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Unser Leben

Ich habe nie so gut gegessen wie in den letzten 18 Monaten hier in Israel. Das ganze Jahr über gibt’s im Supermarkt taufrisches, reifes Gemüse und Obst aus lokaler Produktion. Tel Aviv ist voll fantastischer Restaurants, die auch köstlich (un-koschere) Meeresfrüchte zu zahlbaren Preisen servieren. Un-koschere Supermärkte und Delis führen von Crevetten über Salami bis zu original Gruyère. Dass ‘koscher’ für viele wichtig ist, begegnet mir jeweils völlig unerwartet.

Die dicke Frau hinter der Fleischtheke im Coop diskutiert mit einer Kundin. Ich verstehe nur einige rohe Brocken des Gesprächs. Immerhin.

Die beiden lassen sich Zeit.
Die blassroten Koteletts in der Auslage sehen aus wie vom Schwein!
Ist das möglich?

Wir kaufen immer im un-koscheren Coop ein. Hier gibt’s auch gefrorene Crevetten und anderes Unheiliges mehr. Dass der Laden aber auch Schweinefleisch führt, wusste ich nicht. Die Schweinezucht ist verboten auf israelischem Grund und Boden, das heilige Land darf per Gesetz nicht von den unreinen Sauen betreten werden. (Der Trick: Man hält die Tiere auf einem Holzrost über Boden.)

Ich unterbreche die beiden Damen und frage: “Excuse me, was ist das für Fleisch?”
Die Kundin, eine stämmige bleiche Frau, wohl irgendwo im grauen Osten unter Sowjetherrschaft aufgewachsen, mustert mich misstrauisch und antwortet erstmal gar nichts.

Ich versuche es noch einmal: “Speak english..? Was ist das hier..?” sage ich, und zeige auf die üppigen Koteletts und Steaks.

Sie kuckt mich an, als spielte ich ihr einen bösen Streich.
Sie wendet sich wieder der Verkäuferin zu, die beiden tauschen sich kurz aus.

Dann sagt sie zu mir: “Pork?”
Ich habe sie beim Schwein kaufen erwischt.
Sie sagt es gleich noch einmal: “Pork.”
Ich nicke, freue mich, bedanke mich, lächle, damit sie nicht meint, ich hätte was gegen Schwein, oder gegen sie, die Schwein kauft.
Sie bestellt daraufhin sechs Stück der schweren Koteletts.
Dann kaufe ich eins für mich.

Eine Freundin von der Ulpan, Chinesin, erzählte mir, dass sie alle Luken ihrer kleinen Wohnung dicht macht, wenn sie für ihren israelischen Freund unkoschere Crevetten brät. Damit die Nachbarn nichts mitbekommen. Dann klingelte es eines Tages an der Tür, als sie gerade eine Portion sündige Crevetten im Wok brät: Der Postmann! Sie sagt, für einen Moment geriet sie in Panik. – Dabei ist das hierzulande einfach eine Frage des Umgangs. Viele unserer Freunde lieben Crevetten, nicht wenige freuen sich über einen Cervelat.

Ich brate mir mein Kotelett zuhause in der Pfanne an und lasse es im heissen Ofen schön durchziehen. Gabi fragt mich am nächsten Tag, ob das koschere Schweinskotelett anders schmeckt. Ich meine, es hat schon anders geschmeckt als eine Schweizer Sau.

Ob die Schweine in Israel wohl geschächtet werden…? – Ich sollte mal im Coop nachfragen.

Koscher Schwein

Bahnverkehr eingestellt. Highways gesperrt. Entwurzelte Bäume. Strassen geflutet. Die Polizei rät, das Auto stehen zu lassen. Es regnet in Israel! Seit bald drei Tagen tobt sich ein massives Sturmtief über Tel Aviv aus, mit heftigen Winden, Blitz und Donner rund um die Uhr und frischen 10 Grad. Endlich mal Wetter!!

Jemand postet auf Facebook: Wenn Bomben fallen, geht das Leben weiter wie immer – wenn’s regnet, bleibt die Stadt stehen. In Jerusalem haben sie Schnee angesagt. Wir planen ein Käsefondue. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.

