Seit Anfang des Monats ist der Musikladen von iTunes auch für Israel aufgeschaltet. Apple hat das Hightech-verliebte Land die letzten Jahre links liegengelassen. Israel wird erst jetzt bedient, in einem Schwung mit Russland, Indien, der Türkei, Saudi-Arabien und rund fünfzig anderen Ländern, die bisher auf den MP3-Download per iPhone verzichten mussten. Ein kleiner Stich in die stolze israelische Seele: Man nennt sich lieber in einem Atemzug mit den Europäern und den Amerikanern.

Verglichen mit Schweizer Preisen, kostet die Musik bei iTunes Israel rund die Hälfte. Nur: Den alten Kinks-Song führen sie nicht im israelischen Store. Läuft das nun unter Kulturboykott? Ist das politisch motiviert? Haben die Kinks etwa ein Problem mit Israel!? Oder ist es nur ein Problem mit den Verkaufsrechten bei Apple..?

Ich habe eine Freundin in Ägypten. Sie ist Deutsche und lebt seit vielen Jahren in Kairo und Zürich. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Seit ich nach Tel Aviv gezogen bin, denke ich immer wieder an sie. Wir sitzen jetzt in mehr oder weniger feindlichen Lagern.

Wenn ich beunruhigende Nachrichten von Strassenschlachten, Militärputsch und vergewaltigten Frauen in Kairo höre, sorge ich mich um sie. Wenn ich höre, dass ein ägyptisches Gericht den amerikanischen Mohammed-Filmer zum Tode verurteilt hat, bin ich froh, dass ich auf der richtigen Seite sitze, dass ich im Takt der internationalen Empörung den Kopf schütteln kann über ‘diese Ägypter’.

Wenn die Hamas Israel mit Raketen beschiesst, hoffe ich, dass sie sich um mich sorgt. Wenn Netanyahu neue Siedlungen genehmigt, schwappt die Empörung gegen Israel hoch, dann beneide ich sie darum, dass sie auf der richtigen Seite sitzt. Wenn ich in der Zeitung von der Unterdrückung der ägyptischen Frauen lese, bin ich froh um die Freizügigkeit Tel Avivs. (Hier beschwert sich allerdings meine blonde deutsche Freundin, dass ihr die Strasse hoch und runter von den Israeli-Machos vulgär hinterhergezischelt wird. Nicht alles ist gut hier.) Ach ja, und dann gibt es hier noch die Ultra-Orthodoxen, die im Bus getrennte Sitzreihen für Frauen und Männer fordern, H&M-Plakate runterreissen, Buchläden dazu zwingen, un-koschere Literatur aus der Auslage zu entfernen … Aber in Kairo werden dafür Botschaften gestürmt und Wahlen gefälscht…

Sie spricht Arabisch. Ich kann hoffentlich bald Hebräisch. Sie ist schon lange hier im Nahost-Chaos zuhause. Für mich ist es noch immer eine neue Erfahrung, dass ich mich nicht mehr auf meine angeborene Neutralität berufen kann.

Ich sitze draussen in der Sonne. Im Coop hier an der Dizengoff steht ein Weihnachtsbaum. Ansonsten ist Nord-Tel Aviv frei von Weihnachtsstimmung.

Gerüchteweise hatte ich in der Ulpan gehört, man kriege in Yaffo, im mehrheitlich arabischen Süden Tel Avivs, Weihnachtsbäume zu kaufen. (Den christlich-orthodoxen Kirchen gehört dort offenbar die halbe Stadt.) Erst dachte ich noch: Tannenbäume. Mein Kumpel aus Kanada korrigierte dann meine Erwartungen: Plastikbäume.

Es dunkelt schon ein, als wir uns am Sonntag schliesslich auf die Suche machen. Die eine Strasse runter finden wir Kioske und Imbisse mit Weihnachtsdekoration. Ich frage nach einem Weihnachtsbedarfs-Händler. Die Verkäuferin sagt: Es ist Sonntag, die Läden der Christen sind geschlossen.

Zum Glück halten nicht alle Christen den Ruhetag heilig. Am Ende der Strasse spielt ein angeketteter Elektro-Nikolaus Saxofon und schüttelt im Takt zu ‘Last Christmas’ seinen Plastik-Rumpf.

