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Unser Leben

Alle hier sagen als erstes: «Wow, du willst hier leben? Und du bist nicht mal jüdisch? Respekt.» Und sie leuchten vor Stolz, wenn ich ihnen erzähle, wie viel Freude ich am Leben und an den Menschen hier habe. Israelis sind sich vor allem kritische Fragen gewohnt von Ausländern. Dann warnen sie mich vor den Schwierigkeiten und Problemen hier. – Auch oft gehört: «WAAS, DU KOMMST AUS DER SCHWEIZ!? Bist du verrückt? Aus dem besten Land der Welt kommst du hierher…?!» – Der Vater meiner Frau zieht den Umkehrschluss: «Man muss offenbar Schweizer sein, um dieses Land hier zu mögen…» Vielleicht hilft eine Portion Schweizerisches Gutmenschendenken und Naivität, um hier positiv zu bleiben. Mal sehen, ob und wann mich ‘die Realität’ einholt.

Meine Frau und ich suchen noch eine Honeymoon-Destination. Eine Freundin zeigt auf Facebook Fotos von ihrer Reise nach Bali. Die tropischen Inseln von Indonesien sehen traumhaft schön aus – ich surfe zu Wikipedia. Erster Satz dort: “Indonesien ist das Land mit der zahlenmässig grössten muslimischen Bevölkerung.” – Israelis benötigen für die Einreise (wie Nordkoreaner und Bürger ähnlicher Problemstaaten) ein spezielles Visum. Das Visum muss von einem Indonesier, der für den Israeli die ‘Bürgschaft’ übernimmt, vor Ort in einem Visums-Büro beantragt werden.

Ende der Übung. Für mich als Schweizer ist es ein Schock, dass ich nicht nach Bali reisen kann mit meiner Frau.

Tel Aviv ist eine Party-Hauptstadt, das ist bekannt. Heute Morgen hat mich die junge Kassierin im Supermarkt – bleich, zerbrechlich, offenbar aber nicht von schlechtem Elternhaus sondern vom Nachtleben gezeichnet –  in ein kurzes Gespräch verwickelt, wie sie merkte, dass ich kein Hebräisch kann.

Ich sage ihr, woher ich komme – und dass ich hier wohne. Sie fragt, wie lange ich schon hier sei. Ich sage ein Jahr. Als wäre das die korrekte Antwort, sagt sie freudig und schnell: Oh, willst du zu einer Party kommen heute Abend? Sie gibt mir den Kassencoupon und einen Kugelschreiber. Die Adresse, Türöffnung ab 2330 Uhr. Dresscode ist schwarz, sagt sie. Ich schreibe ‚black’ auf den Zettel unter die Adresse. Es ist eine Fetisch-Party, sagt sie. Ich schreibe ‚Fetish’ auf den Zettel, sie lacht.

Ich sage ihr, ich lebe mit meiner Freundin hier. Sie sagt, meine Freundin wird die Party super finden, ob ich noch die Nummer des Organisators haben möchte. Ich sage, ja klar, und wenn wir nicht heute kommen, dann vielleicht nächstes Mal. Es sei jeden Donnerstag. Sie sagt es mit einem Lächeln, als sei der Donnerstag ihr wöchentlicher Feier- und Festtag.

Auf dem Weg zurück durch unsere Strasse, mit einem Karton Milch, Cherios, drei Bananen und der Adresse zu einer Fetisch-Party im Einkaufsbeutel, überlege ich, ob ich mich als Neu-Tel Aviver in der Situation korrekt verhalten habe. Hätte ich fragen müssen: was für ein Fetisch? Oder ist das zu akademisch? Wenn ich auf den 400 Metern nach Hause von einem Bus erfasst worden wäre, hätte man den Zettel mit Telefonnummer, Adresse, Black, Fetish gefunden. Meine arme Freundin.

Im heiligsten Land der Welt lädt mich die Kassierin im Lebensmittelgeschäft um 10h morgens zu einer Black-Fetisch-Party ein. Das ist auch Israel, das ist Tel Aviv.

Gestern hab ich zum ersten Mal in meinem Leben warme Hundekacke von der Strasse aufgehoben – und mich sehr Tel Avivian gefühlt. Wir haben einen Hund zu Gast für drei Tage.

Ich kann mich noch an die Erfindung und Einführung des ‘Robidog’ in der Schweiz erinnern, an das Getue rund um die grünen Kästen mit Sackspender. Hier in der Hundestadt Tel Aviv kümmert sich jeder um seinen eigenen Sack.

Diese Woche waren wir bei der Hochzeitsfeier von guten Freunden auf einer traumhaften Dachterrasse in der Altstadt Jaffas. Es war eine unorthodoxe Angelegenheit. Eingeladen waren nur 120 Gäste statt der obligaten drei-, vier- oder fünfhundert, die hier in Israel üblicherweise die Hochzeitshallen füllen. Niemand vor Ort nahm den Rabbi ernst. Kaum jemand trug Kippa, die Frauen waren unzüchtig gekleidet, zeigten Schultern und Bein.

