In Tel Aviv gibt’s keinen goldenen Herbst, die Baumkronen entlang der Sderots (Boulevards) sind immergrüner Ficus und Palmwedel. Herbst geht so: Kranwagen mit motorsägenden Arbeitern auf Hebebühnen machen die Runde, die mächtigen Baumkronen werden vor dem ersten Wintersturm zurückgeschnitten. Es grünt immer weiter.

Es war sowieso kein goldener Herbst. Die unheimliche Kriegsdüsternis des Sommers blieb hängen lange in den Winter hinein. Es gab keine Zäsur, keinen Frieden, keine Läuterung.

So sehr die Schönwetter-Mantras nerven – von wegen ‚Tel Aviv ist die hipste Party-Stadt der Welt’ und das ‚Silicon Valley des Ostens’ und die ‚Schwulendestination Nummer 1′ – sie stehen auch für eine Realität, die ich vermissen lernte.

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

Diesmal fühlte es sich wirklich so an.

Einige tausend Menschen sind tot und es war als ob es keinen kümmerte. Alles was während und nach dem Krieg in der öffentlichen Diskussion interessierte: Was können Armee und Geheimdienst in der nächsten Schlacht besser machen?

Die viel wichtigere Frage, wie man eine nächste Schlacht vermeiden könnte, blieb und bleibt ungestellt. Oder vielmehr wohl: diese Frage ist derart allgegenwärtig seit 70 Jahren dass alle möglichen Antworten erschöpft scheinen. In den Ohren der Israelis tönt jeder Kommentar wie das dünne kraftlose Echo aus dem Archiv … jaja, das hatten wir schon.

Dieselben Gesichter sind heute an der Macht, hüben wie drüben, und sagen dieselben Dinge wie vor der Schlacht, rechts wie links.

Dann wurden von Netanyahu Neuwahlen ausgerufen, praktisch nahtlos ging es vom Krieg in den Wahlkampf wo sowieso nur noch Personalisierung und Polemik zählen.

Die Lektionen des Sommers sind allesamt deprimierend.

Der unbedingte Glaube an die Überlegenheit und an die Unterdrückung der Anderen als einzige taugliche Strategie sitzt fester denn je. Das Handwerk wurde über Jahrzehnte perfektioniert und hat sich einmal mehr bewährt.

Die Machtdemonstration der israelischen Rechten ist unheimlich. Die ‚Opposition’ hat nichts anzubieten.

Die Fantasie der Leute ist erschöpft. Keiner glaubt daran, dass echter Frieden hergestellt werden könnte, alle geben sich mit dem Status Quo zufrieden. Eine Perspektive ist das nicht. Aber alltagstauglich ist es allemal, denn der Horizont im Alltag ist der nächste Samstag Abend und bis dahin sieht’s gut aus.

Die Toten werden hingenommen. Im eigenen Land wie auch rundherum. „In anderen Konflikten gibt’s ja noch viel mehr Tote.“ Friedensdenker Amos Oz zeigt mit dem Finger auf Europa und auf die zwei Weltkriege „soviel Schaden werden wir garantiert nicht anrichten“ verspricht er in einer Rede.

Israel wird nichts an seiner Strategie ändern.

Es gibt keinen Grund dazu. Die Welt schaut zu. Die USA schicken Geld für Waffen und liefern Rückendeckung in der UNO.

Die kranken Islamisten rundherum verleihen der Strategie zusätzliche Legitimation. Verstanden wird nur Gewalt. Freiheit zählt nichts – und führt nur zu neuer Gewalt.

Irgendwann, in einigen Jahren wird Israel Reservate ausrufen und diese Gebiete den Palästinensern als ‚Palästina’ zur ‚Selbstbestimmung’ überlassen.

Eine Umkehr oder Abkehr von diesem Weg scheint unmöglich.

Die letzten Wochen waren zum Kotzen. Seit ein paar Tagen ist’s nun ruhiger in Tel Aviv und der Alpdruck von dem Krieg löst sich langsam. Diese vier Wochen Krieg haben aber sehr grundsätzliche Fragen aufgeworfen (nicht nur für mich). Es hat sich gezeigt, was es heissen kann, hier die Zukunft zu ‘planen’. Dass man trotz der Bubble und der Eisenkuppel die brenzlige politische Situation nicht für immer ausblenden kann, so angenehm das auch wäre. Das schlimmste war aber, die ultra-nationalistische Seite vieler Israelis zu spüren (komplett unfähig zu Kritik an ihrer Armee und an ihrer Staatsgewalt). Und bei allen friedliebenden tollen Menschen hier: Nach meinem Geschmack finden es zu viele Israelis ok, Araber zu töten.