Wir haben jetzt einen Mannshohen Baum mit Kugeln, Girlanden, Glöckchen, einem Stern obenauf und farbigen Blinklichtern rundum. Und für Freitag haben wir Freunde zu einer fröhlichen Nacht eingeladen. Es wird ihr allererstes Weihnachtsfest.

Wir kaufen einen Weihnachtsbaum in Yaffo

Eine der bleibendsten Impressionen von meiner Israel-Reise vor 15 Jahren: Zwei sexy junge Frauen am Pool mit ihren Dienstwaffen neben sich, das volle Magazin im Bündchen des Bikini-Höschens. Die jungen israelischen Frauen in Uniform sind ein Klischee-Bild von Israel. Sie sind natürlich beliebt auf Youtube. «Sexy women of israeli military» wurde 450’000 Mal angeschaut, die Diashow «Israel Female Soldiers» 1.5 Millionen Mal.

Davita aus Holland war für ein paar Wochen in unserer Klasse in der Ulpan. Gestern postete die 22-jährige auf Facebook «goodbye world». Sie hat heute ihren «draft day». Ihren Aushebungstag für die israelische Armee. Davitas «goodbye world» ist garantiert nicht düster gemeint. Es ist ihr Gruss an uns: «Endlich geht’s los, tschüss alte Welt». Heute bei der Rekrutierung erfährt sie, ob sie in den kleinen weiblichen Kampftrupp der israelischen Armee aufgenommen wird. Alle israelischen Frauen leisten zwei Jahre Militärdienst. Aber nur eine Handvoll freiwilliger Mädchen wird für den Kampf-Einsatz ausgebildet. Das ist Davita’s Traum. Für diesen Traum ist sie aus Amsterdam nach Israel gekommen. «Ich will nicht auf Menschen schiessen, ich suche einfach die Herausforderung,» sagte sie.

Im Frühjahr hatten wir Ben in der Klasse, einen jungen US-Amerikaner, der nach seinem Dienst bei den US-Marines hergekommen ist, um für Israel in die Hosen zu steigen. Er ist der Infanterist aus dem Bilderbuch: etwas untersetzt, oder einfach nur kräftig gebaut, spielt American Football als Hobby. Schon Ben’s Ambitionen haben mich eigenartig berührt. Erst war ich fasziniert, nicht ohne Bewunderung für den radikalen Lebensentscheid. Krass, dachte ich. Und ich wollte mehr wissen.

Ich kann nicht wirklich nachvollziehen, wie man sich freiwillig zum Armeedienst melden kann. Könnte ich ihren Entscheid besser verstehen, wäre ich jüdisch? «Steht auf und kämpft für Israel!», nachdem die Juden im Dritten Reich sich widerstandslos haben ‘vernichten’ lassen (wie man bis heute ‘vorwurfsvoll’ hört hier)? Ben und Davita sind hier für’s Abenteuer, für die Kameradschaft in der Armee, für den Challenge – und um etwas für Israel zu tun. Der israelische Staat tut viel dafür, jüdische Jugendliche aus der ganzen Welt nach Israel zu bringen, sie für den Staat und die Armee zu begeistern. Und egal, wie viele Stunden ich in der Ulpan-Schule sitze, Hebräisch und israelische Kultur pauke: Ich werde nie ein Israeli sein. Ich war nicht in der Armee.

Gerade ist das Buch von Shani Boianjiu erschienen, einer jungen israelischen Autorin. Sie erzählt die Geschichte von drei israelischen Freundinnen vor, während und nach ihrer Dienstzeit in der Armee. Darin geht es natürlich um die grosse Frage «was mach’ ich hier eigentlich?» Und natürlich geht es auch um gefühlsarmen Teenager-Sex in Uniform (der New Yorker hatte im Sommer einen Auszug aus dem Buch abgedruckt). Ich habe das Buch bei Chaim, dem Buchhändler an der Baselstrasse, bestellt. Nur den Titel verstehe ich nicht: «The People Of Forever Are Not Afraid». Mein Vorschlag ginge eher in die Richtung: «Girls In Uniform». (Druckt schonmal die nächste Auflage.) Hier ist ein Interview mit Boianjiu im New Yorker.

