Der Kleine (4) fragte neulich in der Badewanne in unserer temporären Wohnung in Zürich aus heiterem Himmel: “Ima, wegen dem Krieg zuhause … wer hat eigentlich gewonnen?”

Es ist wahnsinnig schwierig zu akzeptieren, dass wir keine Zukunft haben in Israel, dass wir unser Leben nicht einfach weiterleben können.

Unser Haus steht noch. 
Unsere Freunde sind – wieder – in Israel, die meisten jedenfalls. (Zwei Familien unserer kleinen Schule sind Hals über Kopf ausgewandert.)
Unsere Familie – die Familie von G – ist hier. Ihre Grosseltern und Urgrosseltern haben das Land mit aufgebaut. (Die Schwester hatte schon Jahre vor, mit Mann und Kind nach Kanada zu ziehen, jetzt haben sie die Reissleine gezogen und sind auf und davon.)
Unsere Schule und unsere Arbeit sind in Israel, genau wie vor dem 7. Oktober.

Und trotzdem sagen wir jetzt, wir können hier nicht mehr leben? 

“Was hat sich denn verändert, dass ihr plötzlich weg wollt..?” – hat mich natürlich niemand in der Schweiz gefragt. Obwohl es keine dumme Frage wäre: Die Grosswetterlage ist unverändert. Die politische Krise ist schon älter als der 7. Oktober. Die Bedrohung ausgehend von Iran und seinen Proxys wurde jahrzehntelang beschrieben.

“Wir haben’s ja immer gesagt…” – Auch diesen Satz habe ich erstaunlicherweise nie gehört jetzt, in diesem Monat in der Schweiz. Man wusste ja was kommt! Rechts wie Links.

Heute haben die Linken endlich die Bestätigung dafür, was sie Jahrzehntelang gepredigt haben: seht ihr, man kann kein Volk dauerhaft unterdrücken, ohne dass es irgendwann den Deckel lupft. 

Und die Rechten haben endlich den lang erwarteten Freibrief, Gaza plattzumachen. Denn “die in Gaza” haben auch dem letzten Brüsseler Schönredner ihre un-menschlichkeit beweisen. (Nach meinem Erleben hegte eine grosse Mehrheit in Israel schon vor dem 7. Oktober Rachegefühle unterschiedlicher Schattierung.)

Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sowas passiert – was hat sich nun also am 7. Oktober für uns geändert?

Die Tatsache, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis es wieder knallt. Auf verbrannter Erde aufzuwachsen, und in blutgetränktem Boden Wurzeln zu schlagen ist nicht, was wir für unsere Kinder im Sinn haben.

Trotzdem – erstmal fliegen wir zurück, denn wir leben in Israel.
Noch leben wir in Israel.

Einerseits: wenn ich die Kids am Telefon mit den Grosseltern, David dem Lehrer, oder Freunden aus der Schule sprechen sehe – dann denke ich, wir müssen zurück.

Wir hören auch von anderen Familien, welche dieser Tage zurückkehren aus dem Ausland in den ‘normalen’ Alltag.

Andererseits: Freunde berichten davon, dass ihre Kids nicht mehr alleine im Zimmer schlafen, aus Sorge und Angst vor der Hamas.

Und G schickt Fotos vom Flughafen, das lange Fussgänger-Rollband im gläsernen Trakt zwischen den Gates und der Einwanderungskontrolle, die zweihundert Meter oder was es sind, da hängen alle zwei Meter A4 Blätter mit dem Profil eines der am 7. Oktober Entführten.

Wie erklären wir das unseren Buben?

“In 10 Jahren werde IHR dafür ausgesandt, Rache zu üben dafür, was uns Hamas in Zukunft angetan haben wird…”

Wir bleiben noch einige Tage länger in Zürich.

Tränen der Erleichterung kommen erst, als die Häuser kleiner werden und kleiner, nach einem eigentlichen Raketenstart in Ben Gurion mit vollem Schub und maximaler Steigung bis in die Stratosphäre, wir steigen immer weiter, beinahe senkrecht hoch in den Himmel.

