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Unser Leben

Zuerst kam die Nachricht, dass Biden seinen Wochenend-Urlaub abbricht, um mit seinen Generälen ‘Iran-Israel’ zu beraten. 

Dann sagten sie hier im ganzen Land die Schule ab für den nächsten Tag. Das ist in etwa die deutlichste Ansage, dass ein ausserordentlicher Angriff kommt. Denn das Land steht zu einem guten Teil still, ohne Schule und Kinderbetreuung. 

Andererseits, für uns war es eine symbolische Ansage. Der Sonntag war der erste Tag der Frühlingsferien in unserer Schule. 

Man sei vorbereitet auf eine Attacke aus dem Iran, sagte Bibi. 

Gutenachtgeschichte mit den Kids.

Und dann um 23Uhr die Meldung: die Drohnen sind in Iran gestartet. 

Jordanien und andere Länder in der Region schlossen ihren Luftraum. 

Erst war von Dutzenden Drohnen die Rede, dann von Hunderten.

Wir waren alle schon im Bett. Ich war noch wach, G und die Kids schliefen schon. 

Dann starteten Raketen im Iran.

Dann kamen besorgte Whatsapp-Nachrichten von Freunden aus Europa.

Einige Stunden sollte es dauern, bis die Drohnen und Raketen hier sein würden. 

Sollte ich alle schlafen lassen, und hoffen, dass es ruhig bleibt? 

Das ist tatsächlich, was nicht Wenige in unserem Freundeskreis machten. Wenn’s dann Alarm geben sollte, hört man’s ja… Wer wartet schon gerne Stundenlang in der Nacht auf Raketen aus dem Iran.

Um die Zeit sinnvoll zu nutzen richtete ich mit unseren Campingmatten im Schutzraum Betten ein, legte Decken aus, stellte einige Liter Trinkwasser und Petit Beurre und Taschenlampen bereit. 

Draussen war es ruhig, hin und wieder donnerte in grosser Höhe ein Flugzeug über uns weg. 

Ich prüfte Verfügbarkeit und Preise für Flüge nach Zürich. Für die nächsten zwei drei Tage war nur noch Businessklasse verfügbar.

Die Regierung meldete, im Süden des Landes solle man sich in der Nähe von Schutzräumen aufhalten. Wir leben nicht im Süden.

Ich weckte G, und wir beschlossen, die Kids schlafend nach unten in die improvisierten Betten zu bringen, solange es am Nachthimmel noch schön ruhig war. 

Es schien schwer vorstellbar, dass bei hunderten Drohnen und Raketen kein Luftalarm ausgelöst würde. 

Botschaftspersonal wurde schon Tage zuvor angehalten, in den Städten zu verbleiben.

Was mir entgangen war, lost in Translation: dass die Iraner wohl ihre Ziele vorher angekündigt hatten. Dass man wusste, die Raketen und Drohnen würden nicht auf Ballungszentren zielen, sondern hauptsächlich auf eine abgelegene Luftwaffenbasis in der Wüste im Süden. 

So blieb es ruhig und wir schliefen im Keller.

Am Morgen herrschte wieder Normalbetrieb.

So geht Normal hier.

“Ein 88-Jähriger ist am Sonntag in der Stadt Zürich gestorben.” Das war die Schlagzeile und Meldung im Tagesanzeiger.

Unsere Gedanken sind nicht bei der Familie des Corona-Toten. Sondern wir sind einfach nur froh, war er nicht 44 oder gar 33 oder 55 – denn alt sind ja nur die andern.

Die Corona-Angst treibt seltsame Blüten. Unsere Nachbarin, bin ich überzeugt, würde mich bei den Behörden verpetzen, wenn ich meine Quarantäne brechen und mit den Kids in den Park würde.

Wobei, das wäre wahrscheinlich gar nicht nötig, dass sie mich verpetzt, denn die Regierung nutzt seit neustem Terroristen-Bekämpfungs-Hi-Tech um freilaufende Coronaträger zu überführen.