Jetzt wachen wir mal schnell auf aus diesem bösen Traum – den Luxus haben wir ja hier in Tel Aviv – und hoffen, dass man sich auf beiden Seiten nicht wieder mit einem ‘Waffenstillstand’ zufriedengibt. Dass die Regierung und die Palis und die Welt und alle an echtem Zusammenleben arbeiten.

Am Samstag ist eine PeaceNow Demo, die genau danach verlangt. Nach einem echten Friedensprozess. Wir haben noch nicht entschieden, ob wir hinfahren.

“Bis vor drei Wochen fühlte ich mich hier wie im Paradies,” sagte mir eine junge Türkin. Sie erhält in ein paar Wochen die israelische Staatsbürgerschaft. – Sie sei sich aber ihrer Sache jetzt nicht mehr so sicher.

Hatte sie vor dem Krieg nichts von den Palästinensern in Gaza und der Westbank gewusst? Haben die Israelis nicht immer mehr oder weniger offen gesagt, die einzige Lösung sei, Gaza ins Meer zu kippen (natürlich meinten sie das nicht wirklich, sondern sagten das nur, um ihre Hoffnungslosigkeit zu illustrieren)? Hatte die Neu-Israelin geglaubt, absolute militärische Überlegenheit garantiere ausreichend und nachhaltig Sicherheit und Wohlbefinden? War sie überzeugt dass ‘Deckel draufhalten’ auf Dauer gut geht?

Die Raketenalarme sind erst schockierend, dann mühsam, und jetzt nur noch ein kleiner dummer Running Gag in dieser grossen deprimierenden Kriegsrealität um uns herum. Man ist ja nicht unmittelbar gefährdet hier in Tel Aviv. Die Raketen werden abgefangen von der ‘Eisernen Kippa’, wie der Iron Dome auf Hebräisch heisst. (Und bis jetzt wurden hier in Tel Aviv auch alle anderen Versionen von Tod und Untergang made by Hamas abgewendet.) Aber ist es nicht nur eine Frage der Zeit bis es hier in einer Bar oder in einem Bus knallt..? 

Die täglich, stündlich steigende Zahl Toter und Verletzter in Gaza drücken einem auf die Brust wie ein Albtraum. 

Und das schmerzhafteste (und vielleicht der wahre Schock für die Türkin) ist dass die ganze Leichtigkeit verpufft ist. Israel zeigt ein hässliches Gesicht. Die gefeierte Fassade der Start-up-Nation – Israel als phänomenales High-Tech Center mit dem sexy Schwulenparadies Tel Aviv als Herz und Schrittmacher – diese Kulisse ist erstmal im Theaterhimmel verschwunden.

Israel hat viele zum Teil widersprüchliche Gesichter. Widersprüche stören hier nicht. Das macht Israel oft reizvoll, facettenreich – aber es kann auch Angst machen. Was ist denn das echte Israel? 

Ist die so vielgelobte und herumproletete Toleranz der israelischen Gesellschaft gegenüber Schwulen, Transsexuellen etc. nur eine willkommene, regenbogenfarbene Maske vor der hässlichen, rassistischen Fratze eines gnadenlosen Kriegers?

Dieser Tage ist schwer zu glauben, dass Israel wirklich beides ist.

Wo sind all die Menschenfreunde hin..?

“Ich war ja immer links und gegen Krieg, aber …”

So beginnen viele Konversationen mit Israelis dieser Tage. Alle Israelis sagen, dass ihnen die toten palästinensischen Kinder, Frauen und Männer leid tun.

“… aber dieser Krieg muss sein, es ist ein gerechter Krieg.”

“… aber diesmal müssen wir Hamas erledigen.”

“… aber in Syrien töten sie viel mehr Menschen und da sagt keiner was.”

“… aber es gibt keinen anderen Weg.”

Das sagen die Linken.

Nur wenige gehen zu Demos, werden von rechten Hooligans eingeschüchtert – auch physisch bedroht. Bis sie aus Angst und Hoffnungslosigkeit damit aufhören.

Ich höre von Freunden, dass viele junge Israelis scharf drauf sind nach Gaza zu fahren und dort endlich mal auszuteilen, Terroristen zu jagen, abzuknallen, Bomben zu werfen etc. Um die Sache ‘ein für allemal zu erledigen’.

