Tränen der Erleichterung kommen erst, als die Häuser kleiner werden und kleiner, nach einem eigentlichen Raketenstart in Ben Gurion mit vollem Schub und maximaler Steigung bis in die Stratosphäre, wir steigen immer weiter, beinahe senkrecht hoch in den Himmel.
Es folgt kein ‘Willkommen an Bord, ich hoffe Sie fühlen sich wohl bei uns…’ sondern eine Durchsage des Kapitäns: ‘Das ist El Al, wir bringen Sie auch im Krieg sicher an Ihr Ziel und wieder nach Hause.’
Dann ziehen wir Schleifen über dem nördlichen Israel, wohl eine Art Warteraum an der breitesten Stelle des Landes, bevor der Pilot wieder mit voller Schubkraft und in Schlangenlinie raus aufs offene Meer düst. Spätestens in dem Moment fühlt es sich an wie eine Flucht, ein ‘Getaway’.
Nachdem ich die Tickets gebucht hatte, Zürich-einfach, waren mir 2 Tage in Israel geblieben. Im Büro hielten wir am einen Tag einen Lunch für alle Zurückgebliebenen ab, wir hatten zu dem Zeitpunkt einige Leute im Ausland und wenige im Krieg. Es wurden bei Hummus am grossen Sitzungstisch schreckliche Geschichten vom 7. Oktober geteilt, makabere Witze gemacht, und bange in die Zukunft geschaut.
In den 12 Jahren in Israel hatte ich mich keine Sekunde als Israeli gefühlt. Doch noch nie hatte ich mich so als Aussenseiter gefühlt wie bei diesem Mittagessen, wohl wissend, dass ich in weniger als 24 Stunden in der Schweiz landen würde.
Unsere Buben sprangen freudig aufgeregt hoch und runter, als wir ihnen eröffneten: Schule wird demnächst nicht, also lasst uns morgen in die Ferien zu Grosi fahren.
Dann war bis zum Abflug kein Raketenalarm mehr, was die ganze Sache noch surrealer machte. An einem ruhigen Tag in Tel Aviv ist es kaum vorstellbar, das Land könnte in einem ausgewachsenen Krieg versinken.
Der eigentliche Grund auszureisen waren denn auch nicht die US Flugzeugträger draussen vor unsrem Lieblingsstrand, oder die angeblich 100,000en iranischen Raketen auf der anderen Seite. Es waren die Augen der Mütter und der Väter in unserer Schule. Sechs von 30 Familien unserer Klasse waren bereits ausgereist.
Der unmittelbare, unmitigierbare, unmoderierbare Horror, den die Hamas-Attacken auslösten bei den Menschen in Israel, ist schwierig zu beschreiben, und für Nicht-Israelis nicht nachvollziehbar.
In meiner Wahrnehmung war 7/10 erst vergleichbar mit 9/11, ein Attentat, einmalig in seiner furchtbaren Dimension. Alle, die wir alt genug sind, erinnern uns wo wir waren, als wir auf CNN live sahen wie das zweite Flugzeug ins World Trade Center krachte. Die einen sassen zuhause im Wohnzimmer vor dem TV, andere in einer Bar, an der Uni…
Israelis sassen um 6:30 am Morgen des 7. Oktober nicht vor dem TV, sondern waren alle Ziel und direkte Opfer des Anschlags. Die Sirenen für Raketenalarm weckten das Land, für Stunden war die Lage unklar, auf Twitter sah man bald die Tötungskommandos der Hamas in einer Stadt, eine Autostunde entfernt von unserem Zuhause, wie sie willkürlich Menschen an Bushaltestellen und in Autos hinrichteten.
Als das Ausmass des Terrors in den Stunden und Tagen danach bekannt wurde, brach das Selbstverständnis Israels komplett in sich zusammen. Der Glaube an die Überlegenheit der Armee, der Sicherheitsdienste, hat etwas religiöses in Israel, es ist nicht verhandelbar. Leben in Israel ist nur möglich in dem totalen Vertrauen in die Überlegenheit. Und dieses Vertrauen kommt auch daher, dass die de-humanisierten Palästinenser (und die Hamas) als minderwertig angesehen werden. Dass Israel derart spektakulär ausmanövriert wurde, erschüttert tiefstes Vertrauen in die Ordnung der Welt, und viele Israelis schlafen seither nicht mehr.
Das “Zusammen sind wir stark” funktionierte in den Tagen danach – doch dieses “Zusammen” hat tiefe Risse, und ich sehe nicht, wie Israel aus dieser Krise herausfinden wird.
Darum sind wir in der Schweiz.
Jeder in Israel kennt jemanden, der getötet, gefangen, oder um ein Haar davongekommen ist, weil der Schutzraum abschliessbar war, weil er in die richtige Himmelsrichtung flüchtete, weil …
In unserem Haus wohnt ab heute die Schwester unserer guten Freunde, die mit Mann und Kindern 14 Stunden in ihrem Schutzraum in einem der geplünderten Kibbutzim ausharrten. Ihr Haus würde geplündert von Hamas – sie überlebten.
Es brauchte auch nach der Ankunft in Zürich noch einige Tage, zu Sinnen zu kommen. Doch dann war umso mehr klar, es war richtig herzukommen.
Unsere Entscheidung war gemacht: die Buben vor dem geteilten Horror in Sicherheit zu bringen.
Seither fühle ich mich, als hätte ich das falsche Hölzchen bei Jenga rausgezogen. Wir waren doch dran, unser Leben zu bauen! Und es lief gut!! Und jetzt steh’ ich da mit diesem Hölzchen fest in der Hand, und der Turm schwankt bedrohlich – und ich muss es doch wieder oben drauflegen, irgendwie.