Handydaten, Gesichtserkennung, so genau weiss man nicht, was da alles im Arsenal verfügbar ist. Aber unsere Nachbarin, zusammen mit der Aussicht von einer Kamera erkannt und überführt zu werden, haben mich gestern abgeschreckt und ich blieb zuhause statt das schöne Wetter zu geniessen.

Heute haben sie nochmal einen nachgelegt: Ab morgen darf man nur noch mit gutem Grund aus dem Haus. – Das schöne Wetter ist kein guter Grund. – Ausser: Man hat Kids. Mit Kindern darf man (engste Familie) aus dem Haus.

Befreundete Eltern haben kurzerhand ihre Kinder angeboten auf Facebook – wer an den Strand möchte und selber keine Kinder hat, könne sich gerne melden. Sharing is caring.

Noch nie hab ich Tel Aviv so ruhig erlebt vor Mitternacht. Ich höre die Nachbarn drei Häuser weiter aufm Balkon plaudern.

Das wird sich in näherer Zukunft auch nicht ändern. Die meisten Büros und Fabriken in Israel schliessen – für einen Monat, sagen sie mal. Alle Angestellten werden beurlaubt und bekommen Arbeitslosengeld. Viele freuen sich, mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen zu können.

Mir fällt es schwer, mir den Alltag ‘danach’ auszumalen. Geht’s dann einfach weiter, wo wir vor vierzehn Tagen etwa aufgehört haben? Wenn ich die Börsenkurse anschaue, scheint’s haben auch andere Mühe mit der Vorstellung dass das nur als ein paar Wochen Ferien für alle sind. Aber was wird denn sein?

Vielleicht hat’s damit zu tun, dass jeden Tag noch verrücktere Szenarien plötzlich Realität wurden. Und solange wir noch Unvorstellbares akzeptieren lernen müssen, ist es schwierig vorauszuschauen.

Nehmen wir’s Tag für Tag. Hauptsache gesund.

Durch unsere Strasse (viel ruhiger als sonst) hallt heute Abend ein Husten, immer mal wieder, das gar nicht gut tönt. So stelle ich mir das Mittelalter vor: Man hört, wie’s beim Nachbarn hustet, jeden Tag tönt’s etwas dumpfer, atemloser und blutiger, und dann kommt der Pfarrer. Und dann wird einer Füsse voran aus dem Haus getragen.

Blüht uns das nun auch?

Jedenfalls wird’s immer schwieriger, Corona als Fake-News abzutun, sogar der mächtigste Mann der Welt hat zähneknirschend ‘Notstand’ gerufen (obwohl er findet das sei schlecht für’s Business).

Kann es sein, dass ich jetzt das erste Mal seit ich ausgewandert bin, nach bald 9 Jahren Israel, ein bisschen neidisch auf die Schweiz schaue?

Es fing ja so an, dass ich persönlich etwas gekränkt war und in meinem Stolz getroffen, dass ich als Schweizer überhaupt in Quarantäne musste hier in Israel. Die grundsolide, langweilige, furchterregend risikoscheue Schweiz war plötzlich ein Hochrisikoland?

Seither, eine Woche später, rief unser Bibi Netanyahu die ganze Welt zur Hochrisikozone aus (manche sagen, weil er zu feige war, mit dem Finger nur auf die USA zu zeigen), und gewisse regierungsnahe Kommentatoren verstiegen sich dazu ein Loblied zu singen, wie grossartig Israel die Corona-Epidemie meistere, Grenzen schliessen, Quarantäne … Seht her, die Italiener haben dutzende Tote wir haben nur 25 Fälle … 50 Fälle … 75 Fälle …

Als würde diese Fallzahl über Glück oder Unglück entscheiden. Die Fallzahlen werden steigen. Aufhalten lässt sich die Epidemie nicht. Verlangsamen, ja, aber zu welchem Preis?

Also sagt die Schweiz: Grenzen schliessen? Nicht praktikabel. Aber wir bereiten unsere Spitäler vor. Wir richten beispielsweise Triage-Stationen ausserhalb des regulären Notfalls ein, damit Corona-Patienten keinen Fuss in’s Spital setzen, um nicht andere Patienten zu gefährden… Unspektakulär, aber hört sich vernünftig an.