Natürlich haben die Israelis den Terror der Hamas satt. Natürlich ist Israel heute in einer Situation, wo Gewalt als einziges Mittel zur Verteidigung taugt. Doch warum muss das so bleiben? Israelis zeigen auf die Palästinenser. Mit jedem Tag Krieg nimmt der Hass auf beiden Seiten zu.   

Uns Europäern wird von den Israelis immer vorgeworfen wir seien naiv, weil wir an Dialog und Frieden glauben. Es sei alles viel komplizierter!

Kompliziert?

Wenn man heute hinhört ist’s ganz einfach: Man muss die Hamas auslöschen.

Eine Freundin (sie ist beruflich hier) verzweifelt: “Ich glaubte immer, die Israelis seien zwar nach aussen oft unfreundlich bis unerträglich, doch ich war bereit, an einen guten Kern zu glauben. – Mit all dem Hass, der jetzt zum Vorschein kommt, habe ich den Glauben verloren. Ich will nur noch weg.”

Ein anderer Freund, seit 6 Jahren hier und auch mit einer Israelin verheiratet: “Ich halte es nicht mehr aus im Büro. Sogar mit meiner Frau streite ich mich, sie liest nur israelische Presse. Die Israelis können nicht akzeptieren, dass ihre Armee und ihre Führung fehlbar ist.”

Wir gestern zuhause, Gabi deprimiert: “Was all diese Ausländer sagen, das gibt mir zu denken. So habe ich Israel noch nie gesehen. Ich zweifle.” Ihre Welt der klaren Fronten hat Schaden genommen.

Es wird spürbar, wie dieser Konflikt das Land auffrisst.

Der Krieg überzieht das ganze Leben mit einer matten Lähmung, einem Dämpfschaum, er vergiftet jede Minute und jede Freude. Wir wachen morgens auf und schauen erstmal bange nach, wie viele Tote es in der Nacht in Gaza gab. Tagsüber zucken wir zusammen wenn draussen jemand die Autotür zuknallt …

Die grosse unausgesprochene Angst ist, dass hier ein Bus oder ein Cafe in die Luft fliegt. Gestern war ein Tag ohne Raketenalarm, aber Abends beim Bier hörten wir plötzlich Explosionen aus der Ferne, als eine Rakete über einem Vorort Tel Avivs abgeschossen wurde.

Die Touristen bleiben aus. Die Stadt ist spürbar leerer und weniger fröhlich. Im Gym flimmert auf den Fernsehern rundum an der Wand die Live-Kriegsberichterstattung (und nicht mehr Fashion TV wie sonst). Die Feier zum 1. August beim Botschafter wurde abgesagt. Die Kollegen im Büro müssen einrücken, ich bin bald der einzige unter 40 auf Arbeit. Über 80’000 Reservisten wurden angeblich aufgeboten. Wer eingezogen wird, beruhigt: Die Reservisten (WK-Soldaten in der Schweiz) würden nur im Norden Israels ungefährdete Posten hüten, so dass die jungen ‘aktiven’ Soldaten, die 19, 20-jährigen in den Krieg ziehen können. Man schicke nicht die Familienväter, sondern die jungen, heissblütigen, pubertären Kämpfer nach Gaza.

Wir tun was gegen den Krieg

Und dann gibt’s noch die Momente des schlechten Gewissens: Wir tun nichts. Wir könnten ja immerhin demonstrieren gehen, entweder mit den Judenhassern (Friedensdemo) oder mit den Arabermördern (für den gerechten und nötigen Krieg).

Im Fernsehen zeigen sie auch wie tausende Israelis mit Wagenladungen Schokolade, Rasierklingen, Zigaretten zu den Soldaten im Süden fahren. Oder Israelis, die ihre Gitarre einpacken, um den vor den Toren Gazas wartenden Soldaten ein Ständchen zu bringen.

Was wir gegen den Krieg tun: wir gehen aus, gut essen in der hochklassigen soliden Brasserie am Rabin Platz (leicht besorgt, weil dort auf dem Rabin Platz jeden Abend demonstriert und gegendemonstriert wird). Wir schlürfen Austern während draussen die Leute von der Friedensbewegung Reden halten und Plakate ausrollen.

Wir fahren am Wochenende zum Strand im Norden (leicht besorgt, weil der Strand gleich neben einem arabischen Dorf liegt).