Ayalon Stadtautobahn überflutet

Die Startup-Szene in der «Bubble» ist unglaublich heiss. Ich war an einem Startup-Apéro, wo ein grosser Accelerator oder Venture-wasauchimmer zu Drinks geladen hatte. Ich war in Startup-Werkstätten. Ich war bei Startup-Präsentationen. Und ich war auch bei denen, die es geschafft haben, die jetzt im Büro im siebten Stock mit Blick aufs Meer sitzen. Bei denen, die an AOL oder Reuters verkauft haben. Bei denen, die Millionen zahlender Nutzer auf ihren Diensten haben. Bei denen spreche ich vor, weil sie ja vielleicht einen Job haben für mich.

Mit den anderen – mit denen, die gerade «in between» sind, weil sie ihre Firma verkauft oder gegen die Wand gefahren haben – sitze ich in der Sonne beim Kaffee und tausche mich aus, was man als nächstes machen müsste. Man droppt Namen von Bekannten, von neuen Projekten, die man vom Hörensagen kennt, von unglaublichen Erfolgsgeschichten etc.

Es ist wie in Hollywood mit den Schauspielern. In jedem Arbeitslosen hier steckt ein kleiner Mark Zuckerberg. Es ist ja nur Internet! Kann ja jeder einen Blog schreiben oder sonst erfolgreich sein. Ich habe auch ein paar Leute kennengelernt, die eine Idee und Kohle haben. Die heuern Entwickler an. Und die werden dann enttäuscht, weil der russische Student, den sie per Skype angestellt haben, die geniale Idee nicht zu einem genialen Produkt macht.

Das Aussenministerium hat beschlossen, Israel künftig unter dem Label «Creative Energy» zu vermarkten. Der gute Ruf des aufregenden, zukunftsgerichteten Tel Aviv soll sich auf ganz Israel übertragen. Ich stelle derweil je länger je mehr fest, dass ich gar nicht in Israel lebe – sondern in Nord Tel Aviv. Das Quartier hier wurde in der Zeitung auch schon so charakterisiert, dass hier die israelischen Internet-Millionäre das süsse Nichtstun geniessen. Manchmal, wenn ich hier im Kaffee sitze, fühle ich mich deshalb auch ein bisschen wie ein Internet-Millionär. Am Montag habe ich ein Vorstellungsgespräch im hohen Norden Israels bei einem Sandalenproduzenten. Es würde mir gut tun, regelmässig aus der Bubble rauszukommen.

Auf dem kleinen Päckli aus Züri klebt eine alarmrote Warnung: «Lieber Bürger – zu deiner Sicherheit!!!» steht da. Man soll das Päckli nur öffnen, wenn man wirklich ein Päckli von dem Absender erwartet. Die liebe Post erinnert mich daran, dass das Päckli aus Züri durchaus auch eine Briefbombe sein könnte.

A propos, das mit den Geschenken unterm Weihnachtsbaum ist ja überhaupt ganz schön heikel: Wer weiss schon, wer da was ablegt. Der Santa Claus war da, das Christkind … Und vor allem weiss keiner, was in diesen Geschenken drin ist. Also bevor ihr das nächste Geschenk öffnet, fragt euch zu eurer eigenen Sicherheit(!!!): Kann es sein, dass das wirklich für euch ist…? So ein grosses Geschenk..? Was könnte da drin sein(!!!)?

Vielleicht gewöhne ich mich auch irgendwann einfach an all die Ausrufezeichen und an die Paranoia/Bedrohungslage.

Aufkleber auf dem Weihnachtspäckli aus Zürich: Vorsicht, Bombe!

Stell dir vor, es ist Silvester – und keiner geht hin. Ein Freund, auch ein Zugezogener, wünscht mir guten Rutsch und frohe Feier, «obwohl die Pinguine oder Kohlesäcke versuchen, den Silvester abzuklemmen». Pinguine und Kohlesäcke sind charmante geläufige Übernamen hier für die Orthodoxen, die am 17. September schon ihr Neujahr 5773 feierten.

Tatsächlich sind 31. Dezember und 1. Januar keine offiziellen Feiertage. Doch Tel Aviv feiert zu gerne, jüdischer Kalender hin oder her. Obwohl alle am Tag darauf früh zur Arbeit müssen, steigen hier und dort Silvester-Partys. Wir sind mit anderen Internationalen zu einer Feier mit argentinischem Catering und einer afrikanischen Band eingeladen. Man findet hier garantiert immer eine Festgesellschaft. (So höre ich von Freunden, dass an Weihnachten in Nazareth ganz schön die Post abgeht. Irgendwann fahren wir da mal hin am 24. Dezember. Und irgendwann will ich auch die Neujahrs-Feier der Orthodoxen Christen sehen.)