Es folgt kein ‘Willkommen an Bord, ich hoffe Sie fühlen sich wohl bei uns…’ sondern eine Durchsage des Kapitäns: ‘Das ist El Al, wir bringen Sie auch im Krieg sicher an Ihr Ziel und wieder nach Hause.’

Dann ziehen wir Schleifen über dem nördlichen Israel, wohl eine Art Warteraum an der breitesten Stelle des Landes, bevor der Pilot wieder mit voller Schubkraft und in Schlangenlinie raus aufs offene Meer düst. Spätestens in dem Moment fühlt es sich an wie eine Flucht, ein ‘Getaway’.

Nachdem ich die Tickets gebucht hatte, Zürich-einfach, waren mir 2 Tage in Israel geblieben. Im Büro hielten wir am einen Tag einen Lunch für alle Zurückgebliebenen ab, wir hatten zu dem Zeitpunkt einige Leute im Ausland und wenige im Krieg. Es wurden bei Hummus am grossen Sitzungstisch schreckliche Geschichten vom 7. Oktober geteilt, makabere Witze gemacht, und bange in die Zukunft geschaut.

In den 12 Jahren in Israel hatte ich mich keine Sekunde als Israeli gefühlt. Doch noch nie hatte ich mich so als Aussenseiter gefühlt wie bei diesem Mittagessen, wohl wissend, dass ich in weniger als 24 Stunden in der Schweiz landen würde.

Unsere Buben sprangen freudig aufgeregt hoch und runter, als wir ihnen eröffneten: Schule wird demnächst nicht, also lasst uns morgen in die Ferien zu Grosi fahren.

Dann war bis zum Abflug kein Raketenalarm mehr, was die ganze Sache noch surrealer machte. An einem ruhigen Tag in Tel Aviv ist es kaum vorstellbar, das Land könnte in einem ausgewachsenen Krieg versinken.

Der eigentliche Grund auszureisen waren denn auch nicht die US Flugzeugträger draussen vor unsrem Lieblingsstrand, oder die angeblich 100,000en iranischen Raketen auf der anderen Seite. Es waren die Augen der Mütter und der Väter in unserer Schule. Sechs von 30 Familien unserer Klasse waren bereits ausgereist.

Der unmittelbare, unmitigierbare, unmoderierbare Horror, den die Hamas-Attacken auslösten bei den Menschen in Israel, ist schwierig zu beschreiben, und für Nicht-Israelis nicht nachvollziehbar.

In meiner Wahrnehmung war 7/10 erst vergleichbar mit 9/11, ein Attentat, einmalig in seiner furchtbaren Dimension. Alle, die wir alt genug sind, erinnern uns wo wir waren, als wir auf CNN live sahen wie das zweite Flugzeug ins World Trade Center krachte. Die einen sassen zuhause im Wohnzimmer vor dem TV, andere in einer Bar, an der Uni…

Israelis sassen um 6:30 am Morgen des 7. Oktober nicht vor dem TV, sondern waren alle Ziel und direkte Opfer des Anschlags. Die Sirenen für Raketenalarm weckten das Land, für Stunden war die Lage unklar, auf Twitter sah man bald die Tötungskommandos der Hamas in einer Stadt, eine Autostunde entfernt von unserem Zuhause, wie sie willkürlich Menschen an Bushaltestellen und in Autos hinrichteten.

Als das Ausmass des Terrors in den Stunden und Tagen danach bekannt wurde, brach das Selbstverständnis Israels komplett in sich zusammen. Der Glaube an die Überlegenheit der Armee, der Sicherheitsdienste, hat etwas religiöses in Israel, es ist nicht verhandelbar. Leben in Israel ist nur möglich in dem totalen Vertrauen in die Überlegenheit. Und dieses Vertrauen kommt auch daher, dass die de-humanisierten Palästinenser (und die Hamas) als minderwertig angesehen werden. Dass Israel derart spektakulär ausmanövriert wurde, erschüttert tiefstes Vertrauen in die Ordnung der Welt, und viele Israelis schlafen seither nicht mehr.