Doch der abgelegene Strand ist ungewöhnlich voll, weil für diesen Tag eine 12-Stündige Feuerpause ausgerufen wurde. Ich bin erleichtert und erfreut. Wie deprimierend wäre das denn, alleine am Strand zu liegen …

Nach Hause in die Türkei könne sie auch nicht zurück, sagte die Türkin. Der Antisemitismus dort sei offen und unerträglich. 

Immerhin können wir jederzeit in die Schweiz abhauen.

Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.

Hoffen wir, dass diesmal nach einer echten Lösung gesucht wird.

Natürlich wird dies nicht der letzte Konflikt gewesen sein. Doch der fiese Teufelskreis hin zu immer mehr Hass, Entfremdung und Bitterkeit auf beiden Seiten muss gebrochen werden. Sonst verkommt die ganze positive Energie Tel Avivs wirklich zur Kulisse. Und Kulissen halten nicht für lange.

Bei uns zuhause geht das Internet nicht mehr. In der Service-Hotline warten 78 Anrufer vor uns. “Wegen der Situation bitten wir um Verständis für lange Wartezeiten”. “Die Situation” (hebr: “HaMatzav”) ist natürlich kein Unwetter oder Stromausfall, sondern dass zehntausende Israelis in die Armee eingezogen wurden, um der Hamas den Garaus zu machen. Dass ausgerechnet jetzt unser Internet aussteigt, wo viele Service-Mitarbeiter im Krieg stecken, ist einfach nur Pech.

Gestern verbrachten wir den Nachmittag bei zwei Flaschen Weissem mit Freunden in einem kleinen Bistro am Meer. Einmal ging die Sirene los, wir fanden mit den anderen Restaurantbesuchern und Angestellten Schutz im Hauptquartier der Hafenpolizei. Es donnerte zwei, drei Mal – dann ging’s zurück zum Tisch und zur zweiten Flasche.

Hoch am blauen Himmel über uns schwebte ein kleines weisses Wölkchen aufs Meer hinaus, das Rauchzeichen einer der abgefangenen Raketen.

Weisses Wölkchen

Weisses Wölkchen. Rauchzeichen aus Gaza.

Man gewöhnt sich an alles?

Die ‘anti-israelische’ linke Tageszeitung Haaretz hatte sogar einen Waffen-Experten gefunden, der den Raketenschutzschild, die Eisenkuppel (hebräisch: Eisen-Kippa), als Propagandavehikel abtut. Derart irreal scheinen die Raketen aus Gaza, nach Dutzenden folgenlosen Alarmen und Explosionen, dass man denken könnte, es kommt gar nix aus Gaza hier an. Die Eisenkuppel beschert uns nur immer mal wieder einen zünftigen Bumms im blauen Himmel, damit wir ja nicht einen Krieg in Frage stellen. Verschwörungstheorien und Gerüchte haben Hochkultur.

Heute wurde ein Dutzend toter Israelische Soldaten gemeldet. Das ist neu.

Und wie seit Tagen immer mehr tote Palästinenser. Hunderte.

Wie alle haben wir Freunde, die für die ‘Operation’ eingezogen wurden. Wie kommen die zurück? Wann?

Die israelischen TV-Stationen zeigen praktisch rund um die Uhr News – auch wenn es kaum etwas zu zeigen und zu melden gibt.

In den Abendnachrichten zeigen sie anti-israelische Demos in Paris, London, Sri Lanka, der ganzen Welt. Es scheint unwirklich, dass sich die ganze Welt für uns hier und für die Palästinenser interessieren soll.

Davor zeigen sie in den Nachrichten die Demos in Tel Aviv und Haifa, wo die nationalistische Rechte die Friedensdemos angreift, Israelis brüllen “Tod den Arabern” in die TV-Kameras, die Linke diagnostiziert einen Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft.

Jemand schreibt, es sei eine Stimmung wie vor der Ermordung Rabins.

Der Ruf nach ‘Vernichtung’ Gazas scheint salonfähig. Natürlich meint das niemand ‘wirklich’. Es soll einfach die Hoffnungslosigkeit der Situation ausdrücken.

Nur die ‘anti-israelische’ linke Haaretz-Zeitung zeigt immer mal wieder auch auf die israelische Regierung als Mit-schuldige an der Katastrophe. Alle anderen zeigen nach Süden auf die Hamas. “Wir tun alles, um zivile Opfer zu vermeiden …” Das stimmt wohl schon. Nur, dass es zum Krieg kommt ist das Versagen der Regierung hier und der ganzen Welt.