Auf dass 2013 ein friedliches Jahr wird mit Gesundheit! Glück! Freude!
Es guets Nois!

Die Israelis pflegen eine sehr lebendige Kultur der Cervelat-Prominenz. Das «heimelet» mich an. Der Unterhalt schmalspuriger Lokalprominenz ist wohl schönes Privileg von isolierten Kleinstaaten. Meine Frau zeigt im Ausgang oder im Kaffeehaus immer mal wieder auf einen Typen, der bei Big Brother oder DSDS war, pardon «Israeli Idol».

Was diese Celebrity-Kultur zusätzlich befeuert, ist die heisse, ungebrochene Liebe der Israelis zu Reality-TV von «Big Brother» und «Survivor» über «Blind-Date» bis hin zu verschiedenen «Superstar»-Formaten. Die Bars sind spürbar leerer an Abenden mit dem finalen Voting für diese oder jene Durchlauferhitzer-TV-Show.

Eine andere Art der Cervelat-Prominenz hat mir neulich eine Freundin anhand eines Zeitungsartikels vorgestellt. Die Frau auf dem Bild unten ist die Witwe eines Kriegs-Helden. Er ist hat sich im Libanonkrieg 2006 auf eine Granate geworfen, und hat damit seinen Kameraden das Leben gerettet, erzählt mir die Freundin. Im Netz lese ich dann: Er ist mit seinem Helikopter abgeschossen worden. Wie auch immer: ein Held. Und eine tragische Geschichte.

Seine Frau, damals 2006 frischgebackene Mutter, hat vor zwei Jahren bei einer Reality-TV-Verkupplungs-Show mitgemacht und gehört seither zum israelischen Celebrity-Inventar. Und jetzt heiratet sie wieder. Die Klatschspalten und Gossip-Kolumnen jubilieren und fühlen mit, fragen, wie es ist, mit einem neuen Mann, ob sie ihren Helden je vergessen könne… Mazal tov!

Kriegs-Witwe. Keine Ex-Miss.

Ich habe eine Freundin in Ägypten. Sie ist Deutsche und lebt seit vielen Jahren in Kairo und Zürich. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Seit ich nach Tel Aviv gezogen bin, denke ich immer wieder an sie. Wir sitzen jetzt in mehr oder weniger feindlichen Lagern.

Wenn ich beunruhigende Nachrichten von Strassenschlachten, Militärputsch und vergewaltigten Frauen in Kairo höre, sorge ich mich um sie. Wenn ich höre, dass ein ägyptisches Gericht den amerikanischen Mohammed-Filmer zum Tode verurteilt hat, bin ich froh, dass ich auf der richtigen Seite sitze, dass ich im Takt der internationalen Empörung den Kopf schütteln kann über ‘diese Ägypter’.

Wenn die Hamas Israel mit Raketen beschiesst, hoffe ich, dass sie sich um mich sorgt. Wenn Netanyahu neue Siedlungen genehmigt, schwappt die Empörung gegen Israel hoch, dann beneide ich sie darum, dass sie auf der richtigen Seite sitzt. Wenn ich in der Zeitung von der Unterdrückung der ägyptischen Frauen lese, bin ich froh um die Freizügigkeit Tel Avivs. (Hier beschwert sich allerdings meine blonde deutsche Freundin, dass ihr die Strasse hoch und runter von den Israeli-Machos vulgär hinterhergezischelt wird. Nicht alles ist gut hier.) Ach ja, und dann gibt es hier noch die Ultra-Orthodoxen, die im Bus getrennte Sitzreihen für Frauen und Männer fordern, H&M-Plakate runterreissen, Buchläden dazu zwingen, un-koschere Literatur aus der Auslage zu entfernen … Aber in Kairo werden dafür Botschaften gestürmt und Wahlen gefälscht…

Sie spricht Arabisch. Ich kann hoffentlich bald Hebräisch. Sie ist schon lange hier im Nahost-Chaos zuhause. Für mich ist es noch immer eine neue Erfahrung, dass ich mich nicht mehr auf meine angeborene Neutralität berufen kann.

Ich sitze draussen in der Sonne. Im Coop hier an der Dizengoff steht ein Weihnachtsbaum. Ansonsten ist Nord-Tel Aviv frei von Weihnachtsstimmung.