Der untersetzte bärtige Rav unbestimmbaren Alters krampfte sich mit einem aufgesetzten Lächeln durch die auf knapp zehn Minuten abgekürzte Zeremonie. Der Bräutigam stand mit dunkler sportlicher Sonnenbrille unter der Chuppah neben seiner weiss verschleierten Frau, der Wind vom offenen Meer blies ihm zwei Mal während der Zeremonie die weisse geliehene Kippa vom Kopf.

Der Vater des Bräutigams verweigerte sich der Zeremonie ganz und erschien nicht unter der Chuppah. Die Schwester des Bräutigams hatte sich vor kurzem scheiden lassen. Die jüdische Scheidung ist eine erniedrigende Angelegenheit für die Frau. Sie muss sich von ihrem (Ex-)Mann in einer Zeremonie wegschicken lassen – vor einem Rabbiner, der die Scheidung vollzieht und die Papiere ausstellt, und in Anwesenheit von zwei Zeugen. Je nach Schule muss der Mann ihr sagen, sie sei nichts mehr wert, und in ihre Richtung spucken.

Das Schlusswort des Rabbis wurde vom brüllend lauten ‘La Bamba’ aus den Lautsprechern erschlagen. Der Rabbi schob sich mit leicht angewidertem Gesicht durch die sündige Gästeschar. Dann wurden Crevetten serviert. Ein Sakrileg. Meeresfrüchte sind unkoscher – und somit an einem Hochzeitsfest nicht erlaubt.

Es war ein Freitag, wir schauten von der über dem Hafen gelegenen Terrasse zu, wie die rote Sonne im Meer versank. Shabbat begann, wir tanzten, die Band spielte weiter, der Alkohol floss in Strömen, es wurde spät.

Wir glauben trotzdem an eine lange, glückliche Ehe unserer Freunde. Ich bin überzeugt, mein Lieber Gott freute sich über die unbeschwerte, ausgelassene Partystimmung.

Ich bin jetzt offiziell: importierter Lebenspartner. Unsere Beziehung ist vom jüdischen Staat Israel geprüft und gutgeheissen. Seit heute habe ich eine provisorische Aufenthaltsgenehmigung für 12 Monate.

Heute wurden wir auf dem Amt interviewt. Getrennt. Zuerst meine Freundin. Dann ich. Ich war nervös, als wir – erst gemeinsam, dann ich noch während ihrem Interview zwanzig Minuten alleine – mit all den anderen Ausländern im Korridor warteten.

Vor vier Monaten hatten wir den Antrag auf ein “Love-Visa” gestellt, und das verlangte dicke Paket voller Belege unserer Liebe eingereicht. Amtliche Papiere, Liebesbriefe, SMS die wir uns geschickt hatten, Fotos aus unserem gemeinsamen Leben, Briefe von Familie und Freunden, die unsere Liebe bestätigen…

Es war eine schöne Aufgabe, unsere Liebe zu dokumentieren. Man sollte das von allen Paaren verlangen. Dass sie alle fünf Jahre ihre Liebe dokumentieren müssen. Inklusive Briefe von Freunden, die ihre Liebe bezeugen. Es wäre auch ein guter Ausgangspunkt für eine künstlerische Arbeit. Dossiers von Paaren zu sammeln und dann zu Collagen zu verarbeiten. Oder Dossiers ganz zu erfinden. Oder beides.

Erst beneidete ich die Beamten um ihre Aufgabe, diese Dossiers zu prüfen. Was für eine schöne Aufgabe, den ganzen Tag Liebesgeschichten erzählt zu bekommen! Bis ich zum ersten Mal in dem Büro im “Misrad Hapnim” (Innenministerium) war. Wie traurig muss es sein, jeden Tag in diesen fensterlosen Räumen zu sitzen, und diese perfekten Liebesgeschichten vorgeführt zu bekommen. Was für ein Neid muss da wachsen! Den ganzen Tag Menschen zuzuhören, die eben in einem neuen Land und einem neuen Leben ankommen.

Unsere Beamtin war höflich, sie hatte keine überraschenden Fragen, versuchte keine Tricksereien: Wie haben wir uns kennengelernt? Was macht ihr Vater? Was macht dein Vater? Habt ihr einen guten Familiensinn in deiner Familie? War deine Familie schon hier in Israel? Etc.

Nur einmal zeigte die Beamtin Flagge: “Ah, was erzählst du mir da, ihr wart in Afrika reisen? … Hm, davon hat deine Freundin gar nichts erzählt…” – Sie sagte es leicht zweifelnd, eine Erklärung fordernd. Das wäre der Moment, wo ich bei einer erfundenen Geschichte unter Druck käme.

Ich musste an Depardieus erfundene Afrika-Reise im Film “Green Card” denken. Ich sage der Beamtin: “Da sind auch Fotos im File…” – Sie geht der Sache nicht weiter nach.

Ohne ein Lächeln lässt sie mich Gabi dazuholen und klebt für zwei mal 175 Schekel die Aufenhalts- und Arbeitsbewilligung in meinen Pass. Viel Spass denn auch.

In einem Jahr müssen wir zurückkommen und erneut unsere Liebe beweisen. Beweisen, dass wir noch immer glücklich sind.