Tel Aviv verliert seine Leichtigkeit.

Nicht nur für mich, scheint mir. Es gibt freie Parkplätze in unserer Gegend. Freie Tische am Mittag im Restaurant am Baselplatz. Die Gesichter der Leute auf der Strasse scheinen mir ernster. Der Verkehr weniger dicht. Die vorbeifahrenden Busse besonders leer. Die Diskussionen sind weniger laut.

Ach, und wegen unserem Internet: “Biglal HaMatzav” (“wegen der Situation”) kann kostenlos und unlimitiert im mobilen Internet gesurft werden. Auch alle PayTV-Kanäle wurden offenbar freigeschaltet für alle. Sogar die Banken seien nachsichtig mit säumigen Schuldnern.

Man muss ja irgendwie weitermachen, trotz “der Situation”.

Natürlich, in diesen Zeiten, wenn geschossen wird, wird man ausgelacht, wenn man nach einer echten Lösung für den Konflikt fragt. Im Hotel Intercontinental unten am Strand fand gestern absurderweise die Haaretz Peace Conference statt.

Die erste Sirene am Abend erwischte die Gesellschaft aus NGOs, Medien und Politikern kalt. Als wollten die Hardliner in der Regierung den Diskutierenden und Fragenden sagen: Haltet die Klappe, jetzt sind wir dran.

Bitter finde ich, wie wenig die Regierung zu hören kriegt, dass sie Schuld trägt, weil sie noch immer keinen Frieden möglich gemacht hat. Diese Verantwortung zum Frieden trägt hier keiner. Nur die Verantwortung, das nächste Feuer zu löschen.

Im Feuerlöschen sind sie gut – keine Frage.

Jetzt gehts wieder rund, am frühen Abend hatten wir Raketenalarm. Gabi stand unter der Dusche, schamponiert, also blieben wir im Badezimmer ein paar Minuten stehen bis der Alarm durch war. Ist ja schön geschützt dort.

Ich hatte die Sirenen lauter in Erinnerung.

Hoffentlich kommt es nicht zu einer massiveren Eskalation als bei der letzten ‘Operation’ vor 18 Monaten im November.

Die Hamas sagt, sie wird uns überraschen.

Ich hoffe nicht.

Seit Ende der ‘Friedensverhandlungen’ vor zweidrei Monaten juckte der Finger am Abzug. Je länger je unerträglicher. Jetzt kann er endlich durchziehen. Aufatmen. Es herrschen wieder klare Verhältnisse.

Für viele Israelis ist klar: Dort sind die Tiere, die Teenager entführen und tot verscharren und Raketen auf Unschuldige schiessen. Hier die unbesiegten Helden und Beschützer Israels die nur ihre Arbeit machen – uns beschützen.

Alle sagen immer, die Situation hier ist komplexer, als der verwöhnte verweichlichte friedensverwöhnte Europäer denkt.

Ein Einwand mit einer gewissen Berechtigung.

Aber wirklich kompliziert wird es ja nur, wenn man über Frieden nachdenken muss.

Die Raketen, die toten Teenager, die gewalttätige Eskalation sorgt für eine grosse pervers erleichterte Klarheit und Einfachheit der Verhältnisse: Blinde Wut, Angst und Hass. Die Entführung der Teenager hat hüben wie drüben hässliche Hassgefühle entfesselt, mit einer Art perversen Erleichterung fast wurde all dieses Übel freigesetzt.

“Sie schiessen auf uns, diese Tiere entführen und töten hinterrücks Teenager. Jetzt schlagen wir zurück. Die ungeschlagene israelische Armee schützt und rettet uns.”

Wer will nicht beschützt werden im Angesicht von Raketen schiessenden Nachbarn.

Das Badezimmer sei kein sicherer Ort, sagen sie jetzt im TV. Drei Stunden lang wird live aus allen Landesteilen berichtet, Raketenalarm hier und dort, aber bis jetzt keine Treffer – und sie melden absichtlich Unwahrheiten im TV um die Hamas zu verwirren, man will ja keine Zielhilfe leisten.

Und ein gutes Dutzend tote Palästinenser in Gaza.

Ich versteh kaum ein Wort von dem was sie sagen am TV, aber gerade eben gabs die erste Werbeunterbrechung.

Wohl ein gutes Zeichen. Ausgeschossen. Ruhe.

Dann brüllendes Geschrei draussen auf der Strasse, in der Nachbarschafts-Bar – 1:0. Deutschland schiesst sich warm.