«… goodbye world …»

Wie ich am Donnerstag früh in meine hohen Schuhe steige – es ziehen jetzt fast täglich Regenschauer vom Meer her über die Stadt und setzen die Strassen unter Wasser – stosse ich mit dem Fuss auf eine Plastiktüte mit Süssigkeiten. Ich brauche eine Weile, bis ich verstehe: Nikolaus war hier. Gabi hat sich an Samichlaus erinnert – und ihre Frankfurter Freundin  erklärte ihr, wie man’s macht. (Mit all den Deutschen in Zürich wird der Samichlaus auch Stiefel füllen lernen.)

Vor einem Jahr sassen wir am Chlausabend im Mate, dem Quartier-Pub mit Billardtisch. Bei einem Bier erklärte ich Gabi den Samichlaus. Natürlich habe ich beste Erinnerungen an den Samichlaus und seinen Schmutzli, an ihre Besuche bei uns zuhause, der Mann mit dem dicken Buch, dem grossen Jutesack mit Spanisch Nüssli und den Mandarinli, die kurzen Gedichte, die wir aufsagen mussten … Gabi hörte nicht die Musik, sie gab sich geschockt, dass Eltern einen bärtigen fremden Mann in ihr Zuhause kommen lassen, der ihre Kinder schlägt und/oder in den dunklen Wald entführt, wenn sie nicht ‘gut’ waren. Ich verteidigte meinen Samichlaus mit Herzblut. Aber sie wollte mich nicht verstehen und trieb mich vor sich her.

A propos andere Länder, andere Sitten: Ich beschrieb in einer fröhlichen Runde die Schweizer Jasskarten. ‘Shields’, ‘Acorns’, ‘Bells’, ‘Roses’… Auch ein grosses Stück Heimat und Kindheit. Sagte eine in der Runde: King of Roses…? Und Boy of Roses…? Wie schwul sei das denn! Definitiv ist Schwulsein hier in Ordnung – aber ein Mann hat ein Mann zu sein.

Am Sonntag war der erste Hanukah-Tag. Die leckeren Weihnachtsguezli aus Zürich sind schon fast alle. Es hat nur noch eine Handvoll Mailänderli. Während Hanukah gibt’s hier an jeder Ecke Sufganiot – in Zürich nennen wir die Berliner.

Hanukah-Leuchter auf dem Basel-Platz: Jeden Abend zündet der Rav eine neue Kerze an.

Mittwoch ist Schulfrei. Ich fahre für eine Sitzung mit Lunch in den Norden, nach Netanya. Draussen vor dem offenen Fenster rauscht die Brandung. Die Aussicht aus dem 11. Stock am ‘Nizza-Boulevard’ aufs winterlich-raue Mittelmeer ist atemberaubend. Netanya ist in die Dünen gebaut. Gebaut auf Sand, genau wie Tel Aviv. Zum Kaffee gibt’s ‘Basler Läckerli’. Die Zuckerglasur ist von der hohen Luftfeuchtigkeit angefressen. Das süsse Plätzchen Schweiz schmeckt nach Minergie-Bauen, Alpenluft und satten Matten.

Business-Lunch in Netanya, 11. Stockwerk, Aussicht aufs winterlich-raue Mittelmeer.

«Ich bin vom sechsten Lebensjahr an im Krieg», beginnt Yoram Kaniuk seinen neuen, sehr persönlichen Text für die Frankfurter Rundschau. Er ist greiser israelischer Schritftsteller, Maler, Weltbürger, Zeuge der Geschichte Israels, geboren in Palästina 1930, lange vor der Staatsgründung Israels. Er präsentiert in kantiger Prosa und etwas verschrobener Poesie, was der ‘ewige Kriegszustand’ Israels für ihn bedeutet. Dieser Zustand, mit dem ich mich neu arrangieren muss seit der ‘Eskalation’ im November (nicht: seit dem Krieg; der Krieg dauert ja an).

