Auf der Suche nach Informationen zum Einwanderungs-Prozedere nach Israel, stosse ich im Internet auf offizielle Broschüren, mehrere Dutzend Seiten lang, die ausführlich beschreiben was zu tun ist, welche Unterstützung den Einwanderern zusteht, wie die Sprache zu lernen ist, wie man als Einwanderer in die Wirtschaft integriert wird etc.

Ich lese und bin begeistert, selbst ein fünfmonatiger Sprachkurs wird vom Staat bezahlt. Ich weiss auch, dass es die sogenannte Aalyah-Einwanderung gibt, die ‚Rückkehr’ der Juden nach Israel. Sprich: jüdische Russen, Amerikaner, Afrikaner, die in ihre Heimat Israel zurückkehren. Ich weiss, dass diese finanziell und logistisch maximal unterstützt werden. Von dieser Kategorie bin ich als Nicht-Jude ausgeschlossen. Ich suche also auf diesen Webseiten und in den Broschüren nach Informationen, was den olim chadash (wie sie auf hebräisch heissen) zusteht, und was mir zusteht. Es ist aber immer einfach die Rede von Einwanderern, es wird nie spezifiziert: soviel für die Juden, soviel für die anderen.

Stellt sich heraus: mit Einwanderer sind nur die jüdischen Einwanderer gemeint. Ich bin kein Einwanderer in Israel und werde nie einer sein. Ich bin entweder eine nützliche Arbeitskraft, einer der Glück hat und ein B1 Arbeitsvisum bekommt, oder meine Freundin muss mich auf dem Papier als ihren Partner ausgeben, damit ich ein Aufenthaltsrecht für ein Jahr bekomme.

Einwanderer, das sind nur die anderen, die Juden.

Tel Aviv ist eine Party-Hauptstadt, das ist bekannt. Heute Morgen hat mich die junge Kassierin im Supermarkt – bleich, zerbrechlich, offenbar aber nicht von schlechtem Elternhaus sondern vom Nachtleben gezeichnet –  in ein kurzes Gespräch verwickelt, wie sie merkte, dass ich kein Hebräisch kann.

Ich sage ihr, woher ich komme – und dass ich hier wohne. Sie fragt, wie lange ich schon hier sei. Ich sage ein Jahr. Als wäre das die korrekte Antwort, sagt sie freudig und schnell: Oh, willst du zu einer Party kommen heute Abend? Sie gibt mir den Kassencoupon und einen Kugelschreiber. Die Adresse, Türöffnung ab 2330 Uhr. Dresscode ist schwarz, sagt sie. Ich schreibe ‚black’ auf den Zettel unter die Adresse. Es ist eine Fetisch-Party, sagt sie. Ich schreibe ‚Fetish’ auf den Zettel, sie lacht.

Ich sage ihr, ich lebe mit meiner Freundin hier. Sie sagt, meine Freundin wird die Party super finden, ob ich noch die Nummer des Organisators haben möchte. Ich sage, ja klar, und wenn wir nicht heute kommen, dann vielleicht nächstes Mal. Es sei jeden Donnerstag. Sie sagt es mit einem Lächeln, als sei der Donnerstag ihr wöchentlicher Feier- und Festtag.

Auf dem Weg zurück durch unsere Strasse, mit einem Karton Milch, Cherios, drei Bananen und der Adresse zu einer Fetisch-Party im Einkaufsbeutel, überlege ich, ob ich mich als Neu-Tel Aviver in der Situation korrekt verhalten habe. Hätte ich fragen müssen: was für ein Fetisch? Oder ist das zu akademisch? Wenn ich auf den 400 Metern nach Hause von einem Bus erfasst worden wäre, hätte man den Zettel mit Telefonnummer, Adresse, Black, Fetish gefunden. Meine arme Freundin.

Im heiligsten Land der Welt lädt mich die Kassierin im Lebensmittelgeschäft um 10h morgens zu einer Black-Fetisch-Party ein. Das ist auch Israel, das ist Tel Aviv.

Wir hatten letztes Wochenende Zeitumstellung. Warum, frage ich, stellen wir die Uhren in Israel schon einen Monat zu früh auf Winterzeit um? Meine Freunde sagen: Die Juden sind schuld. Und meinen damit die Gläubigen.

In Europa wird am letzten Samstag im Oktober umgestellt. In Israel am Samstag vor Yom Kippur. Dieses Jahr einen guten Monat vor Europa und dem Rest der Welt.

Vor zwei Jahren gab es offenbar eine Petition zur Harmonisierung der Winterzeit mit dem Rest der Welt. 90’000 Israelis unterschrieben. Mit sehr weltlichen Argumenten wie: Strom sparen (jetzt wird es bereits kurz vor fünf Uhr dunkel). Unfall-Verhütung, weil der Berufsverkehr jetzt am Abend auf dunklen Strassen rollt. Und einigen anderen Argumenten mehr. Die Regierung kümmerte hörte weg.