Hier in Israel spazieren Corona-Verdachtsfälle nach wie vor in die reguläre Notaufnahme. Dafür hat Netanyahu heute mit einem Handstreich alle Schulen für einen Monat geschlossen.

Er gefällt sich in seiner (gewohnten) Rolle als General, und behandelt Corona wie einen weiteren Gegner gegen den er sein Volk in den Krieg führt. Bloss, ob die grossen Gesten auch gegen diesen Gegner das richtige Mittel sind?

Schlauer wäre, er würde die schlauen Köpfe machen lassen. Ohne notwendigerweise die ganze Welt auf den Kopf zu stellen. Einfach machen lassen, die Ärzte.

Die protestieren derweil, dass sie zu wenig Schutz-Ausrüstung haben und schlecht vorbereitet sind. Aber das wäre ja langweilig, sich hinsetzen und überlegen was vielleicht in ein, zwei Monaten nötig wäre. Lieber grosse Geste, grosse Schlagzeile.

Hoffen wir, dass es nicht zum Äussersten kommt, das Gesundheitswesen hier hat kaum Reserve. Israel hinkt in Sachen medizinischer Ausrüstung der Schweiz meilenweit hinterher. Auf 1,000 Einwohner kommen in Israel 5 Krankenschwestern – in der Schweiz 17.

Hoffen wir, dass am Ende Donald Trump recht behält: es ist alles nur ein grosser Hype aufgeblasen von den Fake-News Medien, um ihm persönlich zu schaden. Für einmal hoffe ich wirklich, dass er richtig liegt …

Irgendwann nach fünf sechs Tagen fühlt man sich schon fast wie tot, während man rumhockt in Quarantäne und darauf wartet, ob’s jetzt gleich mit dem Husten und dem Fieber losgeht.

Ich bin ja nicht weg, auf Reisen, irgendwo, wo man videochatten könnte und aus dem Leben erzählen und sagen, wie sehr man sich vermisst.

Sondern ich bin irgendwie hier – und doch nicht hier. Eben wie der frisch gestorbene, der nichts und niemanden anfassen kann, aber der doch allgegenwärtig ist.

(Das kommt jetzt düsterer daher, als es gemeint ist. Aber man kommt schon auf Gedanken.)

Zum Glück steht unser Drucker bei mir im Quarantäne-Zimmer. Wenn jemand im Haushalt was auf Papier gedruckt haben muss, dann krieg ich einen Auftrag zugeschickt, dann zieh ich Gesichtsmaske und Handschuhe an, dann lege ich Papier ein, drucke und händige aus mit spitzen Fingern, was da aus der Maschine kommt. Dann fühl ich mich wieder richtig lebendig.

“Bitte kühl lagern und sofort geniessen.” steht auf jeder Schachtel Luxemburgerli.

Sie waren als feines Mitbringsel und Lichtblick in düsteren Zeiten gedacht – dann wurde mir klar, die sind ja sicher auch verseucht. Kann ja keiner essen hier.

Heute haben wir sie trotzdem erledigt. Corona-Seuche hin oder her.

Jetzt bleiben noch die Schoko-Goldhasen, die stehen unberührt auf dem Regal. Wie lange hält’s das Virus auf so einem Schokohasen aus? Bis Ostern sind die bestimmt geniessbar …

Gestern nieste ich 3 Mal. War es Corona-Niesen? Gut möglich. Es hat sich anders angefühlt als sonst, trockener, bin ich überzeugt. Jedes Zwicken und jedes Räuspern ist Corona-verdächtig. Heute Morgen dann wird mir warm und wärmer – Fieber?

Ich öffne das Fenster.

Draussen scheint die Sonne. Es ist gegen 30 Grad warm. Kein Fieber. Frühling in Tel Aviv.

Hoffen wir, dass Corona nicht gut kann mit warm. Dann wird am Ende die Erderwärmung das Coronavirus erledigen.