Das “Zusammen sind wir stark” funktionierte in den Tagen danach – doch dieses “Zusammen” hat tiefe Risse, und ich sehe nicht, wie Israel aus dieser Krise herausfinden wird.

Darum sind wir in der Schweiz.

Jeder in Israel kennt jemanden, der getötet, gefangen, oder um ein Haar davongekommen ist, weil der Schutzraum abschliessbar war, weil er in die richtige Himmelsrichtung flüchtete, weil …

In unserem Haus wohnt ab heute die Schwester unserer guten Freunde, die mit Mann und Kindern 14 Stunden in ihrem Schutzraum in einem der geplünderten Kibbutzim ausharrten. Ihr Haus würde geplündert von Hamas – sie überlebten.

Es brauchte auch nach der Ankunft in Zürich noch einige Tage, zu Sinnen zu kommen. Doch dann war umso mehr klar, es war richtig herzukommen.

Unsere Entscheidung war gemacht: die Buben vor dem geteilten Horror in Sicherheit zu bringen.

Seither fühle ich mich, als hätte ich das falsche Hölzchen bei Jenga rausgezogen. Wir waren doch dran, unser Leben zu bauen! Und es lief gut!! Und jetzt steh’ ich da mit diesem Hölzchen fest in der Hand, und der Turm schwankt bedrohlich – und ich muss es doch wieder oben drauflegen, irgendwie. 

Ende Woche 2 stellen wir uns nicht mehr die Frage ‘ob’ wir ausreisen sollen. Sondern ‘wann’.

Die erste Woche war klar für mich: wir können nicht weg, weil Ärzte nicht ausreisen dürfen. Die Familie zu trennen schien mir problematischer, als hierzubleiben und abzuwarten. Wir haben’s hier in unserer Ecke von Israel weiterhin privilegiert, ein, zwei Mal am Tag hören wir aus der Ferne wie Raketen aus Gaza mit grossem Donner abgefangen werden, sonst ist Ruhe.

Die Kids geniessen die Zeit zuhause, und die letzten 10 Tage allein waren’s Wert dass wir in die Suburbs umzogen: Viel Platz zuhause, der Garten, die Ruhe hier, das wäre alles anders jetzt in Tel Aviv. Der Schutzraum ist ein Fortsatz des grossen Spielzimmers im Keller, wir haben ihn mit Camping-Matten ausgelegt und Spiele liegen bereit.

Doch die Zeichen stehen auf Krieg, die Schule fällt seit zwei Wochen aus und eine Rückkehr ist nicht abzusehen, auch weil unser junges improvisiertes Schulhaus Marke Eigenbau keinen Schutzraum hat.

Auch wenn wir in die Runde schauen leben wir ein Märchen hier: Nicht wenige der Familien in unserer Schulklasse haben einen Elternteil, der zum Krieg aufgeboten wurde. Einer Familie in der Klasse ist eine Rakete vors Haus gefallen, ihre Wohnzimmerfenster barsten, glücklicherweise kam niemand zu Schaden. Und zwei, drei Familien sind mit den Kindern bereits ausgereist.

Es mehren sich die Zeichen, dass die Eskalation nicht zu verhindern sein wird. Nicht von Biden, nicht von Sunak, nicht von Scholz – und die Reihe hoher ausländischer Staatsgäste reisst nicht ab.

Immerhin werden hier jetzt auch Stimmen laut, die eine vorsichtige Herangehensweise verlangen. Aber die 350,000 Israelis sind mobilisiert, die Amerikaner stehen Gewehr bei Fuss.

Am schwersten wiegt wohl: Die Rechten in Israel’s Regierung verlangen schon seit Jahrzehnten die Umkehrung von Oslo und Einmarsch in Gaza, um den Terror ‘ein für alle Mal’ abzustellen*. Die Gelegenheit, die sich ihnen jetzt bietet, ist einmalig. Hamas hat mit ihrer Attacke erwirkt, dass die USA unbedingte Unterstützung für eine blutige Militäraktion Israels verspricht.