Schauen die in Gaza auch Fussball-Weltmeisterschaft?

Mittsommer hat hier kaum eine Bedeutung. Die Tage im Sommer sind nur unwesentlich länger. Es ist immer Sommer. Gerade sitze ich im Zug von Haifa (Büro, Nord-Israel) nach Tel Aviv (Zuhause). Es geht den sandigen Dünen am Mittelmeer entlang und die tief stehende Abendsonne vergoldet alles.

Heute Nachmittag, im Büro, hat’s draussen aus heiterhellem Himmel laut gerummst, die dünnen Fenster zitterten. Der Tischnachbar sagte: Das sind Lawinensprengungen. Ich lachte. Niemand weiss, was es war.

An der Grenze zu Syrien starb am Mittag ein Israeli, hatte ich in einer Schlagzeile gelesen.

Syrien ist vom Büro geschätzte 50 Kilometer Luftlinie weg.

Mittag hatte ich zum ersten Mal alleine mit Hanan gegessen, einem netten jungen Familienvater. Er hatte das Bedürfnis, über Politik zu sprechen. Über die Entführten drei Jugendlichen, und wie die israelische Politik/das israelische Militär das missbraucht, um die Hamas zu bestrafen und zu quälen.

Dann verwandelte sich sein Gesicht von einer Sekunde zur nächsten in das eines alten Mannes: “Ich war in Gaza, im Militär, als wir noch Gaza besetzten. Ich sah die Männer, die einfach nur zur Arbeit wollen. Die Kids, die Steine nach uns warfen – für die ist es ein Spiel.” Grau, traurig, selbst seine Zähne wurden aschig, er hatte Mühe zu atmen.

Wir waren fertig mit dem Lunch. Wir standen auf. Ich weiss nicht mehr was er sagte, ich glaube etwas über Musik oder Fernsehen oder Kino…

Nach einem Jahr Pause habe ich mich wieder für Hebräisch-Unterricht eingeschrieben. Ich wiederhole die 2. Klasse, Kurs “Bet”. Neulich in Ulpan ging es darum, welche Bücher wir kennen und lieben. Jemand erwähnte Saint Exupéry’s Der kleine Prinz, hebräisch Ha Nasich Ha Katan.

Der Kleine Prinz! Die Lehrerin war happy. Israelis kriegen glänzige Augen, wenn sie an den Kleinen Prinz denken.

Doch dann fragten andere in der Klasse: “Wer ist der kleine Prinz?” Der Uruguayer, der Kanadier, die Kasachin … die Hälfte unserer kleinen Klasse kannte den Kleinen Prinz nicht! Die Lehrerin schien ehrlich geschockt.

Sie wollte nicht glauben, dass jemand den Kleinen Prinz nicht kennt!

Es ist das meist-verkaufte und meist-übersetzte französische Buch (Wikipedia). Ich kenne den Titel von früher, aus dem Französischunterricht … Man sollte meinen, jeder kennt den Prinzen.

Mir schien immer schon, dass die Israelis eine innigere Beziehung zum kleinen Prinzen haben, dass ihnen die Begegnung des Bruchpiloten Saint Exupéry mit dem kleinen blonden Ausserirdischen in der Wüste besonders nahe geht.

Ins aufgeregte Gemurmel der Lehrerin hinein sagte ich in der Klasse: „Israel ist Seinfeld und Petit Prince,“ und erntete einige Lacher damit.

Ich meinte es ernst. Seit ich hier bin begegnen mir immer mal wieder Zitate und Anspielungen auf das Buch oder die TV-Serie. Die beiden Titel gehören hier zur Leitkultur.

Bei der TV-Serie Seinfeld ist alles klar: Jüdischer Humor. Natürlich stehen die Israelis drauf. Aber Saint Exupéry war ja nicht mal jüdisch! Woher kommt diese Liebe zum kleinen Prinzen?

„Ihr Israelis habt so ein Glänzen in den Augen wenn man den Petit Prince erwähnt …“ sagte ich später zu Gabi.

Sie antwortete: „Ein Glänzen in den Augen?” als hätte ich sie an etwas erinnert.

“Es gibt da noch ein Lied,“ sagte sie dann. “In dem Lied stirbt der kleine Prinz, und es geht darum, dass er all das, was der Kleine Prinz erlebt, nicht erleben wird.” Natürlich stirbt der kleine Prinz in Israel nicht an Keuchhusten …

Jonathan Gefen, einer der Überväter der israelischen Popmusik schrieb den Song “Ha Nasich HaKatan” in den 70er-Jahren. Der erste Vers beginnt wie das Buch mit einem kleinen blonden Jungen mitten in der Wüste.

