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Ulpan

Neulich war ich mit einem Start-Up-Professional aus Colorado beim Bier. Er lebt seit bald zwei Jahren in Tel Aviv, arbeitet an seinem zweiten Start-Up und wohnt bei der x-ten Frau. Er hat gar nie erst mit Hebräisch angefangen. Er fährt auch nicht Auto, sprich: er verlässt Tel Aviv nie. Sein Biotop ist die Bubble. So geht leben in ‘Israel’ gut ohne Hebräisch.

Ich kenne andere Zugezogene, die auf Anfänger-Niveau die Ulpan-Schule verlassen haben mit der Idee, alles weitere lerne man dann auf der Strasse. Jahre später sind sie nicht viel weiter. Ich bin nun gute sechs Monate in der Schule. Das sind jede Woche 20 Stunden und mehr Hebräisch. Doch ausserhalb des Schulzimmers spreche ich noch immer kaum. Zu einfach geht’s mit dem Englischen hier. Und für eine intelligente Konversation oder um die Zeitung zu lesen ist mein Hebräisch noch immer zu schwach.

Als Eliezer Ben Yehuda das erste (neu)hebräische Wörterbuch verfasste, musste er einen Teil des Vokabulars neu erfinden. Die Sakralsprache kannte keine ‘Würstchen’ und keine ‘Eisenbahn’, kein ‘Handtuch’ und kein ‘Omelett’. Dabei hat er sich auch mal vom Deutschen (oder Yiddischen) inspirieren lassen. Leider nur in Einzelfällen. Mein Leben wäre einiges einfacher, hätte er öfter mal wie bei ‘Schachmat‘ für ‘Schach’ ein Auge zugedrückt und einfach das Deutsche übernommen.

Am Ende ist Hebräisch aber auch einfach eine beeindruckende Willensleistung: Ein ganzes Land spricht heute eine Sprache, die vor etwas über 100 Jahren neu erfunden wurde. Man mache das mal nach.

Ben Yehuda hatte einen faulen Tag. Hebräisches Wort für Schach: ‘Schachmat’.

Heute Mittag, nach vier Stunden Hebräisch-Unterricht, gebe ich die Ziffern für den Zahlencode am Fahrrad verkehrt herum ein, von rechts nach links, 4307 anstatt 7034. In meinem Kopf spiegelt sich alles ob der ganzen Rechts-nach-Links-Schreibe.

80 Prozent in meiner Hebräisch-Klasse sind hübsche Frauen im heiratsfähigen Alter: (angehende) Import-Ehefrauen. Einige sind gleichzeitig beim Rabbi in ‘Ausbildung’, um zu konvertieren (die Kinder sind nur jüdisch, wenn die Mutter jüdisch ist). Als Mann bin ich in diesem Segment die absolute Ausnahme. – Emanzipation in der Praxis. – Importiert wird von den Israelis natürlich, was zu Liebe, gutem Sex und Familie taugt. Immigration via Herzblatt.

Die tun was für den Genpool hier: Dralle und lange blonde Modell-Russinnen, gutgepflegte brünette Französinnen und Spanierinnen, die eine oder andere Südamerikanerin, naiv-optimistische US-Amerikanerinnen aus guten Familien. Lernbegierige Ost-Asiatinnen, Inderinnen, Afrikanerinnen sind eher die Ausnahme. Auch Deutsche.

Was wir alle gemeinsam haben: Dass es uns verdammt ernst ist mit Israel. Dass wir uns optimistisch und selbstbewusst auf die Herausforderung einlassen. Und dass wir alle mehr oder weniger frisch verliebt sind.

Ich sitze wieder vier Tage die Woche, vier Stunden am Tag in der Schulbank, der Hebräisch-Schule, der Ulpan.

Über das ganze Einwandererland Israel verteilt finden sich diese Ulpans. Alle Einwanderer werden hier durchgeschleust – das heisst: ein grosser Teil, mehr als ein Drittel der heutigen israelischen Bevölkerung, war als Einwanderer Schüler in einer Ulpan-Schule. Vermittelt wird Hebräisch in vier bis fünf Schwierigkeitsstufen. Und mitgeliefert wird auch eine gute Portion israelische Kultur. Insbesondere bei den Schulklassen für nichtjüdische Schüler auch: jüdische Traditionen. Feiertage werden in der Schule erklärt und symbolisch gemeinsam begangen.

Ruft da jemand Integration! Leitkultur!? – Jawohl! So geht das. Den jüdischen Einwanderern wird fünf Monate Unterricht vom Staat bezahlt. Wir anderen – vorwiegend Touristen und Import-Lebenspartner – zahlen einen (für Schweizerische Verhältnisse) bescheidenen Beitrag an die subventionierten und von Stiftungen unterstützten Schulen.

Das Unterrichtstempo ist atemberaubend. Vom ersten Tag an wird klar: wer hier in Israel Fuss fassen will, muss hier wirklich Fuss fassen wollen. Die Sprache ist eine erste hohe Hürde. Die jüdischen Einwanderer werden unterstützt mit Steuergeschenken, bezahltem Unterricht, Stellenbörsen und Mentoring. Wir andern müssen sehen, wo wir bleiben. Hier zieht keiner mal eben so schnell hin – ausser er ist jüdisch.