erzählt, dass er nächste Woche für den jährlichen Armee-Dienst aufgeboten wurde. Ich wollte ihn noch fragen, was er macht in der Armee. Dann dachte ich: das ist eine Touristenfrage. Heute würde ich ihn fragen. Ich hoffe, er muss nicht nach Gaza. Genau wie die Palästinenser: Die Israelis fürchten einen neuen Krieg.

Schlagzeile auf Spiegel Online am Abend des 14. November

Letzte Woche spazierte ich Abends mit einer Freundin die Dizengoff runter, und was sehe ich: Einen FREITAG-Store! Was für eine Freude! Die Qualität der Produkte! Die Konsequenz in Design und Marketing! Die Qualität! Der unverwechselbare Style! Die Einfachkeit! Die Qualität … FREITAG steht für vieles, was in Tel Aviv (noch) fehlt, und was Zürich ausmacht.

Man sieht der Produktauswahl hier in den Läden an, wie Israelis einkaufen: Billiger ist besser. Qualität ist beim Kaufentscheid zweitrangig. Selbst die teure italienische Mode: Es sind die Modelle von letzter Saison – dafür lässt sich mit dem Verkäufer über den Preis verhandeln. (Die sich’s wirklich leisten können, kaufen wohl sowieso direkt in Mailand oder Zürich, wo die Auswahl grösser ist.) Aber Tel Aviv ist bereit für mehr Stil, Mode. Die Jungen sind es, die sich nach Europa orientieren.

Vor dem kleinen FREITAG-Shop stand der eine Bruder Freitag. Ich schüttelte ihm die Hand und hiess ihn herzlich willkommen in Tel Aviv. Er war eingeflogen für die Eröffnung des Popup-Stores, der die Marke in Tel Aviv einführt. Er wirkte etwas verloren zwischen den Israelis. Offenbar hatten sie ihn jahrelang bestürmt, FREITAG nach Tel Aviv zu bringen. Viel Glück! Die Freundin, die mit mir da war, fand den Laden und die Produkte super, aber sie konnte sich nicht mehr davon erholen, dass eine kleine Handtasche 800 Schekel kosten sollte…

Ich sitze auf der Terrasse des Loveat beim Lunch. Plötzlich tauchen wieder Kamerateams und Profi-Fotografen mit langer Linse auf. Ein dicker weisser Audi mit Blumendeko auf dem Kühler fährt vor: Noch eine Hochzeit. Das Brautpaar steigt aus, die Paparazzi geben Anweisungen, lächeln, küssen, Hand-in-Hand gehen. Anders als in der Schweiz, führt hier in Israel kein Weg an der Norm-Hochzeit vorbei. Die Norm ist: die Familien laden mehrere hundert Gäste zu Essen, Rabbi und Musik in eine der Event-Hallen. Davor absolviert das Brautpaar den Foto-Shoot und Filmdreh auf der Dizengoff-Strasse, am Meer im Abendlicht und in der Altstadt in Jaffa. Im Frühjahr vergeht hier kein Tag ohne Shooting.

Einige tausend israelische Paare im Jahr entziehen sich diesem Druck von Religion und Tradition und fliegen für ihre Trauung nach Zypern. Das ist der einzige Weg am Rabbi vorbei, die Trauung im Ausland der einzige Weg zur Ziviltrauung (in Israel dürfen nur die religiösen Autoritäten Ehen schliessen – und auflösen). Mangels Ziviltrauung in Israel ist es auch der einzige Weg für Paare mit einem nicht-jüdischen Partner. Bereits zwei meiner Bekannten aus der Ulpan waren «auf Zypern». Sie kamen nicht besonders glücklich zurück. Charterflug voller ungläubiger Paare hin, fünf Minuten in einem zypriotischen Amt, Charterflug zurück: So hatten sie sich ihren schönsten Tag nicht vorgestellt.

Kein rotbraunes Laub auf der Strasse. Kein Nebel. Kein Regen. Herbst gibt’s hier nur in den Auslagen der Kleiderläden.

Die Temperaturen fallen jetzt aber auch mal unter 20 Grad – nachts. Die Restaurant-Terrassen werden zu Wintergärten umgebaut. Nach gefühlten sechs Monaten ohne Regen.

Das Licht verändert sich kaum merklich, der ewige Sommer bleicht etwas aus, wird fahl und dann bald auch für Tage grau und nass. Der Winter kommt.

Alle hier sagen als erstes: «Wow, du willst hier leben? Und du bist nicht mal jüdisch? Respekt.» Und sie leuchten vor Stolz, wenn ich ihnen erzähle, wie viel Freude ich am Leben und an den Menschen hier habe. Israelis sind sich vor allem kritische Fragen gewohnt von Ausländern. Dann warnen sie mich vor den Schwierigkeiten und Problemen hier. – Auch oft gehört: «WAAS, DU KOMMST AUS DER SCHWEIZ!? Bist du verrückt? Aus dem besten Land der Welt kommst du hierher…?!» – Der Vater meiner Frau zieht den Umkehrschluss: «Man muss offenbar Schweizer sein, um dieses Land hier zu mögen…» Vielleicht hilft eine Portion Schweizerisches Gutmenschendenken und Naivität, um hier positiv zu bleiben. Mal sehen, ob und wann mich ‘die Realität’ einholt.

80 Prozent in meiner Hebräisch-Klasse sind hübsche Frauen im heiratsfähigen Alter: (angehende) Import-Ehefrauen. Einige sind gleichzeitig beim Rabbi in ‘Ausbildung’, um zu konvertieren (die Kinder sind nur jüdisch, wenn die Mutter jüdisch ist). Als Mann bin ich in diesem Segment die absolute Ausnahme. – Emanzipation in der Praxis. – Importiert wird von den Israelis natürlich, was zu Liebe, gutem Sex und Familie taugt. Immigration via Herzblatt.

Die tun was für den Genpool hier: Dralle und lange blonde Modell-Russinnen, gutgepflegte brünette Französinnen und Spanierinnen, die eine oder andere Südamerikanerin, naiv-optimistische US-Amerikanerinnen aus guten Familien. Lernbegierige Ost-Asiatinnen, Inderinnen, Afrikanerinnen sind eher die Ausnahme. Auch Deutsche.

Was wir alle gemeinsam haben: Dass es uns verdammt ernst ist mit Israel. Dass wir uns optimistisch und selbstbewusst auf die Herausforderung einlassen. Und dass wir alle mehr oder weniger frisch verliebt sind.