“Die Situation”

Bei uns zuhause geht das Internet nicht mehr. In der Service-Hotline warten 78 Anrufer vor uns. “Wegen der Situation bitten wir um Verständis für lange Wartezeiten”. “Die Situation” (hebr: “HaMatzav”) ist natürlich kein Unwetter oder Stromausfall, sondern dass zehntausende Israelis in die Armee eingezogen wurden, um der Hamas den Garaus zu machen. Dass ausgerechnet jetzt unser Internet aussteigt, wo viele Service-Mitarbeiter im Krieg stecken, ist einfach nur Pech.

Gestern verbrachten wir den Nachmittag bei zwei Flaschen Weissem mit Freunden in einem kleinen Bistro am Meer. Einmal ging die Sirene los, wir fanden mit den anderen Restaurantbesuchern und Angestellten Schutz im Hauptquartier der Hafenpolizei. Es donnerte zwei, drei Mal – dann ging’s zurück zum Tisch und zur zweiten Flasche.

Hoch am blauen Himmel über uns schwebte ein kleines weisses Wölkchen aufs Meer hinaus, das Rauchzeichen einer der abgefangenen Raketen.

Weisses Wölkchen

Weisses Wölkchen. Rauchzeichen aus Gaza.

Man gewöhnt sich an alles?

Die ‘anti-israelische’ linke Tageszeitung Haaretz hatte sogar einen Waffen-Experten gefunden, der den Raketenschutzschild, die Eisenkuppel (hebräisch: Eisen-Kippa), als Propagandavehikel abtut. Derart irreal scheinen die Raketen aus Gaza, nach Dutzenden folgenlosen Alarmen und Explosionen, dass man denken könnte, es kommt gar nix aus Gaza hier an. Die Eisenkuppel beschert uns nur immer mal wieder einen zünftigen Bumms im blauen Himmel, damit wir ja nicht einen Krieg in Frage stellen. Verschwörungstheorien und Gerüchte haben Hochkultur.

Heute wurde ein Dutzend toter Israelische Soldaten gemeldet. Das ist neu.

Und wie seit Tagen immer mehr tote Palästinenser. Hunderte.

Wie alle haben wir Freunde, die für die ‘Operation’ eingezogen wurden. Wie kommen die zurück? Wann?

Die israelischen TV-Stationen zeigen praktisch rund um die Uhr News – auch wenn es kaum etwas zu zeigen und zu melden gibt.

In den Abendnachrichten zeigen sie anti-israelische Demos in Paris, London, Sri Lanka, der ganzen Welt. Es scheint unwirklich, dass sich die ganze Welt für uns hier und für die Palästinenser interessieren soll.

Davor zeigen sie in den Nachrichten die Demos in Tel Aviv und Haifa, wo die nationalistische Rechte die Friedensdemos angreift, Israelis brüllen “Tod den Arabern” in die TV-Kameras, die Linke diagnostiziert einen Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft.

Jemand schreibt, es sei eine Stimmung wie vor der Ermordung Rabins.

Der Ruf nach ‘Vernichtung’ Gazas scheint salonfähig. Natürlich meint das niemand ‘wirklich’. Es soll einfach die Hoffnungslosigkeit der Situation ausdrücken.

Nur die ‘anti-israelische’ linke Haaretz-Zeitung zeigt immer mal wieder auch auf die israelische Regierung als Mit-schuldige an der Katastrophe. Alle anderen zeigen nach Süden auf die Hamas. “Wir tun alles, um zivile Opfer zu vermeiden …” Das stimmt wohl schon. Nur, dass es zum Krieg kommt ist das Versagen der Regierung hier und der ganzen Welt.

Tel Aviv verliert seine Leichtigkeit.

Nicht nur für mich, scheint mir. Es gibt freie Parkplätze in unserer Gegend. Freie Tische am Mittag im Restaurant am Baselplatz. Die Gesichter der Leute auf der Strasse scheinen mir ernster. Der Verkehr weniger dicht. Die vorbeifahrenden Busse besonders leer. Die Diskussionen sind weniger laut.

Ach, und wegen unserem Internet: “Biglal HaMatzav” (“wegen der Situation”) kann kostenlos und unlimitiert im mobilen Internet gesurft werden. Auch alle PayTV-Kanäle wurden offenbar freigeschaltet für alle. Sogar die Banken seien nachsichtig mit säumigen Schuldnern.

Man muss ja irgendwie weitermachen, trotz “der Situation”.

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