Diese Unterstützung für kompromisslose Gewalt gegen Hamas, und eine limitierte Bereitschaft zivile Opfer zu akzeptieren, die wird es nicht noch einmal geben – und die Rechten hier wissen das und werden sich das nicht entgehen lassen. Das Furchteinflössende daran: Hamas und Iran wussten das und haben es darauf angelegt. Bedeutet das, dass sich die Iraner bereit fühlen, Israel ‘ein für alle Mal’ abzustellen? Oder ging’s ihnen ‘nur’ darum, einige tausend tote Palästinenser auf den Verhandlungstisch der moderaten Arabischen Länder hier zu legen – um eine Normalisierung mit Israel zu blockieren?

Das Kriegsgeheul der Iraner ist bekannt und ein schlechter Indikator. Die Scharmützel mit Hezbollah bis jetzt sind nicht unbedingt Zeichen der Eskalation, eher Zeichen der Solidarität und des Respekts für Hamas’ Aktionen. Der Aufmarsch der Amerikaner ist eindrücklich. Der Schaden rundum wäre bei einem Eingreifen der Iraner gewaltig…

Doch was bedeutet das für uns? Sind wir zwei, drei Wochen in der Schweiz? Ich alleine mit den Kids?

War’s das für uns hier?

* Zum Thema ‘ein für alle Mal abstellen’ hat Thomas Friedman, Nahost-Kenner und brillianter Schreiber, einen Kommentar geschrieben: https://www.nytimes.com/2023/10/16/opinion/israel-gaza-war.html

Woche 2 nach dem Terroranschlag. Die Buben haben keine Schule, waren ein paar Mal bei Freunden und Grosseltern. G arbeitet Abends, wenn’s geht, ich arbeite Abends wenn ich tagsüber mit den Kindern alleine bin.

Sonntag fuhr ich ins Büro (wenig Verkehr, kein Stau!), was sich gut anfühlt, auch wenn da in Süd-Tel Aviv mehr Raketen kommen als bei uns zuhause im Norden von Tel Aviv, wo wir diese Woche einen einzigen Alarm hatten. Zwischendurch wenn ich arbeite, für einzelne Momente, fühlt sich alles an wie ‘normal’, calls mit Europa und den USA. Aber jedes Gespräch dreht sich dann trotzdem wieder darum wie’s uns allen geht, wie schrecklich alles ist, warum wir nicht in die Schweiz fahren. Auf jeden Fall tut es gut, die Furcht und die Ratlosigkeit ob dem was als nächstes kommt mit den Leuten im Büro zu teilen.

Auf dem Heimweg Sonntag sammelte ich unsere beiden Buben ein. “Wir wollen noch was essen,” rief der Kleine, “McDonalds! Bitte bitte ..” Oktober wird es hier dunkel gegen sechs Uhr.

Die Aussicht, in einem McDonalds einen Raketen-Alarm zu erleben, ist wenig reizvoll. In den fünf, zehn Minuten wo man zusammensteht mit Wildfremden, während’s draussen donnert, können natürlich Freundschaften entstehen, aber meist hängt dann jeder an seinem Telefon, und im dümmsten Fall quatschen die Leute rum, wie man Gaza nun ‘ein für alle Mal abstellen’ muss, und ähnliches – was ich meinen Kindern unbedingt ersparen will.

Der Grosse verwechselt noch immer Gaza mit Asien (hebräisch: Asa und Asia). Nur so können wir hier mit Kindern noch sein.

Noch weniger angenehm als Alarm bei McDonalds ist Alarm im Freien, auf der Strasse. Das kenn’ ich, aber die Kids zum Glück nicht. Wenn’s knallt am Himmel, wenn die Raketen abgefangen werden, ist die Illusion weg, dass Gaza in Asien liegt.

Fünf Minuten später war Dominos der grosse Wunsch. Dieser Tage kriegen die beiden mehr Aufmerksamkeit, mehr Pizza, mehr Schokolade, so landeten wir schliesslich im Pizzaladen bei uns im Quartier, ein Takeaway mit zwei grossen runden Tischen draussen auf dem breiten Gehsteig, unter Bäumen.

