Selbstverteidigungsjustiz – Wir haben wieder eine “Situation”
Heute Nachmittag im Park, wo wir vom Strand zurück nach Hause bummeln, passieren wir nicht nur die Fitness-Gruppen und Yogi-Zirkel, die auf der grünen Wiese Hintern straffen, wir sehen auch ein gutes Dutzend Leute im Kreis unter Anleitung Krav Maga üben, die legendäre israelische Selbstverteidigungstechnik.
Ich sage zu G: ‘Da üben sie Palästinenser töten.’
Sie: ‘Nein, bei Krav Maga geht’s nur um Selbstverteidigung.’
In der Zeitung stand geschrieben: es werden jetzt kostenlose Krav Maga Kurse angeboten. Wegen der “Situation”. Damit sich jeder gegen messerstechende Palästinenser wehren kann.
Eine neue Runde der Gewalt eskaliert, wir haben wieder eine “Situation”. Wie letzten Sommer die Raketen aus Gaza. Diesmal gibt es aber keinen Iron Dome, keinen Schutzschild, keine Sirenen, keine Warnungen, jeder ist auf sich allein gestellt: Palästinenser, meist junge Männer, Teenager, aber auch Frauen, gehen auf der Strasse mit Messern (oder auch einem Schraubenzieher) auf Israelis los und stechen so viele wie möglich ab, bevor sie selbst erschossen werden.
Palästinensische Teenager stürmen so in den (fast) sicheren Tod.
In den Heldentod, der Jungfrauen im Jenseits verspricht, und ewiges Leben als Märtyrer auf Facebook.
Die jungen Araber sind getrieben von ihrer Kultur Juden zu hassen, und Israel vernichten zu wollen. Das sagen die Rechten. – Sie tun es aus Frust und Verzweiflung über die israelische Besatzung, sagen die Linken.
Die israelische Gesellschaft reagiert komplett psychotisch auf diese neue Form des Terrors.
Unter anderem werden die Bedingungen für den Waffenerwerb gelockert.
Waffennarren aus ganz Israel polieren jetzt ihre Schiesseisen, nehmen sich ein paar Tage frei, und pilgern zu den Hotspots – beispielsweise in die Altstadt Jerusalems – in der Hoffnung einen Arber mit Messer abknallen zu können. Helden!
Das ist übertrieben.
Aber so fühlt es sich in etwa an.
Die Diskussion darüber, wer wann schiessen darf, wird geführt, im Fernsehen diskutieren Experten den Abend weg, Politiker profilieren sich zum Thema. Doch auf der Strasse, in der Praxis, scheint es keine Zweifel zu geben: Ein Palästinenser mit Messer gehört abgeknallt. Der will es ja so! Der weiss ja was ihm blüht! Soll er eben nicht mit Messer auf Israelis losgehen. Wie, der Polizist soll noch seine Gesundheit riskieren und sich bemühen ihn festzunehmen? Was denn noch!?!
(Was, nach Rechtsstaat verlangt ihr? Ihr Europäer werdet schon sehen wie das ist, wenn die hunderttausenden syrischen Flüchtlinge in ein paar Monaten mal kurz Luft geholt haben, um dann ihren Hass auf euch zu entladen. Dann unterhalten wir uns wieder. – So tönt’s von vielen Israelis.)
Neulich im Zug: Eine Gruppe Soldatinnen, Mädchen in Uniform, glauben plötzlich, der Araber im Abteil nebenan habe ein Messer. Sie rufen: „Da sitz ein Terrorist!“ Ein Offizier, ein Abteil weiter, springt auf, zögert nicht, zieht seine Pistole und schiesst in die Luft. Das Chaos ist perfekt. Notbremse. Grossaufgebot der Polizei. Der Zug wird evakuiert … falscher Alarm.
Noch so eine traurig groteske Meldung: In der letzten Woche sind zwei Mal Juden mit Messer auf Araber losgegangen. Um Rache zu nehmen. Der eine von ihnen hatte sich aber beim Aussuchen seines Opfers vertan. Er schrie wohl ‘Stirb, Araber!’ und stach zu – es stellte sich heraus, dass er nicht einen Ahmed sondern einen Moshe erwischt hatte, der wie ein Ahmed aussah.
Bekannte von uns betreiben ein Bed and Breakfast am Rande Jerusalems. Letzte Woche waren drei Araber aus einem arabischen Dorf im Norden Israels zu Gast. Die Araber, Zahnärzte die beruflich in Jerusalem zu tun hatten, fragten beim Einchecken: ‘Ist es sicher hier für uns?’ Alle haben Angst.
Das Szenario von letztem Jahr wiederholt sich auf der politischen Bühne: Die Rechten und mit ihnen die Siedler in der Westbank schreien Zetermordio – und lachen sich ins Fäustchen. Denn jetzt können sie sich endlich mal wieder richtig um die Palästinenser in der Westbank kümmern. Dörfer abriegeln, Durchsuchungen, Checkpoints aufbauen … Und man wusste es ja immer schon: seht nur, die Palästinenser sind wie Tiere, sie achten das Leben nicht! Wie soll man mit so jemandem verhandeln!
In wen soll man Hoffnung setzen? In die eine Gesellschaft, wo Teenager mit Messern ausziehen um als mordende Volkshelden zu sterben; oder in die andere Gesellschaft, die ihre Stärke und Überlegenheit rücksichtslos nur zum eigenen Vorteil nutzt … Das Bedrückende ist, dass die Menschlichkeit hüben wie drüben verloren geht. Wer den Anderen nicht mehr als Mensch sieht, macht sich selbst zum Unmenschen.