Was mich seit dem ersten Tag hier verrückt macht, sind die unlösbaren, offensichtlichen Widersprüche in diesem Land, in dieser Kultur, in der Befindlichkeit der Menschen hier, in den Strukturen der israelischen Gesellschaft.

Ich kann damit nicht gut umgehen. Wie kann ein Land so fortschrittlich und so rückständig sein, gleichzeitig? So tolerant in eine Richtung und so intolerant in eine andere? Wie kann ein Volk so maximal pragmatisch und so ungebrochen fanatisch handeln? Israel provoziert eine Hassliebe, es geht nicht anders, scheint es. So geht es nicht nur mir. So geht es den allermeisten Israelis, die ich kenne.

In loser Folge ein paar Beispiele für Gegensätze, die mich als Neuling hier ratlos machen. Hier als Nummer 1 ..

Wir sind die Grössten – Unsere Armee hat die ganzen Araber hier Mal für Mal klein gemacht. Iran? Wenn ihr uns lässt, machen wir die platt. Kein Problem für uns. Unsere Piloten sind die besten. Gegenschläge? Die israelische Armee hat keine echten Gegner. Was also soll schon passieren?

Wir sind Opfer – Seht ihr nicht, dass wir uns als kleine friedliche Einheit in einer riesigen feindlichen Masse behaupten? Der Antisemitismus wächst ungebremst (und unwidersprochen) in der ganzen Welt. Stoppt die Hasskampagne gegen Israel!

Die israelische Armee (Israel Defense Forces, kurz IDF) heuert neuerdings in einer Art Online-Spiel ‘Söldner’ an, in den sozialen Netzwerken Stimmung für Israel zu machen. Die Rechnung, aufgestellt von der nationalkonservativen Zeitung Jerusalem Post: Es gibt 3.5 Millionen israelische Facebook-Nutzer, die gegen eine Übermacht von 43 Millionen Araber im sozialen Netz um Meinungshoheit ankämpfen. Eine bizarre Milchbüchleinrechnung, die aber durchaus etwas über die Befindlichkeit Israels sagt.

Spezialeinheit Social Network

Schon Ende 2009 wurde eine ‘Spezialeinheit Social Networks’ initiiert, eine soldatische Einheit, die auf Youtube (et al) über Aktionen und Einsätze der israelischen Truppen berichtet, sprich beispielsweise: Armee-Videos online stellt, in denen israelische Soldaten absichtlich danebenschiessen, um Zivilisten zu verschonen.

‘IDF Ranks’ – Online-General werden

Die neuste Initiative ist nun spielerisch angelegt, um diese Inhalte breiter zu streuen: Aufgerufen werden Israelfreunde weltweit, die nicht physisch für Israel kämpfen können, sich im (Informations-)Krieg zu engagieren. So geht’s: Postet der virtuelle Söldner auf seinem Facebook- oder Twitter-Profil die Nachrichten der Armee, kann er so Punkte sammeln. Je nach Punktestand steigt er dann im militärischen Rang auf. Vom einfachen ‘Private’ wird der Freelance-Informationskrieger über insgesamt 48 Levels bis zum General befördert!

Screenshot IDF Ranks

Screenshot IDF Ranks

Und ich?

Als Neu-Israeli habe ich gelernt, solche israelischen Verrücktheiten mit leisem Kopfschütteln zu akzeptieren. So wie eine breite Mehrheit der Israelis vieles in diesem Land mit traurigem oder gleichgültigen Kopfschütteln akzeptieren. In einem verrückten Land, in einer verrückten Zeit, gibt es hier vieles, was einen im besten Fall einfach nur seltsam berührt.

News in der Jerusalem Post: Want to help defend Israel? Become a virtual soldier
Artikel von 2009 in der Haaretz: New IDF unit to fight enemies on Facebook, Twitter

Lifestyle-Themen kommen in den (englischsprachigen) israelischen Medien eher wenig vor. Diese Nachricht sticht heraus aus der rechts-konservativen JPost: ‘Vier Golfstaaten unter den fettesten 10 Nationen der Welt’ lautet die Schlagzeile.

Die Kuwaitis sind beinahe so fett wie die US-Amerikaner, zitiert die JPost eine Studie. – Genüsslich? Schadenfreudig über das peinliche Ranking der arabischen Staaten? Vielleicht. – Fasten im Ramadan macht dick, steht da (ab 20. Juli ist es wieder soweit). Qatar, die Emirate und Bahrain sind ebenfalls in den Top10.

Die Jerusalem Post – die Zeitung gibt’s nur auf Englisch, Zielpublikum jüdische Leser in USA – hat eine “Vorwärts”-Dynamik in den Texten, wo ich beim Lesen oft denke: irgendwie so geht Propaganda-Journalismus. Die Themenauswahl und der Tonfall der Berichterstattung vermitteln ständigen Kriegszustand und mehr oder weniger subtile Aggressionsbereitschaft.

Mir ist das Blatt aber lieb geworden über die letzten Monate. Lieber als die klassisch linke englischsprachige Haaretz, die eher den Europäern gefallen will, scheint es, die mir in ihrer ideologischen Ausrichtung verdächtig geschliffen daherkommt. Ich kann’s nicht abwarten, endlich echte israelische, hebräische Zeitungen zu lesen.

Jerusalem Post: Four Gulf states amongst the world’s 10 fattest