Als die Familien-Pizza serviert wird, und ich mir schon Vorwürfe mache, dass ich die Pizza nicht nach Hause mitnehme, wo wir unseren kuschligen Privat-Schutzraum haben, wo ich bange dass die Sirenen losheulen könnten – in dem Moment klatscht Vogelkacke vom Baum runter mitten auf unseren Tisch auf den Serviettenhalter. Die Kids fragen, was das war. Ich sage Ihnen es sei irgendwas aus dem Baum runtergefallen, und guten Appetit.

Das Pizzaessen verläuft dann ereignislos, wir gehen spät zu Bett, denn am nächsten Tag haben wir wieder Kriegsfrei …

Bange Tage des Terrors. Bange Tage des Krieges.

Wir sind privilegiert, müssen bisher nur drei, vier Mal in den Schutzraum. Doch der Terror im Süden, die Nachrichten vom Überfall der Hamas vor einer Woche, sitzen uns tief in den Knochen und die Angst vor einer weiteren Eskalation liegt schwer im Bauch. 

Wir halten die Bubble aufrecht für die Kids. 

Wir arbeiten so gut es geht.

Letzten Samstag, Sirenen um halb sieben Morgens, wir erwachen und stehen im Schlafzimmer der Kids, an den Betten der beiden schlafenden Buben – sollen wir sie wecken? Ist es ein Fehlalarm?

Wir ignorieren die Sirenen, doch dann kommen die ersten Posts in den Sozialen Medien aus der Gaza-Nachbarschaft, während die Redaktoren der kuratierten Medien noch ihre Laptops hochfahren. Die verwackelten Videos auf Twitter aus Sderot, die Meldungen von dutzenden und hunderten marodierenden Hamas-Kämpfer in den Kibutzim, Dörfern und Städten rund um Gaza, wecken das Gefühl wie im September 2001, als die Türme des WTC kollabierten: Feinde unserer Welt haben es geschafft, mit ihren grausamen, ja teuflischen Ideen in unsere Realität und in unsere Leben einzubrechen.

Sympathien für den Freiheitskampf und den Protest gegen die Unterdrückung der Palästinenser können in diesem Kontext nicht Thema sein. Hamas hat sich für den geduldigsten Wohltäter aus dem Spiel genommen. Es gibt keine Rechtfertigung dafür, eintausend Menschen gezielt abzuschlachten und dutzende Geiseln zu nehmen, Kinder und Senioren eingeschlossen, einzig um Horror zu säen.

Die beängstigende Frage heute, ziemlich genau eine Woche später: War das nur der Auftakt eines mächtigeren Plans? Die Führer der Hamas wissen, wenn sie Dutzende Israelis nach Gaza verschleppen und hunderte töten, wird die Regierung Israels (und insbesondere die jetzige rechte Siedler-Regierung) Rache nehmen. In diesem Szenario ist die Hamas krass unterlegen, die Führungsriege wird per Luftschlag oder von Kommandos ermordet werden, mit hunderten anderen Unschuldigen.

Was kann also das Ziel dieses Erstschlags sein? Dass Israel abgelenkt wird, und verletzlich wird an anderen Fronten?

Oder aber, Hamas funktioniert nicht nach unserer Ratio. Der Terrorakt ist ein Terrorakt als End-Ziel. Der Märtyrertod ein Teilziel. Die Annahme, dass ein grösserer Plan dahinter steckt, entspricht unserer Logik. Auf den Angriffsbefehl wartende Truppen im Libanon und in Syrien, oder noch unvorstellbare andere zweite Akte – das entspricht unserer Logik. Der Hamas genügen möglicherweise tatsächlich tausende Tote. Jeder Tote ein Erfolg. Egal ob toter Feind, oder toter Märtyrer.

Nicht wenige Isarelis haben die letzten Tage fieberhaft nach Flugtickets gesucht, um hier wegzukommen. Ungeplanter Herbsturlaub wo auch immer, ein Flugticket einfach nach Georgien, Mailand – Hauptsache weg.