Gerüchteweise hatte ich in der Ulpan gehört, man kriege in Yaffo, im mehrheitlich arabischen Süden Tel Avivs, Weihnachtsbäume zu kaufen. (Den christlich-orthodoxen Kirchen gehört dort offenbar die halbe Stadt.) Erst dachte ich noch: Tannenbäume. Mein Kumpel aus Kanada korrigierte dann meine Erwartungen: Plastikbäume.

Es dunkelt schon ein, als wir uns am Sonntag schliesslich auf die Suche machen. Die eine Strasse runter finden wir Kioske und Imbisse mit Weihnachtsdekoration. Ich frage nach einem Weihnachtsbedarfs-Händler. Die Verkäuferin sagt: Es ist Sonntag, die Läden der Christen sind geschlossen.

Zum Glück halten nicht alle Christen den Ruhetag heilig. Am Ende der Strasse spielt ein angeketteter Elektro-Nikolaus Saxofon und schüttelt im Takt zu ‘Last Christmas’ seinen Plastik-Rumpf.

Wir haben jetzt einen Mannshohen Baum mit Kugeln, Girlanden, Glöckchen, einem Stern obenauf und farbigen Blinklichtern rundum. Und für Freitag haben wir Freunde zu einer fröhlichen Nacht eingeladen. Es wird ihr allererstes Weihnachtsfest.

Wir kaufen einen Weihnachtsbaum in Yaffo

Wie ich am Donnerstag früh in meine hohen Schuhe steige – es ziehen jetzt fast täglich Regenschauer vom Meer her über die Stadt und setzen die Strassen unter Wasser – stosse ich mit dem Fuss auf eine Plastiktüte mit Süssigkeiten. Ich brauche eine Weile, bis ich verstehe: Nikolaus war hier. Gabi hat sich an Samichlaus erinnert – und ihre Frankfurter Freundin  erklärte ihr, wie man’s macht. (Mit all den Deutschen in Zürich wird der Samichlaus auch Stiefel füllen lernen.)

Vor einem Jahr sassen wir am Chlausabend im Mate, dem Quartier-Pub mit Billardtisch. Bei einem Bier erklärte ich Gabi den Samichlaus. Natürlich habe ich beste Erinnerungen an den Samichlaus und seinen Schmutzli, an ihre Besuche bei uns zuhause, der Mann mit dem dicken Buch, dem grossen Jutesack mit Spanisch Nüssli und den Mandarinli, die kurzen Gedichte, die wir aufsagen mussten … Gabi hörte nicht die Musik, sie gab sich geschockt, dass Eltern einen bärtigen fremden Mann in ihr Zuhause kommen lassen, der ihre Kinder schlägt und/oder in den dunklen Wald entführt, wenn sie nicht ‘gut’ waren. Ich verteidigte meinen Samichlaus mit Herzblut. Aber sie wollte mich nicht verstehen und trieb mich vor sich her.

A propos andere Länder, andere Sitten: Ich beschrieb in einer fröhlichen Runde die Schweizer Jasskarten. ‘Shields’, ‘Acorns’, ‘Bells’, ‘Roses’… Auch ein grosses Stück Heimat und Kindheit. Sagte eine in der Runde: King of Roses…? Und Boy of Roses…? Wie schwul sei das denn! Definitiv ist Schwulsein hier in Ordnung – aber ein Mann hat ein Mann zu sein.

Am Sonntag war der erste Hanukah-Tag. Die leckeren Weihnachtsguezli aus Zürich sind schon fast alle. Es hat nur noch eine Handvoll Mailänderli. Während Hanukah gibt’s hier an jeder Ecke Sufganiot – in Zürich nennen wir die Berliner.

Hanukah-Leuchter auf dem Basel-Platz: Jeden Abend zündet der Rav eine neue Kerze an.

Mittwoch ist Schulfrei. Ich fahre für eine Sitzung mit Lunch in den Norden, nach Netanya. Draussen vor dem offenen Fenster rauscht die Brandung. Die Aussicht aus dem 11. Stock am ‘Nizza-Boulevard’ aufs winterlich-raue Mittelmeer ist atemberaubend. Netanya ist in die Dünen gebaut. Gebaut auf Sand, genau wie Tel Aviv. Zum Kaffee gibt’s ‘Basler Läckerli’. Die Zuckerglasur ist von der hohen Luftfeuchtigkeit angefressen. Das süsse Plätzchen Schweiz schmeckt nach Minergie-Bauen, Alpenluft und satten Matten.

Business-Lunch in Netanya, 11. Stockwerk, Aussicht aufs winterlich-raue Mittelmeer.