Wie im Buch zeichnet auch der Erzähler im Lied ein Schaf und ein Bäumchen für den Jungen.

Aber im zweiten Vers dreht der Wind: “Der kleine Prinz von Einheit B / Er wird nicht mehr sehen, wie das Schaf die Blume isst / Seine Lilien sind alle dornig / Sein kleines Herz ist kalt wie Eis.”

Und weiter: “Wenn du mal hierherkommen solltest / Wisse, dass er hier mit seinem Fallschirm gelandet ist / Und wie er fiel, das hörte keiner / Denn der Sand ist weich.”

Wenn man dem kleinen blonden Prinz begegne, solle man “unseren Müttern einen Brief schreiben”, und ihre Trauer lindern mit der Nachricht, dass der kleine Prinz von Einheit B zurückgekehrt ist.

Das Lied ist eine fixe Grösse im Liederkanon der jährlichen Gedenkfeiern am Memorial Day, dem Feiertag im Frühling, wo ganz Israel zuhause vor dem Fernseher oder in einer der grossen Trauerfeiern den Toten gedenkt, den Kriegs-Opfern, den Helden, den toten Söhnen und Töchtern …

Der Kleine Prinz in Israel ist also kein Ausserirdischer, sondern ein Fallschirmjäger von Einheit B, gefallen in der Wüste?

Ist die ganze Liebe der Israelis zu Exupérys Geschichte also eine Fata Morgana?

Woran denken sie, wenn sie an den kleinen Prinzen denken?

Ich fand es immer süss, dass die Israelis den Kleinen Prinz ins Herz geschlossen haben. Als wäre er einer der ihren!

Was für eine schreckliche Idee, den Held aus einem Kinderbuch als jungen Soldaten sterben zu lassen. Das ist, als würde man Nils Holgerson’s Gänse von der Luftabwehr abschiessen lassen.

Zu gerne wüsste ich jetzt, wer hier in Israel beim kleinen Prinz an den Ausserirdischen denkt – und wer an den gefallenen blonden Sohn Israels und an seine weinende Mutter … Es ist ein Kriegervolk hier. Nicht mal den Kleinen Prinz verschonen sie.

 

THE LITTLE PRINCE

I met him in the heart of the desert
How pretty the sunset is to a sad heart
I painted him a tree and a ewe on paper
And he promised me he would return

The Little Prince from unit “B”
He no longer will see the ewe that eats the flower
And all of his lillies are thorns now
And his little heart is as cold as ice

And if sometime you arrive here
Know that here he parachuted
And the sound of his fall was never heard
Because of the soft sand

And if a boy should appear there
With laughter in his face and golden hair
Know that is him, and offer him a hand
And wipe the desert sand from his eyes
And then do me one small favor

Write quickly, please, to all of our mothers
To relieve them a little and alleviate their sadness
“The Little Prince has returned to us!”
The Little Prince of unit “B”

He no longer will see the ewe that eats the flower
And all of his lillies are thorns now
And his little heart is as cold as ice.
I met him in the heart of the desert.

Das 11 Minuten-Porträt des palästinensischen SodaStream-Fabrikarbeiters wurde in Haaretz Online präsentiert mit dem Kommentar “Wer nützt hier wen aus”. Der junge palästinensische Vater im YouTube-Video fährt jeden Morgen zu seiner Arbeit im jüdischen Settlement Ma’ale Adumim in der besetzten Westbank, am Abend wird er mit dem Firmenbus wieder nach Hause gebracht.

Der palästinensische Fabrikarbeiter sagt: “Ich bin dagegen, in Settlements zu arbeiten, weil ich gegen Settlements bin. Aber ich arbeite im Settlement.”

Weil er sonst keine Arbeit finde, sagt er.

Der Film gibt sich betont unpolitisch, er zeigt die Zerrissenheit des Familienvaters, dessen einzige Möglichkeit, Frau und Kind zu ernähren darin liegt, beim Feind anzuschaffen.

Der Mann spielt liebevoll mit seinem kleinen Sohn.

Der Film suggeriert dann, dass der Mann aus Angst um seine Arbeitsstelle seine wahre Meinung nicht sagen will. Der Interviewer sagt: “Wir sind nicht von SodaStream.” Der Mann fragt: “Wird dieser Film den Leuten von SodaStream gezeigt? Die haben mich für diesen Film ausgesucht, weil sie wissen, dass ich ihnen keine Probleme mache.”