Offenbar wird die Uhr vor Yom Kippur umgestellt, damit die Religiösen am Yom Kippur-Tag eine Stunde früher Abendessen können – und weniger lange fasten müssen. Die Sonne geht so eine Stunde früher unter.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier höre: “Die Orthodoxen sind schuld.” Genauso wie die Gläubigen in der Diaspora, sind sie auch hier eine abgeschottete Gemeinschaft – hier in Israel allerdings mit grossem politischem Gewicht.

Was auch zum Auswandern gehört, ist die neue Perspektive auf die alte Heimat. Eine Freundin, die sich hier manchmal schwer tut mit der ständig fordernden, konfrontativen israelischen Mentalität, sagt neulich beim Lunch zu mir: “When the intellect and the kindness meet – that’s how i imagine Swiss people.”

Sie ist im schwarzgrauen Ostblock-Budapest aufgewachsen und lebt seit drei Jahren in Israel. Ihr optimistisches Menschenbild sagt ihr: Die vom Leben verwöhnten Schweizer können es sich leisten, gebildet und freundlich zu sein.

Könnten wohl.

„In diesem Jahr liegen wir vor Ländern wie den Vereinigten Staaten, Singapur und Iran“, sagt Victor Malamud, Leiter eines Förderprogramms für Jungforscher an der Ben Gurion-Universität, in der Haaretz. „Das ist eine fantastische Leistung.“

Grund für den Jubel: Yuval Katzenelson, Schüler aus Israel, hat einen ersten Preis gewonnen am internationalen Physik-Wettbewerb für Nachwuchsforscher „First Step to Nobel Prize“. Und 12 andere Israelische Jungforscher wurden mit ihm ausgezeichnet. Der Preis wird von einer Uni in Polen ausgetragen, Sponsoren kommen hauptsächlich aus Indonesien und einigen anderen Ländern in Fernost und die Webseite des Veranstalters ist eine Zeitreise in Internet-Welten der frühen 90er-Jahre. Herzliche Gratulation!

Wie Malamud in dem Artikel in der Haaretz auf die Auswahl der besiegten Länder kommt, würde ich ihn gerne fragen: “… vor Ländern wie den Vereinigten Staaten, Singapur und Iran.” Hm. Klar, die Amerikaner zu schlagen ist immer eine besondere Auszeichnung. Die in Singapur haben viel Kohle, aber ansonsten weiss ich nicht, was Singapur in dieser Dreierreihe verloren hat. Und Iran? Da tut’s einfach gut, denen wo immer möglich eins auszuwischen. Alles ist so politisch hier!

Ein Freund von uns arbeitet (noch) für eines dieser globalisierten High-Tech-Unternehmen mit grosser Niederlassung in Israel. Er arbeitet viel. Die interne Konkurrenz ist beinhart.

Sein (israelisches) Team wird von Atlanta aus geführt. Ein anderes israelisches Team, mit israelischem Management, hat vor zwei Jahren ein internes Projekt initiiert, was ihn jetzt den Job kostet. Weil dieses Konkurrenz-Team die Arbeit effizienter macht als sein Team.

Die Geschichte, die er uns am Strand erzählt: Vor zwei Jahren, als das Projekt gestartet wurde, hatte er Bedenken, doch seine Vorgesetzten versicherten ihm: “Nein nein, das ist kein Problem, die werden uns nicht gefährlich”. Er meinte: “They will eat you up, they are Israelis.” Seine amerikanischen Vorgesetzten seien unglaublich “naiv” gewesen…

Zwei Jahre später: Das Projekt des anderen israelischen Teams ist erfolgreich – und er bangt um seine Stelle, weil sein Team überflüssig wird.

Er leidet – aber ein Teil von ihm ist stolz auf das Team der Israelis (das ihm den Bürostuhl unterm Hintern wegzieht). Sein israelisches Selbstbewusstsein sagt ihm: Die verweichlichten US-Manager haben sich von den Israelis über den Tisch ziehen lassen. Sein israelischer Stolz lässt ihn gequält lächeln als er die Geschichte erzählt.

Es ist wohl sehr gut möglich in seinem Fall, dass die Zentrale in Atlanta von Anfang an ihre Absichten nur vernebelt hat, sein Team aufzulösen. Aber keine Frage: die Israelis sind ambitionierte und aggressive Vorwärtsdenker und Vorwärtsmacher – und sie haben Selbstbewusstsein.