Das habe ich so hier noch nicht erlebt in den letzten 12 Jahren. Und es zeugt vielleicht am meisten von der tiefen Erschütterung und Enttäuschung der Leute hier über die fehlende Souveränität der Armee und Sicherheitsdienste. Der Glaube an die Überlegenheit des israelischen Nachrichten- und Sicherheitsapparats war grenzenlos. Die daraus folgende Überheblichkeit war wohl mit ein Hauptgrund für das Versagen der Landesverteidigung. Selbstüberschätzung und Inkompetenz trifft man hier an jeder Ecke, nur die Landesverteidigung schien bisher eine Ausnahme von der Regel.

Wir haben ein Blick in die Hölle geworfen. Wie das Land hier aus diesem Albtraum erwachen wird – das wird auch entscheiden, ob wir hier bleiben wollen und können. Zuerst warten wir jetzt jede neue Meldung ab, hoffen auf De-eskalation, oder zumindest militärische Überlegenheit, so dass dann in einigen Wochen und Monaten nach der Aufarbeitung dieser Katastrophe ein neues Kapitel aufgeschlagen werden kann … oder dass wir die Hölle wieder Hölle sein lassen, und in unserer Welt und unserer Bubble weiterexistieren.

Ich war heute in Jerusalem, das erste Mal seit Jahren wiedermal, mit M. unserem Kleinen bin ich mit dem Zug hochgefahren, um zumindest ein bisschen zu protestieren gegen die Regierung überhaupt, und im Besonderen gegen die Pläne, die Justiz zu gängeln. 

Der Zug war voll bis unters Dach mit guten Leuten, die DE-MO-KRATIE skandierten, kaum standen wir auf der Rolltreppe im Hauptbahnhof Jerusalem. Und das war gleich mehrfach ermutigend: dass es diese schicken elektrischen Schnellzüge von Tel Aviv nach Jerusalem gibt, voller guter Leute die sich kümmern. 

Nur: unsere Bubble mag voller guter Leute sein, aber es ist eine viel zu kleine Bubble in diesem 10Mio Land (sind’s mittlerweile schon 11Mio?). 

Wie lange noch, bis diese Blase implodiert? Bis das Klima hier uns entweder vertreibt, vergrämt – oder den Geist einfach vernichtet und auslöscht.

Ausserdem fiel mir schon auch auf: Die On-Schuhe-Träger, die heute ‘streikten’ und nicht zur Arbeit gingen, an diesem ‘Tag der nationalen Blockade’ … mal ehrlich: wir arbeiten ja sowieso ein paar Tage die Woche remote, und die Stunde im Zug nach Jlem haben wir genutzt, um am Telefon die wichtigsten Emails zu beantworten, und die fürs Business wichtigen Calls hielten wir dann auch am Abend zu Bürozeiten in den USA ab. Zählt das als Streik?  

Die mir gegenüber gesessen haben auf der Rückfahrt berichteten am Telefon ihren Freunden: ‚Hat’s was gebracht? Keine Ahnung. Wir waren dabei…‘  Dabei sein ist alles. Zählt das als Protest?

So ging es mir ja auch. Nach den ersten Sprech-Chören im Bahnhof wurde es dem Kleinen zu laut. Er mochte dann lieber das Tram probefahren, und … eines gab das andere. Wir landeten nicht in der Masse vor dem Parlament, sondern im Mahne Yehuda-Markt zum leckeren Hummus Mittagessen…

Wird das reichen, um unsere Bubble hier zu retten?

Proteste im Bahnhof Jerusalem, Februar 2023

Das öffentliche Leben steht still und das Leben in den eigenen vier Wänden explodiert. Wir stecken mitten im zweiten Corona-Lockdown.

Die Zeitungen berichten über eine erschreckende Zunahme gemeldeter Fälle häuslicher Gewalt. Der Ausnahmezustand zuhause macht sich für alle bemerkbar.