In der nächsten Szene sitzt er mit einem Notizbuch voller Gedichte am Küchentisch. Er dichtet, dass der Tag kommt: “The monster in me awakens, ready to torture and slaughter.”

Sind alle Palästinenser schlafende Monster?

Ich weiss nicht, ob der Film darauf angelegt war, diese Essenz israelischen Denkens zu zeigen. Alle wissen hier: Das Monster wächst, dort, hinter der Mauer, hinter den Checkpoints (die im Film nicht gezeigt werden), am anderen Ende der Strasse.

Heute trauert Israel um seine gefallenen Soldaten. Als ich das erste Mal dabei war, wie Tausende zur Feier auf dem grossen Rabin-Platz strömten, fehlte mir die Volksfeststimmung, es gibt keinen Grill-Stand von Bell am Strassenrand, keine T-Shirts und Ballone und keine Feldschlösschen Bierzelte. Gabi meinte: „It’s not a celebration!“ Es gilt ernste, fast heilige Trauerpflicht für’s ganze Land. Alles ist geschlossen heute Abend, Läden, Kioske, Bars, Restaurants.

Zur Bekräftigung und Bestätigung dass die gefallenen Soldaten nicht umsonst ihr Leben liessen haute Netanyahu die Schlagzeile raus: „Israel ist die Heimat eines Volkes – der Juden.“ Purer Rassismus.

Ich whatsappte die Schlagzeile an Freunde. „Jude sein ist eine Frage der Einstellung,“ schrieb eine zurück. „Aber ich mag die Schweizer,“ schrieb eine andere.

Die linke Politik schrie auf, man werde keine Einschränkung demokratischer Grundwerte zulassen, Israel sei ganz zuerst eine Demokratie mit gleichen Bürgerrechten für alle und erst dann die Heimat der Juden etc etc.

Und ich sitze in unserem Garten und gegen acht wird es still auf der Strasse, die lauten Dieselbusse fahren nicht mehr.

Leute spazieren die Strasse runter, in Richtung Rabin Platz.

Um 20 Uhr heult die alles betäubende Kriegs-Sirene los, ein langgezogener schriller ton, nicht das auf und ab der Raketenalarme. Alles steht still. Eine Minute lang heult ganz Israel, wer am Tisch sitzt, steht auf, wer im Auto unterwegs ist stoppt, steigt aus. Ich im Garten. Gizmo der Kater miaut.

20 Uhr 01 Autotüren fallen zu. Motoren heulen auf, die paar wenigen Autos und Busse auf der Dizengoff fahren weiter.

Von der Klagemauer mit Staatspräsident und Ehrengarde geht’s via Schaltung ins TV-Studio raus zur Live-Schaltung von der Feier in Rishon Le Zion, eine Stadt südlich von Tel Aviv.

Auch hier in Tel Aviv auf dem Rabin-Platz wird mit Kerzen, Streichern und sehr mittelmässigen Sängern vor Videowänden den Soldaten gedacht. Gespielt werden Lieder, die für Aussenstehende wie mich wie schlechter Heimatpop klingen, die aber für Israelis sentimentale Herzensangelegenheit sind, nicht zuletzt weil sie jedes Jahr an Memorial Day vorgetragen werden.

Auf den Videowänden und zuhause im Fernsehen werden zwischen den Songs und Reden die Porträts gefallener Soldaten und ihre Geschichte in 3:30′ Form vorgestellt: Mama erzählt eine Anekdote, Kinderfotos werden eingeblendet, Papa erzählt eine Geschichte, Fotos, mit Kameraden, mit der Freundin, dann weinen sie und die Streicher setzen ein fürs nächste Lied.

Schnitt ins Publikum zu weinenden schönen Menschen, die ich oder du sein könnten, die alle diese Lieder im Herzen tragen, und die weinen weil sie diesen Soldaten auf der Videowand gekannt haben, oder weil sie einen Bruder, Onkel oder Cousin haben der im Krieg gefallen ist, oder ganz einfach weil alles so traurig ist.

In den USA ist Memorial Day der Tag für BBQs und Shopping. Hier ist es das sehr lebendige Ritual einer Nation in ständiger Kampfbereitschaft. Nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

memorialday

Memorial Day Zeremonie auf dem Rabin Platz (2012)