Kaniuks Text in der Frankfurter Rundschau «Blut über Blut mein Leben lang»: http://www.fr-online.de/politik/nahost-konflikt-blut-ueber-blut-mein-leben-lang,1472596,21001298.html

«This Land Is Mine» zum selben Thema:

Heute in der Ulpan kommt eine Sekretärin in die Klasse und verteilt Schokoriegel und eine kleine laminierte Notiz an alle Schüler. Auf dem Zettelchen steht auf Hebräisch und umseitig auf Englisch: “After some hard days, we are pleased to get back to our routine and our regular school activities. Thanks to the teachers, the staff and especially you the Students here for attending classes, for your understanding and cooperation.”

Gaza rückt tatsächlich jeden Tag weiter weg. Aber wirkliche Erleichterung will nicht aufkommen. Die Bubble wurde dank ‘Iron Dome’ von Raketentreffern verschont. Aber das Wissen um die vielen Opfer in Gaza und die Toten im Süden Israels ist nachhaltig bedrückend. Für mich ist es eine Lektion zum Thema ‘Leben in Israel’. Doch was ist die Moral dieser Episode?

Seit ich hier bin frage ich mich: Was ist denn der Unterschied, ob ich mein gutes Leben in Zürich oder in der Bubble Nord-Tel Avivs lebe? Was kümmert mich, ob Damaskus und der Bürgerkrieg in Syrien 2’000 oder nur 200 Kilometer weit weg ist? Welche Verantwortung trage ich? «Thank you for your understanding and cooperation», heisst es auf dem Zettel. Understanding, Verständnis? Cooperation, Zusammenarbeit?

«Vielen Dank fürs Verständnis»

Noch was politisch heikles zum Thema ‘Widersprüchliches Israel’ und was mir nach meinem ersten Krieg so durch den Kopf geht:

Sichere Heimat für alle Juden! – Endlich, nach Jahrhunderten in der Diaspora, hat das jüdische Volk eine Heimat und eine Armee und kann sich entsprechend verteidigen. Israel ist der einzige Ort auf der Welt, wo Juden selbstbestimmt und in Sicherheit leben können!

Sichere Heimat für alle Juden! – Israel ist seit seiner Gründung vor 60 Jahren im Kriegszustand und wird von seinen Nachbarn mit der Auslöschung bedroht … während Millionen Juden in der ganzen Welt ein gutes und sicheres Leben führen.

(Vorsicht! Minenfeld!! Ein falscher Schritt, ein falsches Wort zu diesem Thema, und es fetzt einem die Beine weg. Die glühenden Zionisten rufen: Mit solch Gedankengut soll Israel geschwächt werden!  Wer sagt, Israel ist nicht sicher und in der Diaspora lebt sich’s besser, der glaubt nicht an Israel, an die Berechtigung Israels! Siehe beispielsweise der Streit um Judith Butlers Suche nach ihrer jüdischen Identität im heutigen Zionismus.

Ich für meinen Teil denke während dem Krieg: Im grossartigen Tel Aviv unter einer Eisenkuppel zu sitzen, die Raketen abfängt .. das ist natürlich eine stolze Leistung jüdischer/israelischer Kampfkraft, keine Frage. Aber den Juden in Zürich geht’s in den Minuten trotzdem besser. Auch wenn diese mir am Telefon wiederum versicherten: Ach, wären wir doch in Israel, es ist schrecklich, diese Angriffe von hier aus mitzuerleben…)

Der Blick auf die iPhone-Karte ist elektrisierend: Die Kleine Schweiz ist keine zwei Stunden Autofahrt weg von Tel Aviv. Nochmals zwei Stunden weiter nördlich wären wir in Damaskus – oder, wenn wir links abbiegen, in Beirut. Was für ein Potenzial! Diese drei grossen Städte mit grosser Vergangenheit, so nah beisammen… Sobald die Grenzen offen sind, der Nahe Osten eine grosse friedliche Einheit, fahren wir fürs Wochenende nach Damaskus! Oder nach Beirut ins Museum oder ins Theater…

Letztes Jahr waren wir Pferdereiten auf den Golanhöhen. Der Ranchero dort hiess Uri. Als wir Uri sagten, dass ich Schweizer bin, fragte er mich: «Wie macht ihr das mit der Neutralität? Wir wollen auch neutral sein. Wir wollen auch einfach allen rundherum sagen, wir sind jetzt Neutral, und dann lassen sie uns in Ruhe…»

Tel Aviv, Beirut im Norden, Damaskus im Nord-Osten. Und wir mittendrin.