Gestern hab ich zum ersten Mal in meinem Leben warme Hundekacke von der Strasse aufgehoben – und mich sehr Tel Avivian gefühlt. Wir haben einen Hund zu Gast für drei Tage.

Ich kann mich noch an die Erfindung und Einführung des ‘Robidog’ in der Schweiz erinnern, an das Getue rund um die grünen Kästen mit Sackspender. Hier in der Hundestadt Tel Aviv kümmert sich jeder um seinen eigenen Sack.

Diese Woche waren wir bei der Hochzeitsfeier von guten Freunden auf einer traumhaften Dachterrasse in der Altstadt Jaffas. Es war eine unorthodoxe Angelegenheit. Eingeladen waren nur 120 Gäste statt der obligaten drei-, vier- oder fünfhundert, die hier in Israel üblicherweise die Hochzeitshallen füllen. Niemand vor Ort nahm den Rabbi ernst. Kaum jemand trug Kippa, die Frauen waren unzüchtig gekleidet, zeigten Schultern und Bein.

Der untersetzte bärtige Rav unbestimmbaren Alters krampfte sich mit einem aufgesetzten Lächeln durch die auf knapp zehn Minuten abgekürzte Zeremonie. Der Bräutigam stand mit dunkler sportlicher Sonnenbrille unter der Chuppah neben seiner weiss verschleierten Frau, der Wind vom offenen Meer blies ihm zwei Mal während der Zeremonie die weisse geliehene Kippa vom Kopf.

Der Vater des Bräutigams verweigerte sich der Zeremonie ganz und erschien nicht unter der Chuppah. Die Schwester des Bräutigams hatte sich vor kurzem scheiden lassen. Die jüdische Scheidung ist eine erniedrigende Angelegenheit für die Frau. Sie muss sich von ihrem (Ex-)Mann in einer Zeremonie wegschicken lassen – vor einem Rabbiner, der die Scheidung vollzieht und die Papiere ausstellt, und in Anwesenheit von zwei Zeugen. Je nach Schule muss der Mann ihr sagen, sie sei nichts mehr wert, und in ihre Richtung spucken.

Das Schlusswort des Rabbis wurde vom brüllend lauten ‘La Bamba’ aus den Lautsprechern erschlagen. Der Rabbi schob sich mit leicht angewidertem Gesicht durch die sündige Gästeschar. Dann wurden Crevetten serviert. Ein Sakrileg. Meeresfrüchte sind unkoscher – und somit an einem Hochzeitsfest nicht erlaubt.

Es war ein Freitag, wir schauten von der über dem Hafen gelegenen Terrasse zu, wie die rote Sonne im Meer versank. Shabbat begann, wir tanzten, die Band spielte weiter, der Alkohol floss in Strömen, es wurde spät.

Wir glauben trotzdem an eine lange, glückliche Ehe unserer Freunde. Ich bin überzeugt, mein Lieber Gott freute sich über die unbeschwerte, ausgelassene Partystimmung.

Was das Schnitzel für Wien, ist das Shnitzl für Israel. Die panierte, frittierte Hühnerbrust ist der Stolz jeder Ima (Mutter) und es gibt Shnitzl-Charts für die Restaurants in Tel Aviv. Beim Fleischer gibt’s die Hühnerbrüste fast ausschliesslich dünn tranchiert.

Mein Problem damit: So lecker Mutti die Panade auch hinkriegt – die magere Hühnerbrust darin macht keinen Spass. (Dass koscheres Essen generell nicht schmeckt ist natürlich genauso falsch wie die Pauschalisierung, dass deutsches Essen schwer ist.)

Freitag, früher Nachmittag. Ich lese ‘Die Zeit’ auf dem iPad im Strassencafe an der lärmigen Dizengoffstrasse, Freitag ist der geschäftigste Tag der Woche hier – unser Samstag –  der Boulevard ist voller Wochenendshopper und Sonntagsfahrer. Die Frontseite der Zeit: Grosses Hitler-Porträt mit der Frage ‘Wann vergeht Vergangenheit?’. Der deutsche Journalist Bernd Ulrich besucht auch Israel auf der Suche nach Antworten. Er trifft Schriftsteller Etgar Keret in Tel Aviv.

“Und was passiert, wenn die Generation der Täter und der Opfer ausstirbt?” fragt er ihn. Keret: “Das ist kein Problem, ich trage das Leben meiner Eltern in mir, es ist ein Teil von mir.” Ulrich: “Sie wollen Ihre Eltern in sich haben, ich will meinen Nazi-Opa keinesfalls in mir haben.”

Im Westen nichts Neues.

Vorbei spaziert ein Paar, Mittzwanziger. Er im schwarzen T-Shirt. Auf dem Rücken steht in fetten Lettern: “I would only believe in a god that knows how to dance.” Das ist Tel Aviv.