Neu für uns: Die Kinder sind Tag für Tag von früh bis spät zu Hause. Hier in Israel kennen wir diesen Zustand nicht. Oder nur von den Schulferien im Sommer, die wie die Hitze im August von vielen eher als Qual denn als Quell der Freude gesehen werden.

Man kriegt hier Kinder, möglichst viele, aber ab dem dritten Monat (wer sich’s leisten kann vielleicht etwas länger) hat man im Alltag mit dem Nachwuchs nicht mehr viel zu tun, ausser zum Feierabend und Shabbat vorm Fernseher oder am Strand.

Auch die Kleinen und Kleinsten sind 6 Tage die Woche von früh bis spät versorgt.

Für die ersten 3 Lebensjahre muss man sich privat organisieren, mit Nannies und Spielgruppen unter minimalster behördlicher Aufsicht.

Dann übergibt man das dreijährige Kind an Vater und Mutter Staat. Zum Start in den Ganztages-Kindergarten, dann Schule, dann für den letzten Schliff 3 Jahre Armee – fertig ist der staatstragende Bürger.

Die Eltern gehen derweil beide arbeiten, weil nur in den allerwenigsten Haushalten ein Einkommen alleine reichen würde. Und weil es so Sitte ist.

Bis Corona.

In den kleinen Tel Aviver Wohnungen schliessen sich jetzt Mütter im Schlafzimmer ein, hocken auf dem Bett, vor sich das Laptop, um während Zoom-Meetings mit Kunden und Mitarbetiern Wäsche zu falten, und bei offenem Fenster Rauchpause zu machen, Vati arbeitet im Badezimmer und versucht dort verzweifelt sein Startup über Wasser zu halten, und die Kinder bestreiten im Wohnzimmer mit Bildschirmen verschiedener Grösse von Tablet und Fernseher zu Telefon ihre Schule und Freizeit.

Seit heute gibt’s wenigstens wieder Kindergarten. Schulkinder sind weiter zuhause. Fortsetzung folgt …

Sogar die Coronawitze waren lustiger im ersten Lockdown. Die zweite nationale Ausgangssperre, seit Ende letzter Woche hier in Kraft, entwickelt bei weitem nicht dieselbe Energie wie die Premiere im Frühling.

Die Regeln sind diesmal weniger strikt (bis jetzt zumindest). Die Leute haben weniger Schiss. Und man hat sich auch schlicht daran gewöhnt.

Das Sozialleben unterbinden, einen grossen Teil der Wirtschaft im ganzen Land für mehrere Wochen lahmlegen, Geschäfte schliessen, den Betrieb von Restaurants, Pools, Bars, Hotels, Shopping-Center einstellen, ohne Rücksicht auf Verluste – daran haben wir uns gewöhnt?

Unglaublich.

Tagsüber ist diese zweite Ausgangssperre auch weniger fühlbar. Nicht wenige scheinen weiterhin ins Büro zu fahren – obwohl alle Kids zuhause sind – es gibt weiterhin Busverbindungen (mit Einschränkungen), Takeaways sind geöffnet, Sport ist erlaubt… Doch Abends nach Sonnenuntergang, wenn die Kids und Arbeiter alle zuhause sind, wenn die knatternden Motorräder der Lieferdienste alle Abendessen ausgeliefert haben, wird es plötzlich still in Tel Aviv, die Stadt kommt zur Ruhe und schläft ein. Ein Zustand, den diese Stadt nicht kennt.

Diese absolute Ruhe verblüfft mich jeden Abend von neuem und ich geniesse diese Stille. Auch wenn es Zeichen dafür ist, dass nichts ist wie es sollte, schläft es sich so besser. Gute Nacht und schöne Träume …

Ich bin’s mir ja gewöhnt, dass wir hier in Israel in Krieg und Krise leben und nicht wissen, was wohl morgen oder in fünf Jahren ist – währenddem in der Schweiz alles eitel Sonnenschein ist.

Plötzlich hocken wir nun alle im selben Boot.

Ich frag mich jetzt immer mal wieder: Wie fühlt sich’s wohl in der so gut austarierten Schweiz an, plötzlich eine derartige Krise zu erleben..?