Oder umgekehrt: Corona löst das Problem der Erderwärmung – weil die Welt endlich stillsteht, innehält, Flugzeuge bleiben am Boden, die Wirtschaft kühlt ab, und endlich, endlich kann sich die Natur erholen von all dem Billigflieger-Globalisierungs-Wahnsinn der letzten Jahrzehnte …

Das Coronavirus die Strafe für unsere Sünden? Eine Korrektur, eine schmerzhafte Kur? Wir wussten ja schon lange, dass wir etwas ändern müssen!

Quatsch! Das Coronavirus ist eine Entwicklung der Amerikaner, um das Regime in Iran zu destabilisieren – sagen die Regierenden in Iran.

Quatsch! Die Panik um das Coronavirus ist eine Erfindung der Medien und der Demokraten, um Trump’s Wiederwahl zu torpedieren – sagt Donald Trump.

In unserem Corona-Quarantäne-Chat auf Whatsapp wird über alles gesprochen, nur nicht über die Gesundheit. Man niest, aber man hat’s ja nicht, man ist nur pro Forma in Quarantäne …

Hoffen wir dass es so bleibt!

Das Schwierigste ist nachwievor, nicht am Familienleben teilnehmen zu können. Manchmal setz ich mich oben auf die Treppe und schaue zu wie die andern ihr Leben führen.

Wie ich so hocke und zuschaue und ignoriert werde, fühl’ ich mich wie der frisch Verstorbene in einer Film-Komödie. Der Geist, der zusehen aber nicht mitspielen kann.

Oder wie ein Haustier, das zwar ein paar Tricks drauf hat, und das alle süss finden, das aber ansonsten vor allem gefüttert werden will, und das nicht wirklich etwas zum Alltag beiträgt.

Im Quarantäne-Chat auf Whatsapp hat mich derweil einer der Schweizer zu einem Morgenspaziergang um 5AM eingeladen.

“Alles leer, keine Menschen auf der Gass..”

Wäre ja schön, aber was, wenn ich erwischt werde bei unsrem Morgestraich? Ich hab’ mich beim Gesundheitsministerium wie gefordert online zur Quarantäne angemeldet. Vermutlich ist meine Akte jetzt mit rot C markiert, und wenn mich eine der Gesichtserkennungs-Kameras auf der Strasse entdeckt, werde ich gemeldet und – was dann? Wird meine Quarantäne zur Strafe verdoppelt? Werd’ ich gebüsst? Zwangs-Quarantänt? Deportiert nach Nord-Italien oder China?

Und was erst, wenn wir zu zweit, zu dritt unterwegs sind? Gefasst: Das ist die Schweizer Corona-Bande wird’s dann in den Zeitungen heissen. Rücksichtslose Schweizer, die um die Häuser Tel Avivs ziehen und ihr Virus verteilen während die nichts-ahnende Stadt noch schläft…

Ich bin jetzt in einem WhatsApp-Chat mit einer Gruppe ein-quarantänten Schweizern. Wir tauschen Corona-Witze, klagen über unser Leid, vergleichen Fotos der Mahlzeiten die wir gereicht bekommen, und diskutieren den Tagesablauf in Quarantäne. (Denn ein guter Schweizer braucht auch in Quarantäne einen ordentlichen Plan mit Frühsport, klar definierten Arbeitsstunden und Arbeitspausen, und einem Projekt für die Freizeit. Wie beispielsweise der Frühlingsputz im Kleiderschrank.)

Wir verlassen unsere Zimmer nicht, und wenn wir Kontakt zum Rest der Familie haben, treten wir uns gerüstet mit Gesichtsmaske und Handschuhen gegenüber (mindestens 2 Meter Abstand, Fenster offen). Beim besten Willen kann ich mir nicht vorstellen, dass Israelis dieses Regime durchziehen.

Nebst der Bedenken und der Angst um die Gesundheit, ist der (nicht) Kontakt zur Familie das Schwierigste an der Quarantäne.

Unsere gemeinsame Hoffnung: dass wir alle gesund bleiben und in 14 Tagen um eine spezielle Erfahrung reicher sind.